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Gilt Völkerrecht an Kurdistans Fronten?

Die Dschihadisten werden von der US-geführten Allianz angeblich aus Selbstverteidigung bombardiert

Von Norman Paech *

Die USA berufen sich bei ihren Luftangriffen auf IS-Stellungen auf Paragraf 51 der UN-Charta. Eine Legitimierung ihres Handelns durch den Sicherheitsrat halten sie bisher nicht für nötig.

Der Krieg in Irak und Syrien gebiert fortlaufend neue Gruppen, deren Einordnung zwischen Terror und Opposition verschwimmt. Über 50 Grüppchen und Gruppen sollen sich derzeit an den Überfällen und Raubzügen im Land beteiligen. Niemand kann genau sagen, in welchem Umfang dies geschieht. Auf jeden Fall bilden sie eine neue »Terrorreserve«, die zur Legitimation militärischer Angriffe dienen kann.

Seit einer Woche bombardieren die USA IS-Stellungen nicht nur in Nordirak, sondern auch im Norden Syriens. Obwohl immer wieder betont wird, dass man eine derart mächtige Terrororganisation nicht allein aus der Luft vernichten kann, wurden die Luftangriffe von den Kurden einhellig begrüßt. Sie brachten Entlastung in ihrem Verteidigungskampf gegen den Ansturm der Milizen des »Islamischen Staats« (IS).

So willkommen den Kurden der autonomen Provinz Rojava (Westkurdistan) im Nordosten Syriens die US-amerikanische Unterstützung auch ist, es bleiben doch Fragen nach der völkerrechtlichen Grundlage des militärischen Vorgehens der USA in einem fremden souveränen Staat. Denn einmal im Lande, könnten sich die Angriffe nach einer Vertreibung des IS auch gegen Damaskus richten.

Zudem könnte sich hier eine weitere Variante im Kampf gegen den internationalen Terror herausbilden, die sich vollkommen von der UN-Charta und dem Völkerrecht verabschiedet hat.

Soweit die USA ihre Bombardierungen auf Irak beschränkten, gab es keine völkerrechtlichen Probleme, da sowohl Bagdad als auch Erbil, wo die kurdische Autonomieregierung sitzt, um diese militärische Unterstützung ersucht hatten. Anders verhält es sich mit Syrien. US-Präsident Barack Obama hat wiederholt erklärt, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad nicht um seine Zustimmung fragen zu wollen. Zu behaupten, dass Assad diese stillschweigend gegeben habe, da er nicht laut protestiere, ist eine kühne Unterstellung ähnlich der, mit der die USA schon ihre Drohneneinsätze in Pakistan rechtfertigen. Dabei ist die Regierung in Islamabad viel zu schwach, um sich gegen solch übermächtigen »Beistand« zu schützen.

Moskau hatte die Kritik aus Damaskus zur Kenntnis genommen, und Assad wird sich der zusätzlichen Gefahr bewusst sein, eine derart offene Verletzung der territorialen Integrität durch einen erklärten Feind ohne Protest zu akzeptieren, hat aber bisher nicht deutlich reagiert.

Der UNO-Sicherheitsrat hat zwar in einer Resolution Maßnahmen gegen den Terrorismustourismus beschlossen und alle Staaten verpflichtet, Bürger strafrechtlich zu verfolgen, wenn sie zu terroristischen Zwecken ins Ausland reisen. Der Rat hat aber kein Mandat für eine militärische Intervention zur Bekämpfung des Terrorismus gegeben. Insofern bleibt nur das Selbstverteidigungsrecht des Artikels 51 der UN-Charta als völkerrechtliche Grundlage der Luftangriffe, auf die sich die USA in der Tat berufen. Dem haben sich einige deutsche Stimmen angeschlossen – bündnispolitisch verständlich, rechtlich aber problematisch. Warum? Zwar bedarf es für ein Handeln nach Art. 51 nicht mehr allein des Angriffs durch einen Staat. Seit der Resolution 1368 vom September 2001 ist anerkannt, dass sich ein Land auch gegen Angriffe terroristischer Organisationen, die eine Bedrohung des Weltfriedens bedeuten, mit Gewaltanwendung verteidigen darf. Art. 51 UN-Charta setzt jedoch voraus, dass ein unmittelbarer bewaffneter Angriff vorausgegangen ist.

Dies war vor dem Angriff auf Afghanistan der Fall in Form der Flugzeugattacken vom 11. September 2001. Aus den Angriffen des IS auf die Kurden kann das aber kaum konstruiert werden. Noch liegen Mossul und Rojava an den Grenzen zur Türkei und nicht zu den USA. Die USA sind weder von IS noch einer anderen Terrorgruppierung irgendwo angegriffen worden.

Der Völkerrechtler Michael Bothe sprach im Deutschlandfunk von Selbsthilfe für die irakischen Kurden zur Legitimation der kollektiven Selbstverteidigung. Das trifft zwar für die Angriffe in Irak zu, nicht aber für die Bombardierung Syriens. Dort ist es keine »Selbstverteidigung für einen anderen Angegriffenen«, die Kurden in Irak, sondern allenfalls für die Kurden in Syrien. Wäre Rojava ein eigener Staat, könnten sich die USA auf dessen kollektive Selbstverteidigung berufen. Ihre militärische Hilfe in dieser Situation ist erwünscht, wie mir der Ministerpräsident der Übergangsregierung von Rojava, Ekrem Heso, vorige Woche während eines Besuchs in der Region versicherte.

