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IS beherrscht die Hälfte Syriens

Humanitäre Lage schwierig: weder Strom, Wasser oder medizinische Versorgung *

Die Regierungstruppen zogen sich nach tagelangen Kämpfen aus der umkämpften Stadt Palmyra zurück. Zehntausende Menschen befinden sich noch in der Stadt, daruner viele Flüchtlinge. Mittlerweile kontrolliert der IS auch fast alle Öl- und Gasfelder.

Damaskus. Nach der Einnahme der historischen Oasenstadt Palmyra in Zentralsyrien kontrolliert die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) nun rund die Hälfte der Fläche des Landes. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bestätigte am Donnerstag, dass die Extremisten am Vortag auch die archäologischen Stätten der Stadt eingenommen haben. Palmyra

Die Oasenstadt Palmyra (arabisch: Tadmur) in der zentralsyrischen Wüste war eines der herausragenden Zentren im Altertum. Die Unesco erklärte die Ruinen der ehemaligen Handelsmetropole der legendären Königin Zenobia 1980 zum Weltkulturerbe.

Nach tagelangen Kämpfen hätten sich die Regierungstruppen von allen Positionen in der Stadt und ihrer Umgebung zurückgezogen, erklärten die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte und andere Aktivisten am Donnerstag. Experten befürchten nun eine Zerstörung der in Palmyra befindlichen antiken Stätten, die zum Weltkulturerbe zählen.

»Die IS-Kämpfer sind in allen Teilen von Tadmur, auch nahe der archäologischen Stätte«, sagte der Chef der Beobachtungsstelle, Rami Abdel Rahman, unter Verwendung des arabischen Namens der Stadt. Die in London ansässige Beobachtungsstelle stützt sich auf ein breites Netzwerk von Aktivisten vor Ort, ihre Angaben sind aber von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen.

Darüber hinaus sei die humanitäre Lage in Palmyra schwierig, sagte Rahman. So sei die Stromversorgung unterbrochen. Aktivisten des Medienzentrums Palmyra berichteten, es gebe auch kein Wasser und keine medizinische Versorgung mehr. Ihnen zufolge halten sich noch mehrere Zehntausend Menschen in der Stadt auf, darunter viele Flüchtlinge aus anderen Gebieten. Die Angaben der Aktivisten zur Lage in der Stadt ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Nachdem der IS bereits in antiken Stätten wie Nimrud und Hatra im Irak schwere Zerstörungen angerichtet hat, sind nun die antiken Stätten von Palmyra bedroht. Der Leiter der syrischen Altertümerverwaltung, Mamun Abdelkarim, hatte von einer »sehr schlimmen Lage« gesprochen und gewarnt, die Dschihadisten würden alles zerstören. Zwar seien hunderte Objekte des örtlichen Museums bereits aus der Stadt geschafft worden, andere Exponate wie antike Gräber könnten hingegen nicht abtransportiert werden. Die Direktorin der UN-Kulturorganisation Unesco, Irina Bokova, warnte am Mittwoch vor einer Bedrohung »einer der bedeutendsten Stätten des Nahen Ostens«.

Der aus Palmyra stammende Aktivist Mohammed Hassan al-Homsi berichtete über den IS-Vormarsch, die Regierungstruppen hätten aufgegeben und sich ohne Widerstand von ihren Positionen zurückgezogen. Stützpunkte des Militärgeheimdienstes in der Wüste sowie der Militärflughafen und das Gefängnis der Stadt seien aufgegeben worden, hieß es von Seiten der Beobachtungsstelle. Die Dschihadisten seien in der Nacht in die Haftanstalt eingedrungen.

Die Einnahme des Gefängnisses von Palmyra ist von großer Symbolik, da die Haftanstalt vielen Syrern als Ort des Terrors gilt. Die syrische Regierung ließ dort hunderte Gefangene hinrichten, insbesondere während der Amtszeit des früheren Präsidenten Hafis al-Assad in den 80er Jahren, dem Vater des heutigen Staatschefs Baschar al-Assad. Nach Angaben der Beobachtungsstelle ließ die Regierung die Häftlinge in den vergangenen Tagen in andere Gefängnisse bringen. Bei den Insassen handele es sich vor allem um Deserteure.

Abdel Rahman zufolge zogen sich die meisten Soldaten nach Homs zurück, der Hauptstadt in der Provinz, zu der auch Palmyra gehört. Nach seinen Angaben flüchtete auch ein Teil der Bevölkerung Palmyras nach Homs, der Rest sei in der Stadt geblieben.

Auch der IS selbst verkündete die Einnahme Palmyras. Die Regierungstruppen seien abgezogen, es gebe »viele Tote in ihren Reihen«, teilten die Dschihadisten im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Der Beobachtungsstelle zufolge wurden seit Beginn der IS-Offensive auf Palmyra am 13. Mai mindestens 462 Menschen getötet. Unter ihnen seien 71 Zivilisten, von denen viele vom IS hingerichtet worden seien. Überdies seien 241 Regierungssoldaten sowie 150 Dschihadisten getötet worden.

Der IS kontrolliere nach der Eroberung Palmyras nun mit 95.000 Quadratkilometern die Hälfte Syriens, teilte die Beobachtungsstelle weiter mit. Auch seien fast alle Öl- und Gasfelder in der Hand der Extremisten.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 21. Mai 2015


HINTERGRUND: Zerstörte religiöse Kulturdenkmäler

Zerstört die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die historisch einzigartigen Ruinen in der syrischen Stadt Palmyra? Schon in der Vergangenheit vernichteten Extremisten wertvolle Kulturgüter.

NORDIRAK: Die heutige nordirakische Provinz Ninawa war im alten Orient Zentrum früher Hochkulturen. Im Februar 2015 zerstört die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Museum der Stadt Mossul und an der Grabungsstätte Ninive Jahrtausende alte Statuen aus assyrischer Zeit. Viele von ihnen waren laut Experten echt. Die historische Stadt Nimrud südlich von Mossul sollen die Dschihadisten mit Bulldozern überfahren haben.

TIMBUKTU: In der Wüstenstadt im Norden Malis zerstören Kämpfer der islamistischen Rebellengruppe Ansar Dine 2012 mehrere muslimische Mausoleen, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören. Die Islamisten begründeten ihre Tat damit, dass die Stätten mit den Überresten islamischer Gelehrter der Heiligenverehrung gedient hätten.

BAMIAN-TAL: In Afghanistan sprengen die radikalislamischen Taliban 2001 zwei monumentale Buddha-Statuen. Sie wurden von unbekannten Künstlern vermutlich zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert nach Christus in den Fels geschlagen und waren Zeugen der präislamischen Vergangenheit Afghanistans.

AYODHYA: Fanatische Hindus verwandeln 1992 die Babri-Moschee im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh in ein Trümmerfeld, um an deren Stelle einen Tempel zu bauen. Angeblich wurde die Moschee 1528 an einem Ort errichtet, wo zuvor ein Hindutempel gestanden hatte. Ayodhya gilt Hindus als eine der sieben heiligen indischen Städte. Landesweite Unruhen brechen aus, rund 2000 Menschen werden getötet.




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