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Wettlauf um Syrien

Parallel zum Beginn einer Gesprächsrunde in Genf eskalieren islamistische Verbände Angriffe auf syrische Städte. Die Bevölkerung zahlt den Preis

Von Karin Leukefeld *

»Mit einer neuen Bombardierungskampagne gegen die Stützpunkte der Rebellen in der Bevölkerung werden deren Unterstützer getötet und verjagt«, schreibt Mohammed Al-Khatieb dieser Tage aus Aleppo für das US-amerikanische Internetportal Al-Monitor. »Das bestätigt die Absicht des Regimes, Wohnviertel anzugreifen.« Wer noch in Aleppo wohne, lebe in ständiger Angst, von den »Granaten der syrischen Armee getroffen zu werden«. Nach Angaben von Al-Monitor ist der Autor »ein freier Journalist aus Aleppo«. Offenbar befindet er sich in den Gebieten der Stadt, die von bewaffneten Kampfgruppen kontrolliert werden und die vorgeben, für eine »syrische Revolution« zu kämpfen.

Auch in anderen Teilen von Aleppo werden Menschen getötet – durch Raketen und Mörserangriffe der islamistischen Kampfgruppen, die sich weigern, einen Waffenstillstand zu schließen. Am 11. April starben neun Zivilisten in traditionell von armenischen Christen bewohnten Stadtteilen. Am 28. April wurden Teile der armenischen Kirche der 40 Märtyrer im Stadtteil Judayda zerstört. Am 30. April starben sieben Zivilisten, am 2. Mai 14 Personen, am 3. Mai wurden zwei Bewohner getötet.

Anfang Februar 2015 hatten die Kampfgruppen den Vorschlag des UN-Sondervermittlers für Syrien, Staffan de Mistura, abgelehnt, der ein »Einfrieren« des Konflikts in Aleppo vorsah. Mit aller Härte und Feuerkraft kämpfen sie weiter. Auch die syrischen Streitkräfte und mit ihr verbündete Milizen setzen ihre Angriffe auf »Terroristen, ihre Unterkünfte und Ausrüstung« im ganzen Land fort. Ob in Damaskus oder Deraa (Süden), in Qunaitra (Golan), Hama, Idlib oder Hassakeh (Osten), überall schlagen die syrischen Streitkräfte hart zu.

Diejenigen, die Tod und Zerstörung in Syrien ein Ende setzen wollen, versuchen derweil durch Gespräche eine Lösung zu finden. Moskau hat seit Anfang des Jahres die Regierung und ihre Gegner bereits zweimal eingeladen. Andere Oppositionsgruppen versuchten, sich in Kairo auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Und die UNO hat die syrische Regierung, die bewaffnete und politische Opposition, regionale und internationale Akteure in dem Krieg seit Montag erneut nach Genf gebeten, um über die Zukunft Syriens zu sprechen. Nicht eingeladen sind die Nusra-Front und der selbsternannte »Islamische Staat« (IS), die international als »Terrororganisation« gelistet sind. Noch vor dem 30. Juni 2015 werde de Mistura dem UNO-Generalsekretär einen Bericht vorlegen, erklärte UN-Sprecher Ahmad Fawzi. Darin sollten die Positionen der einzelnen Teilnehmer dargestellt werden. De Mistura werde zudem eigene Vorschläge machen, wie der politische Prozess in Syrien in Gang kommen könne, so Fawzi.

Der Chefmanager des saudischen Nachrichtensenders Al-Arabija, Abdulrahman Al-Rasched, machte sich über den UN-Sondervermittler lustig. Wenn er doch den Iran eingeladen habe, warum hätten nicht auch IS und die Nusra-Front eine Einladung erhalten, fragte Al-Rasched in einer Kolumne. Diese beiden Gruppen hätten mehr Einfluss in Syrien und Irak, als der Iran und seine Verbündeten. Der Krieg in Syrien habe sich anders entwickelt, als De Mistura, Iran oder der syrische Präsident Baschar Al-Assad es gehofft hätten. Die »Rebellen« hätten kürzlich »eine Reihe überwältigender Siege errungen«, doch »eingebildet« wie er sei, habe de Mistura »mehr Zeit mit Assad verbracht, ohne die Opposition zu berücksichtigen«. Keinesfalls werde er der Mehrheit der Syrer »eine Lösung aufzwingen« können. »Teheran und das syrische Regime repräsentieren, wenn überhaupt, nicht mehr als 15 Prozent der Bevölkerung.« De Mistura könne machen, was er wolle, »es wird ihm nicht gelingen, den Kampf zu beenden«, so der Al-Arabija-Chef.