Doch Rojava ist Teil Syriens, Assad müsste zustimmen, denn eine Selbsthilfe »wider Willen« wie eine »Geschäftsführung ohne Auftrag« gibt es nicht. Die fehlende Zustimmung könnte allein durch den UNO-Sicherheitsrat ersetzt werden. Doch der schweigt in dieser wichtigen Frage. Russen und Chinesen sind offenbar aus gutem Grund nicht bereit, den USA auch nur den kleinsten Spalt einer Tür für eine Intervention zu öffnen – oder sind sie gar nicht gefragt worden? Das Völkerrecht beharrt nicht ohne Grund auf der formalen Anwendung seiner Prinzipien, um sie nicht in der Anpassung an jeden neuen Konflikt aufzuweichen und der Willkür parteilicher Interpretation auszuliefern.

Wie jüngst im Krim-Konflikt geschieht es nicht selten, dass in besonderen Situationen politisch vertretbares oder gar wünschbares Handeln nicht mit dem geltenden Recht vereinbar ist. Man kann das Recht ignorieren, wie es die USA in zunehmenden Maße praktizieren oder ändern, was aber einen komplizierten Prozess in Gang setzt. Man kann allerdings auch die Realität so interpretieren, dass sie ins Recht passt, indem man zum Beispiel Assads Zurückhaltung als Zustimmung interpretiert.

Wie gefährlich allerdings dieser Weg ist, zeigt die Ankündigung der Türkei, nun ebenfalls in Syrien zu intervenieren, um eine Pufferzone an ihrer südlichen Grenze zu errichten. Die türkische Regierung gehört zu den Hauptverantwortlichen für die Gewalt des IS, den sie mit Waffen, Munition und Logistik unterstützt hat. Ihr Ziel ist ganz offensichtlich, unter dem Vorwand des Schutzes ihrer Grenzen die kurdischen Gebiete von Rojava unter ihre Kontrolle zu bringen und damit das Projekt einer demokratischen und rätebasierten Gesellschaft in diesem Teil Kurdistans zu beenden. In einem weiteren ihrer Ziele, Assad aus Damaskus zu vertreiben, trifft sie sich wieder mit den USA: So werden imperialistische Komplotte inszeniert.

Die Situation ist paradox. Was den Kurden in Syrien in höchster Not im Augenblick helfen könnte, ist mit dem Völkerrecht nicht zu vereinbaren. Doch suchen wir nicht die Schuld beim Völkerrecht. Wer jahrelang den Terror ignoriert und gefüttert hat, dem sollten jetzt nicht auch noch der Austritt aus dem Völkerrecht und die Verweigerung der Politik nachgesehen werden. Warum nicht mit Assad sprechen? Es gibt problematischere Herrscher, mit denen die USA täglich sprechen. Warum nicht den UNO-Sicherheitsrat noch einmal einschalten, nachdem der russische Außenminister Sergej Lawrow ein neues Kapitel in den Beziehungen zum Westen aufschlagen will?

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht und war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.

Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014



Weitere US-Luftangriffe in Nordsyrien

Bodenoffensive kurdischer Kämpfer gegen Islamisten **

Mit der Unterstützung von Artillerie und Kampfflugzeugen haben kurdische Truppen am Dienstag eine Offensive gegen die Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) in Nordirak gestartet. Am Morgen rückten die Kämpfer an drei Fronten vor, wie Vertreter der Peschmerga-Miliz bestätigten. Die von den USA angeführte Militärkoalition gegen den IS flog derweil neue Luftangriffe nahe der nordsyrischen Stadt Ain al-Arab (Kobane) an der Grenze zur Türkei.

Bei der kurdischen Bodenoffensive in Irak wurden mehrere IS-Stellungen ins Visier genommen. Einem ranghohen Peschmerga-Vertreter zufolge eroberten die Truppen zwei Dörfer nahe der syrischen Grenze und rückten in den Grenzort Rabia ein, der 100 Kilometer nordwestlich der Islamistenhochburg Mossul liegt. Im Zentrum von Rabia gab es hefige Gefechte.

Auch Sumar, das 60 Kilometer nordwestlich von Mossul liegt, wurde von den Peschmerga angegriffen. Weiter südlich eroberten die Kurdenkämpfer laut einem General mehrere Dörfer um die vom IS gehaltene Ortschaft Dakuk zurück. In beiden Fällen bekamen die Kämpfer den Angaben zufolge Unterstützung aus der Luft und von Artillerieeinheiten, wobei unklar blieb, welche Luftwaffe an dem Militäreinsatz beteiligt war.

Neben den USA hat auch Frankreich Luftangriffe in Irak geflogen, britische Kampfjets sind ebenfalls im irakischen Luftraum aktiv. Die irakische Luftwaffe fliegt zudem täglich Einsätze im ganzen Land. Die Kurdenkämpfer und die irakische Armee werden zudem von mehreren westlichen Staaten mit militärischer Ausrüstung und Waffen unterstützt, darunter auch von Deutschland.

Vergangene Woche waren die US-geführten Luftangriffe auf Stellungen der Dschihadisten von Irak auf Syrien ausgeweitet worden. Seit Anfang August hoben Kriegsflugzeuge der US-geführten Allianz mit arabischen und europäischen Verbündeten zu über 4000 Einsätzen in beiden Ländern ab. Diese Zahl umfasst laut den US-Streitkräften Bombardements, Auftank- und Überwachungsflüge, wobei die arabischen Partner nur mit etwa 40 Einsätzen beteiligt waren.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014


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