"Good bye, Lenin!" in Damaskus
Der Film regt auch im kriegserschütterten Syrien zum Lachen und zum Nachdenken an
Von Karin Leukefeld, Damaskus *
Seit drei Jahren tobt der Krieg in und um Syrien. Täglich bringt er Tod und Zerstörung. Eine »Friedenskonferenz« wird Mal um Mal verschoben. Eigentlich keine Zeit für Filmvorführungen und -debatten.
Die oppositionelle Bewegung »Den Syrischen Staat aufbauen« (BSS) in Syrien hält für Interessierte in Damaskus ein umfangreiches Aktions-, Diskussions- und Kulturprogramm bereit. Dienstag und Sonnabend gehören der Kultur, am Mittwoch wird politisch diskutiert. In jüngster Zeit geht es dabei meist um die sogenannten Genf-II-Verhandlungen, die mehrfach verschobene und noch immer umstrittene zweite Syrien-Konferenz. BSS-Präsident Louay Hussein erhielt zwar eine persönliche Einladung zu dieser Konferenz, nicht aber die Bewegung selbst, die vor allem von den westlichen Mächten hartnäckig ignoriert wird. Hussein sagte zunächst ab, doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
BSS wolle einer dritten Stimme Gehör verschaffen, sagt Anas Joudeh, der bei BSS für die Koordination der zivilgesellschaftlichen Bildung und Arbeit verantwortlich ist. Vielleicht müsse Genf II auch scheitern, damit die wirklichen Kräfte für eine demokratische Veränderung in Syrien, die Menschen selber gehört würden?
Was ist Wahrheit, was Lüge?
Jeden Sonnabend versammeln sich viele Menschen im großen Empfangsraum des Büros, das im Zentrum von Damaskus liegt. Sie sehen sich Bilder an, die eine Künstlerin ausgestellt hat. In einer Sofaecke unterhalten sich junge und ältere Frauen, andere Besucher stehen vor einem Tisch, auf dem kalte und heiße Getränke stehen. Besonders beliebt ist der herbe Tee aus Zitronen, der im Winter eine gute Abwehr gegen aufkommende Erkältungen verspricht.
Sonnabends werde immer ein Film gezeigt und anschließend diskutiere man darüber, erzählt einer der Organisatoren, der seinen Namen nicht genannt haben möchte. An diesem Nachmittag läuft ein deutscher Film. »Er heißt ›Good bye, Lenin!‹ und handelt von den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Deutschland nach dem Fall der Berliner Mauer«, erzählt der Mann. Seiner Meinung nach ist es ein sehr guter Film, ihn fasziniere der friedliche politische Wandel, den die beiden Deutschlands durchlaufen hätten. Das sei ein Thema, das viele Menschen in Syrien beschäftige. Das Land werde derzeit in jeder Hinsicht erschüttert und man frage sich, wie ein friedlicher Wandel möglich wäre. »Die Menschen in Ostdeutschland waren sicherlich negativ von den Veränderungen betroffen, aber es gab auch ein paar positive Aspekte«, sagt er. Doch das Wichtigste sei, dass der Wandel friedlich war.
Gebannt blicken die Anwesenden auf die Leinwand. Der Film, vom Internet heruntergeladen und über einen Computer per Beamer ausgestrahlt, läuft in deutscher Originalfassung mit arabischen Untertiteln.
Wer den Film nicht kennt: Regisseur Wolfgang Becker erzählt darin die Geschichte der Familie Kerner aus der Sicht ihres Sohnes Alex. Zu Beginn sieht man Szenen vom Weltraumflug Sigmund Jähns, des ersten Deutschen im All, der den Jungen sichtlich beeindruckt. Während der Vater nach einer Tagung im Westen geblieben ist, lebt die Mutter mit ihren Kindern in der DDR. Der Schock der Trennung von ihrem Ehemann lässt sie jedoch psychisch erkranken, Frau Kerner verbringt Wochen in der Klinik, bevor sie zu Alex und seiner Schwester nach Hause zurückkehrt. »Wir sprachen nie mehr von Vater, meine Mutter hat sich von dieser Zeit an mit unserem sozialistischen Vaterland verheiratet«, sagt Alex, der in dem Film seine Geschichte aus dem Off erzählt.
Den Fall der Mauer bekommt Alex' Mutter nicht mit. Sie war in ein Koma gefallen, als sie mit ansehen musste, wie ihr Sohn festgenommen wurde, weil er an einer Demonstration gegen die Regierung teilnahm. Als sie aus dem Koma aufwacht, warnt der Arzt, dass jede aufregende Veränderung zu ihrem Tod führen könnte. Alex tut also, als stünde die Mauer noch. Mit einem Freund inszeniert er die DDR, die er sich insgeheim immer gewünscht hat – unter anderem mit selbst fabrizierten Nachrichtensendungen der »Aktuellen Kamera«.
Auf diese Szenen reagiert auch das Publikum in Damaskus lachend. Die meisten Syrer trauen weder den syrischen noch den ausländischen Medien, die über den Krieg in ihrer Heimat berichten. Auch wenn die DDR und Syrien in völlig unterschiedlichen Kulturkreisen liegen, fühlt sich manch einer im Publikum bei den Bildern an die eigene Kindheit erinnert: Die Zeit bei den Pfadfindern. Väter, Mütter oder Großeltern, die sich in der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei engagierten. Und jede Woche wurde in der Schule zwei Stunden lang die Geschichte der Baath-Partei gepaukt, die jeder Schüler jederzeit parat haben musste.