Al-Rasched unterstreicht, was Saudi-Arabien, die Türkei und die Golfstaaten mit ihrer finanziellen und militärischen Hilfe für die islamistischen Kampfgruppen in Syrien umsetzen. Während die US-Administration voraussichtlich Ende Juni mit dem Iran eine Vereinbarung unterschreiben wird, mobilisieren die Golfstaaten und die Türkei alle Kräfte, um Syrien, dem langjährigen Verbündeten des Irans, das Rückgrat zu brechen.

In einem Interview mit dem privaten türkischen Fernsehsender NTV am 30. April 2015 erklärte der Theologe und außenpolitische Berater des türkischen Präsidenten Recep Tayyip ErdoÄŸan, Ibrahim Kalin, das Blatt in Syrien wende sich. Unter Führung Riads sei eine regionale Koalition – Saudi-Arabien, Türkei und die Golfstaaten – dabei, Baschar Al-Assad mit Hilfe salafistischer Gruppen und der »Freien Syrischen Armee« zu stürzen. Damit werde jede Chance für eine politische Lösung vernichtet und Syrien werde geteilt.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 5. Mai 2015


Werben für »Schutzzonen«

»Nationale Koalition« und Kampagnengruppe »Avaaz« werfen syrischer Regierung Giftgaseinsatz vor. Beweise gibt es nicht

Von Karin Leukefeld **


Vor Beginn der von den Vereinten Nationen in Genf anberaumten Gespräche zu Syrien hat die vom Westen als legitime Vertretung Syriens unterstützte oppositionelle »Nationale Koalition« (Etilaf) erneut die Durchsetzung von »Schutzzonen« in Syrien gefordert. Etilaf hat ihren Sitz in der Türkei und wird von den Golfstaaten finanziert.

Ihr Vorsitzender, Khaled Khoja, der der Muslimbruderschaft angehört und als »Mann der Türkei« gilt, forderte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister John Kerry am 1. Mai 2015 in Washington »sichere Häfen«, um »Zivilisten vor den ständigen Bombardierungen von Assads Kampfjets mit Fassbomben und giftigem Chlorgas zu schützen«. US-Außenminister John Kerry, der kürzlich noch erklärt hatte, man müsse mit Assad verhandeln, wenn man eine politische Lösung in Syrien anstrebe, ging darauf nicht ein, sondern erklärte, Syrien brauche eine Regierung, »die das Land eint, die Minderheiten schützt und eine rechtmäßige Zukunft gewähren kann«.

Gut inszeniert hatte Khoja zuvor am Sitz der Vereinten Nationen in New York den »UNO-Gedenktag für die Opfer von chemischer Kriegsführung« am 29. April genutzt, um der syrischen Regierung erneut vorzuwerfen, chemische Waffen einzusetzen. Um das zu verhindern müsse die Weltgemeinschaft alle Resolutionen umsetzen, die humanitäre Hilfe gewährten und den Einsatz von Chlorgas stoppten. Um das Abwerfen von Fassbomben zu beenden, wie es der syrischen Armee vorgeworfen wird, müssten »Schutzzonen« durchgesetzt werden. Diese »werden eine politische Lösung fördern, Menschenleben retten und menschliches Leid beenden«, so Khoja.

Die syrische Regierung hat wiederholt erklärt, kein Gift- oder Chlorgas gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Fabriken in Aleppo, in denen letzteres für die Wasserreinigung produziert worden war, wurden bereits 2012 von Kampfgruppen überfallen. Die syrische Regierung hatte damals die UNO darüber informiert. Doch obwohl das Land alle Chemiewaffen zerstört und entsprechende Vereinbarungen unterzeichnet hat, wird hartnäckig der Vorwurf, die syrische Armee werfe Chlorgas ab, wiederholt. Beweise gibt es nicht.

