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Erdogan will Flugverbot

Rußland warnt den Westen vor Einrichtung einer Pufferzone im Norden Syriens nach dem Vorbild Libyens. 150000 Syrer fliehen vor IS-Terror in die Türkei

Von Karin Leukefeld *

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mit den USA und der NATO über die Einrichtung einer Pufferzone im Norden Syriens gesprochen. Das bestätigte Pentagonsprecher John Kirby der türkischen Zeitung Hürriyet Daily News. Die US-Administration habe mit der türkischen Regierung über eine Pufferzone diskutiert, sagte er. »Wir verstehen die Sicherheitsprobleme, und wir verstehen ihren Wunsch nach einer Art von Pufferzone. Aber ich werde nicht über Einzelheiten sprechen.«

Die Maßnahme, die nach Vorstellung Ankaras auch eine Flugverbotszone umfassen soll, erfordert nach Ansicht des russischen Botschafters in Ankara, Andrei Karlow, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates. Karlow warnte, daß der Westen nicht den gleichen Fehler wiederholen dürfe, den er in Libyen gemacht habe. Eine Pufferzone sei vielleicht »gut gemeint«, würde aber ohne eine Resolution des UN-Sicherheitsrates »mehr Schaden anrichten«. Rußland habe seit langem vor der Gefahr gewarnt, terroristische Organisationen zu unterstützen, um die syrische Regierung von Präsident Baschar Al-Assad zu schwächen, so Karlow.

Mit der Forderung nach einer Puffer- und Flugverbotszone unterstützt Ankara die Wünsche der oppositionellen syrischen Nationalen Koalition (Etilaf), die ihren Sitz in der Türkei hat. Die vom Westen anerkannte Opposition fordert – wie ihre Vorgängerorganisationen –- seit 2011 eine Flugverbotszone im Norden und Süden Syriens. Sollte eine Pufferzone eingerichtet werden, würde sie auch von deutschen Patriot-Abwehrraketen kontrolliert, die in der Türkei stationiert sind.

Die von Ankara geforderte Puffer- und Flugverbotszone soll den Strom von Flüchtlingen stoppen. Offiziellen Angaben zufolge sollen in den letzten Tagen bis zu 150000 Menschen in die Türkei geflohen sein, um sich vor einer neuen Offensive des »Islamischen Staates« (IS) auf Kobani (arabisch: Ain Al-Arab) im syrisch-türkischen Grenzgebiet in Sicherheit zu bringen. Kobani ist eines von drei Gebieten im Norden Syriens, die von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) in eine Art Selbstverwaltung geführt wurde. Die Kurden nennen das Gebiet Rojava.

Politiker der Demokratischen Volkspartei (HDP) waren am Wochenende in Kobani von Flüchtlingen über das brutale Vorgehen der IS-Kämpfer informiert worden. Der Parlamentsabgeordnete Ibrahim Binici (HDP) sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von einer »Vernichtungsoperation«. Menschen würden enthauptet und deren Köpfe würden ausgestellt, das sei »eine Schande für die Menschheit«.

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat derweil junge Kurden aus der Türkei aufgefordert, sich dem Kampf gegen IS im Norden Syriens anzuschließen. PKK-Führer Dursun Kalkan beschuldigte die Türkei der »Kollaboration« mit IS. Ankara wolle sich territorial nach Syrien und in den Irak ausweiten und unterstütze IS mit Waffen und Munition, sagte er der Nachrichtenagentur Firat. Die Türkei weist das zurück. Am Sonntag gingen türkische Sicherheitskräfte im Grenzgebiet mit Tränengas und Wasserwerfern gegen junge Leute vor, die nach Syrien wollten, um sich dort dem Kampf gegen IS anzuschließen.

Nach Angaben der Kurdischen Selbstverteidigungskräfte (YPG), konnte die IS-Offensive am Montag östlich von Kobani zunächst gestoppt werden.

