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Kanton Sengal gebildet

Jesiden organisieren sich. Kämpfe zwischen kurdischen Einheiten und Regierungstruppen in Nordsyrien

Von Nick Brauns *

Die Verteidiger der syrischen Stadt Ain Al-Arab (Kobani) konnten in der Nacht zum Montag einen strategischen Erfolg im Kampf gegen die Milizen des »Islamischen Staates« (IS) verbuchen. Es gelang ihnen, die Anhöhe Mistenur am Rande der Stadt zurückzuerobern, von der aus der Ort immer wieder unter Beschuss genommen wurde. Der Kampf um Kobani dauert seit mittlerweile vier Monaten an. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG kontrollieren inzwischen wieder rund 80 Prozent des Stadtgebietes.

Auch im jesidischen Siedlungsgebiet Sengal im Nordirak gehen die Kämpfe kurdischer Guerillaeinheiten gegen den IS weiter. Am Wochenende ließen die Dschihadisten überraschend 200 seit Monaten verschleppte Jesiden frei. Offenbar hatten die Geiseln, bei denen es sich um alte und kranke Menschen gehandelt haben soll, die Bewegungsfreiheit der Entführer zu sehr behindert. Doch Hunderte weitere Jesiden – darunter viele Frauen –, bleiben in der Gefangenschaft des IS.

Unterdessen haben Jesiden am Fuße der Sengal-Berge eine Nationalversammlung abgehalten. 200 Delegierte vertraten die in der Region gebliebenen sowie die nach Nordsyrien (Rojava) und in das kurdische Autonomiegebiet im Irak geflohenen Jesiden. »Wir kamen zu der Erkenntnis, dass einer der Gründe für dieses Massaker der Mangel eigener Organisation war, was zur Verwundbarkeit der Jesiden geführt hatte«, heißt es in einer am Wochenende veröffentlichten Erklärung der jesidischen Versammlung zum IS-Angriff. So hatten sich die Jesiden auf den Schutz der Peschmerga des irakisch-kurdischen Präsidenten Massud Barsani verlassen. Doch diese hatten sich vor dem Angriff im August aus der Sengal-Region zurückgezogen und die Zivilbevölkerung schutzlos gelassen. PKK- und YPG-Kämpfer hatten damals über hunderttausend Jesiden durch einen Fluchtkorridor nach Syrien gerettet.

Obwohl die Peschmerga in den letzten Wochen gemeinsam mit PKK und YPG einen Belagerungsring des IS um die Sengal-Berge durchbrachen, haben viele Jesiden kein Vertrauen mehr in die kurdische Regierung. Statt einen Anschluss an das Autonomiegebiet anzustreben, beschloss die Konferenz, eine eigene Selbstverwaltung für Sengal nach dem Vorbild der Kantone in Nordsyrien zu bilden. Hierfür wurde ein 27köpfiger Rat mit einer provisorischen Regierung gewählt. Auch die Schaffung von Selbstverteidigungskräften wurde beschlossen. Diese Aufgabe sollen die mit Hilfe der PKK in den vergangenen Monaten von jungen Jesiden aufgebauten Sengal-Widerstandseinheiten (YBS) übernehmen.

Die von der Demokratischen Partei Kurdistans von Präsident Barsani dominierte Kurdische Regionalregierung (KRG), aber auch das geistliche Oberhaupt der Jesiden, Baba Scheich, und die jesidische Abgeordnete im irakischen Parlament, Viyan Dakhil, wiesen die Bildung eines »Kantons Sengal« als Einmischung der PKK in die inneren Angelegenheiten der KRG zurück, meldete das Nachrichtenportal Basnews. Die KRG beschuldigte die PKK, Sengal unter eigene Kontrolle bringen zu wollen.

In der Stadt Hasaka am Rande des kurdischen Selbstverwaltungskantons Cizire in Nordsyrien brachen am Wochenende schwere Gefechte zwischen syrischen Regierungstruppen und den YPG aus. Dabei wurden bis zum Sonntag acht kurdische Guerillakämpfer und Dutzende syrische Soldaten getötet. Ausgelöst wurden die Kämpfe nach Informationen der Nachrichtenagentur Firat, als Regierungssoldaten zwölf Zivilisten, darunter Mitarbeiter der Stadtverwaltung, festnahmen und einen Checkpoint der kurdischen Kräfte attackierten. Darauf umzingelten die YPG eine Kaserne der syrischen Armee und setzten rund 30 Soldaten fest. Regierungstruppen beschossen daraufhin laut YPG-Angaben kurdische Wohngebiete mit Mörsern und Streubomben.

Hasaka mit 200.000 Einwohnern ist neben Kamischli die einzige Stadt in Rojava, in der Strukturen der syrischen Regierung parallel zu den seit Sommer 2012 gebildeten Volksräten weiterbestehen. Zwar war es mehrfach zu Spannungen, doch bislang nicht zu Kämpfen dieser Größenordnung zwischen den beiden Partei gekommen. Warum die syrische Regierung jetzt den Waffenstillstand mit den Kurden gebrochen hat, ist unklar.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 20. Januar 2015


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