Wie bereits in Libyen fordert auch die Kampagnengruppe »Avaaz« die Einrichtung von »Schutzzonen« in Syrien, um angebliche Angriffe der Armee mit Giftgas zu stoppen. Weil offenbar viele die Behauptung, Syrien setze dieses gegen die eigene Bevölkerung ein, nicht glauben, hat Avaaz sich die Mühe gemacht, auf einer Webseite »Fragen und Antworten« zusammenzustellen, mit der die Kampagne »Flugverbotszonen in Nordsyrien« untermauert werden soll.

»Unerschütterlich« habe die »Avaaz-Gemeinschaft« sich für die Menschen in Syrien eingesetzt und für »Lebensmittel, Medizin, humanitäre Hilfe und Schulbildung für Flüchtlingskinder (…) Millionen von Dollar« gespendet. Man habe gefordert, Waffenlieferungen zu stoppen. Der Iran und die USA sollten sich an einen Tisch setzen, um zu verhandeln. Alle Maßnahmen seien »ausgeschöpft« und man müsse »neue rechtliche Wege« finden, »um einzuschreiten«. Der Aufruf zu »Flugverbotszonen« basiere auf dem Prinzip der »Schutzverantwortung«.

Dieses Prinzip allerdings setzt die Souveränität eines Landes außer Kraft und ist in den Vereinten Nationen umstritten. »Schutzzonen«, wie sie von Avaaz und Etilaf, von Frankreich und der Türkei für den Norden Syriens gefordert werden, unterstützen nicht Frieden in Syrien, sondern Kampfgruppen, die – im Auftrag ihrer Geldgeber – im Norden Syriens aktuell die Lage militärisch eskalieren. Ihr erklärtes Ziel ist der Sturz der syrischen Regierung.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 5. Mai 2015

Rückschlag für die Opposition

Flucht ins Exil

Die innersyrischen Regierungsgegner haben einen schweren Rückschlag zu verkraften. Der Vorsitzende der Gruppe »Den Syrischen Staat aufbauen« (BSS), Louay Hussein, ist Ende April »aus Angst um sein Leben« aus Syrien ins spanische Exil geflohen.

Hussein gehört zum Urgestein syrischer Oppositioneller und hat unter dem früheren Präsidenten Hafez Al-Assad wegen Mitgliedschaft in der damals illegalen Syrischen Kommunistischen Arbeiterpartei sieben Jahre im Gefängnis verbracht. Ende 2011 gründete er mit der Frauenaktivistin Mouna Ghanem die Organisation BSS. Hussein und seine Mitstreiter waren von Anfang an medial Angriffen von syrischen Regierungsgegnern im Ausland ausgesetzt.

Hussein war als scharfer Kritiker sowohl der Staatsführung als auch der regionalen und internationalen Akteure des Krieges in seinem Land bekannt. Der Regierung warf er vor, nicht politisch zu handeln, Europa warf er vor, durch Sanktionen und die einseitige Unterstützung bewaffneter und von den Golfstaaten geförderter Gruppen den Syrern zu schaden. Gewalt und ausländische Einmischung lehnte er ab. Herausragend war sein Einsatz für die Beteiligung der syrischen Frauen im politischen Kampf um Frieden und Reformen.

Im November 2014 war Louay Hussein an der Grenze zum Libanon verhaftet worden, als er nach Spanien ausreisen wollte. Vorgeworfen wurde ihm ein Artikel, den er für die saudische Zeitung Al-Hayat verfasst hatte. Darin hatte er die syrische Führung massiv kritisiert. Im Februar 2015 kam er auf Kaution frei. Ende April sollte der Prozess gegen ihn fortgesetzt werden.

Der in London erscheinenden Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat sagte Louay Hussein, er sei überzeugt, dass »das Regime nicht mehr in der Lage ist, Verhandlungen zu führen oder eine Machtbeteiligung der Opposition zu akzeptieren«. (kl)




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