* Aus: junge Welt, Dienstag 23. September 2014


Die Heuchelei aus der Türkei

Giyasettin Sayan zum Islamischen Staat und der Situation an der Grenze zu Syrien **

Giyasettin Sayan (Jahrgang 1950), geboren in Hasköy, Türkei, ist kurdischer Herkunft und war von 1995 bis 2011 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin für die PDS bzw. die LINKE und dort unter anderem migrationspolitischer Sprecher). Derzeit ist er Vorsitzender der Kurdischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Über die alarmierende Situation an der syrisch-türkischen Grenze sprach mit ihm Roland Etzel.

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat gerade die Kurden in der Türkei zum bewaffneten Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) aufgerufen. Halten Sie das für den richtigen Weg?

Nicht die PKK, sondern die Demokratische Partei der Völker in der Türkei hat erklärt, die kurdischen, aber auch türkischen Menschen sollten gegen IS mobil machen und die Menschen in Rojava – die kurdische Region in Nordostsyrien – vor Angriffen von IS schützen.

Noch mal meine Frage, halten Sie das für den richtigen Weg?

Ja, ich denke die ganze Welt muss das tun. In der Gefahr eines Genozids kann man auf bewaffneten Kampf nicht verzichten, vor allem in einem Land, wo ein Völkermord geschehen ist. Wenn ein Volk in seiner Existenz bedroht wird, egal ob in Kurdistan, Südafrika oder sonst wo, muss man mobil machen.

Sollte man nicht statt eines isolierten Aufrufs besser nach Verbündeten suchen?

Das tun die Kurden, zum Beispiel der Vorsitzende Partei der kurdisch-syrischen Demokratischen Union, Saleh Muslim, auch die Kopräsidentin des Volksrates in Rojava, Mohamed Sinem, die am Freitag in Berlin war, hat gesagt: Wir sind umzingelt, also brauchen wir von überall Hilfe.

Am Wochenende haben wir gehört, dass die Türkei Zehntausende Flüchtlinge aufgenommen hat, aber auch, dass sie sie nur widerwillig ins Land gelassen habe. Was befürchtet denn Ankara von den Flüchtlingen – oder sehen Sie einen anderen Grund?

Zwei Gründe. Die Türkei versucht einerseits seit drei Jahren, die Islamisten zu unterstützen und türkische Waffen zu schicken. Letzteres wurde bewiesen und dokumentiert, auch von Amerikanern. Bei getöteten IS-Leuten fand man Produkte der Marke MKI, das ist eine Waffenfabrik in der Türkei. Ankara schickt Waffen. Bezahlt werden sie von Katar und Saudi-Arabien. Außerdem werden in der Türkei in Moscheen öffentlich Leute für den IS rekrutiert.

Auf der anderen Seite drängt die Türkei IS dazu, kurdisches Gebiet in Syrien von Kurden zu »befreien«. Das ist die große Heuchelei: wenn sie den Strom von Flüchtlingen beklagt, den sie zum Teil selbst verursacht hat. Man strebt nach einer »Pufferzone«, so dass weitere Flüchtlinge auf syrisch-kurdischem Gebiet, nicht auf türkischem Gebiet ankommen. Andererseits soll die internationale Gemeinschaft akzeptieren, dass dort eine Militärzone eingerichtet wird. Militärzone heißt nichts anderes als: Zusammenarbeit mit IS, um ein IS-Kalifat an der Grenze zu errichten. Das wäre eine Katastrophe für alle Kurden.

Kamen die Angriffe jetzt überraschend für die Betroffenen?

Nein, Kämpfe hat es immer wieder gegeben. Versuche von IS, das sogenannte Kobane-Gebiet zu erobern, hat es immer gegeben. Aber sie wurden immer zurückgeschlagen. Es hat wohl auch mit der Freilassung der 49 türkischen Geiseln zu tun, die IS bei der Eroberung von Mossul in Nordirak vor drei Monaten genommen hatte. Es existieren Vermutungen auf Seiten der Kurden, dass es da eine Abmachung mit IS gegeben hat: Ihr gebt uns unsere Geiseln und wir geben euch Waffen, damit ihr Kobane erobert. Das ist Teil der Strategie, dort eine Pufferzone zu errichten.

Kobane ist die größte Stadt im kurdisch-syrischen Gebiet?

Kobane ist ein Gebiet von etwa 1000 Quadratkilometern mit sonst etwa 180 000 Bewohnern, aber jetzt auch 200 000 Binnenflüchtlingen – Christen, Jesiden, Alewiten, die aus dem syrischen Teil geflohen sind und nicht in die Türkei wollten.

Sie veranstalteten am Freitag über die Organisation UNA-Kurd, der Sie auch vorstehen, eine Konferenz zum drohenden Genozid im Nahen Osten. Was sagten die Experten?

Alle haben von Völkermord gesprochen, weil IS das Ziel hat, die Region von allen Bewohnern, die keine oder ihrer Meinung nach keine richtigen Muslime sind, zu »säubern«. Dazu gehören die Kurden; dazu Alewiten, Jesiden, Christen, Armenier.

Kann Deutschland etwas für die bedrohten Menschen tun? Wenn ja, was sollte es sein?

Also Deutschland kann sich sehr nachdrücklich bei der UNO dafür einsetzen, dass Katar und die Türkei, zwei Verbündete Deutschlands, den IS nicht mehr unterstützen, dass sie ab sofort auf die Terrorliste gesetzt und ihre Rekrutierungsmaßnahmen in der Türkei verboten werden. Desgleichen der Transport und die Behandlung von verletzten IS-Kämpfern in der Türkei.

Und in Deutschland selbst?

In verschiedenen europäischen Ländern gibt es viele Moscheen – zum Beispiel auch hier in Berlin –, die Kämpfer für IS rekrutieren. Syrer, die hier geboren und aufgewachsen sind, werden einer Gehirnwäsche unterzogen, um sie dann nach Syrien, Irak oder auch Afghanistan zu schicken. Das passiert in Moscheen, und das muss unterbunden werden. Ich kenne hier in Wedding einige, die das gemacht haben.

Wie soll der Staat das verhindern?

Der Staat muss feststellen, welche Moscheen in solche Aktivitäten verwickelt sind. Und das muss dann gesetzliche Konsequenzen haben.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, hat vorige Woche erklärt, dass sein Verband in dieser Hinsicht alles ihm Mögliche tue.

Das ist nicht wahr. Ich weiß, an welchem Freitag in welcher Moschee für den Islamischen Staat geworben wird. Dort angelt man sich junge Menschen, die arbeitslos oder auf andere Art unzufrieden sind. Und das dürfen wir nicht zulassen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 23. September 2014

Heike Hänsel (LINKE): Türkei behindert Hilfe

Beobachtungsdelegation an türkisch-syrische Grenze: Zehntausende auf der Flucht, Gefahr eines weiteren IS-Massakers in der Region Kobanê 21. September 2014

Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete der Fraktion DIE LINKE und Vorsitzende des Unterausschusses für die Vereinten Nationen, beteiligt sich an einer Beobachtungsdelegation an der türkisch-syrischen Grenze. Medienberichten zufolge flohen seit Freitag mehr als 45.000 Menschen aus dem Kanton Kobanê (Arab al Ain) über die Grenze in die Türkei. Örtliche Quellen berichten von der Gefahr weiterer hunderttausender Flüchtlinge und einem drohenden Massaker. Wenige Tage zuvor hat der Islamische Staat (IS) eine militärische Großoffensive auf das von überwiegend KurdInnen bewohnte Kobanê gestartet. Die Erdogan-Regierung sorgt dabei offenbar für den Nachschub des IS, während die türkische Grenze für jede Hilfe für die kurdische Enklave Ain-al-Arab/Kobanê geschlossen bleibt.

Die Bundestagsabgeordnete will sich vor Ort über die Situation und die Rolle der Türkei informieren und für eine Grenzöffnung einsetzen. Es gilt jetzt öffentlichen Druck zu machen, damit Erdogan nicht noch weiter ermutigt wird, den Terrormilizen des IS zur Seite zu stehen. Die Blockade der kurdischen Enklaven im Norden Syriens durch die Türkei muss sofort beendet werden, wenn eine humanitäre Katastrophe verhindert werden soll.



Schmutziges Spiel

Ankara und der »Islamische Staat«

Von Ulla Jelpke ***


Seit einer Woche läuft eine neue Großoffensive des »Islamischen Staates« gegen Kobani, den kleinsten der drei kurdischen Selbstverwaltungskantone im Rojava genannten Norden Syriens. Der direkt an die Türkei grenzende Kanton hält bereits seit mehr als zwei Jahren einer Belagerung durch vom Westen und den Golfmonarchien zum Kampf gegen die syrische Regierung hochgerüsteten dschihadistischen Banden stand. Die nur leicht bewaffneten Volksverteidigungseinheiten (YPG) leisten dem inzwischen über Panzer und schwere Artillerie verfügenden IS erbitterten Widerstand. Sollte Kobani fallen, droht ein Genozid an den ansässigen oder aus anderen Landesteilen dorthin geflohenen Kurden und anderen Bevölkerungsgruppen.

Jetzt präsentiert sich die türkische Regierung als Retterin für bislang mehr als 130000 über die Grenze gekommene Flüchtlinge aus Kobani. Doch gleichzeitig unterstützt Ankara weiter die IS-Terroristen, wie kurdische Medien und Politiker nachwiesen. So ist die türkische Grenze bei Kobani offen für die aus aller Welt zum Morden nach Syrien strömenden Dschihadisten. Verwundete IS-Kämpfer werden in türkischen Krankenhäusern behandelt. Züge und Militär-Lkw bringen Kisten mit Waffen und Munition für den IS an die Grenze.

Einerseits setzt das AKP-Triumvirat aus Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und Geheimdienstchef Hakan Fidan weiter auf den IS als Instrument zur Zerschlagung der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava. Und andererseits benutzt Ankara den von ihm selbst gewährten Dschihadistenterror nun als Vorwand, um ein direktes militärisches Eingreifen der Türkei in Syrien vorzubereiten.

In den vergangenen Jahren konnte die türkische Regierung für ihre Forderung nach Einrichtung einer Flugverbots- und Pufferzone in Nordsyrien noch keine Zustimmung ihrer NATO-Partner finden. Diese scheuten ein direktes militärisches Engagement in Syrien und setzten auf die Hochrüstung der Regierungsgegner dort, aus deren Reihen der IS entsprang. Unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklung könnte es einen Kurswechsel der NATO in dieser Frage geben.

Doch eine durch türkische Truppen errichtete »Schutzzone« würde keine Sicherheit für die Bevölkerung im Norden Syriens bedeuten. Sie würde vielmehr auf die Zerschlagung der Autonomiestrukturen in Rojava zielen. Eine Flugverbotszone richtete sich ohnehin allein gegen die syrische Luftwaffe. So solle der »gemäßigten Opposition« der Rücken im Kampf gegen den IS gestärkt werden, lautet die verquere Argumentation aus Ankara. Mit den in der Türkei stationierten »Patriot«-Einheiten der Bundeswehr, die bei der Schaffung einer Flugverbotszone für Feuerschutz zu sorgen hätten, ist Deutschland ein Teil dieses schmutzigen Spiels, in dem der IS als Werkzeug für die Drecksarbeit dient.

*** Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag

Aus: junge Welt, Dienstag 23. September 2014 (Gastkommentar)



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