»Good bye, Lenin!« ist ein Hit unter der oppositionellen Jugend in Syrien. Manche haben den Film schon auf dem Damaszener Filmfestival 2009 gesehen. Wegen der jüngeren Entwicklung im Lande und des gewaltsamen Geschehens stellen sich allerdings viele Fragen neu. Einige in Syrien – und nicht nur dort – sprechen von Revolution, andere von einem Angriff auf die staatliche Einheit des Landes. Die Menschen fragen sich, ob sie in Zukunft besser leben werden oder schlechter. Was ist Wahrheit, was Lüge? Welche Rolle spielen die Medien? Was bedeutet gesellschaftlicher Wandel für die Familien – und: Wie wollen wir leben?
Die Angst vor der Veränderung
Nach dem Ende des Films und einer kurzen Rauchpause werden die Stühle in einem großen Kreis aufgestellt, jetzt wird diskutiert. Jeder und jede kommen zu Wort. Allen wird zugehört, keiner wird unterbrochen. Jede politische Veränderung habe ihre ganz persönlichen Geschichten, sagt einer. In dem Film sei es die Geschichte von Alex und seinem Vater, der sich in den Westen abgesetzt hatte. Und von Alex und seiner Mutter, die in Ohnmacht fällt, als sie ihren Sohn auf einer Demonstration gegen den Staat sieht, mit dem sie sich tief verbunden fühlt. »Erst ist sie Mutter, dann ist sie die politische Aktivistin«, zieht jemand ein Fazit. Er wünschte sich, dass arabische Filme ein solches Niveau wie »Good bye, Lenin!« erreichen würden.
Die Diskussion dreht sich um Wahrheit und Lüge und um die Rolle der Medien. Alex, der Filmheld, habe gezeigt, wie Medien die Wirklichkeit verdrehen könnten. Er habe es nur für seine Mutter getan, damit sie durch den Schock der politischen Veränderung nicht ums Leben komme, wirft jemand ein. Doch kann der Mensch ein Leben lang in einer Lüge leben?
Diese Frage stellt sich auch Rama, eine junge Journalistin, die sich in der Opposition engagiert. Sie habe den Film schon ein halbes Dutzend Mal gesehen, erzählt sie. Er sei interessant, weil er ihr etwas über die Geschichte Deutschlands vermittelt habe. Als die Mauer fiel, sei sie ein Kind gewesen. Die Frage, ob sie in einer sozialistischen Gesellschaft oder in einer Konsumgesellschaft leben wolle, beschäftige sie ständig. Im Film würden die beiden Gesellschaftsmodelle humorvoll und doch tiefgründig hinterfragt: »Jede der zwei Gesellschaften hat Vorteile und Nachteile. Wir können nicht alles im Leben haben, darum sollten wir, die Bevölkerung, nach einem Ausgleich, einem Mittelweg suchen.«
Der Film habe eine besondere Botschaft für sie, sagt sie dann: »Es ist die Angst vor der Veränderung, ich habe immer Angst vor Veränderung. Ich frage mich: Ist mein Leben heute nicht gut? Was verliere ich, wenn unsere Gesellschaft sich verändert, oder habe ich gar nichts zu verlieren? Vielleicht wird die Veränderung gut für mich sein, mir in Zukunft helfen? Diese Fragen gehen mir dauernd durch den Kopf.«
Drei Jahre dauern die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien nun bereits an. Ist ihre Angst vor der Veränderung heute geringer geworden? »Nein«, sagt Rama nachdenklich. »Jetzt lebe ich mittendrin in der Veränderung. Ich muss ihr in die Augen schauen.«
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Januar 2014
Wer kämpft gegen wen?
Syrische Rebellen nehmen »Terroristenstützpunkt« ein
Von Roland Etzel **
Die Fronten im syrischen Bürgerkrieg sind knapp drei Jahre nach dessen Beginn weniger übersichtlich denn je.
Rebellen verschiedener Brigaden haben den wichtigsten Stützpunkt der islamistischen Terroristen in Syriens Nordmetropole Aleppo eingenommen. So meldete es am Mittwoch dpa unter Bezugnahme auf die Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter in London. Sie steht den hier als Rebellen bezeichneten Gruppen nahe und nennt die mit letzteren rivalisierenden, aber ebenso regierungsfeindlichen Milizen je nachdem mal Dschihadisten, Islamisten oder auch Terroristen.
Mehrere Dutzend Gefangene, konnten fliehen, heißt es in der Mitteilung weiter. Darunter seien auch Kämpfer der Freien Syrischen Armee gewesen. Der Gehalt dieser »Nachricht« aus London ist gering und wie zumeist kaum überprüfbar, da von keiner anderen Seite darauf Bezug genommen wird. Die syrische Regierung weigert sich seit Beginn der Kämpfe, sich auf eine Charakterisierung ihrer weit gefächerten Gegnerschaft einzulassen. Für sie sind alle bewaffneten Regierungsgegner, mögen sie sich auch untereinander bekämpfen, »Terroristen«. Die von London als »Terroristen« Bezeichneten schweigen. Sie sehen offenbar keinerlei Notwendigkeit, eine Art Öffentlichkeitsarbeit im europäischen Verständnis zu betreiben; Von ihnen gibt es allenfalls martialische Videos über von ihnen selbst verübte Bluttaten, die sie ins Internet stellen und damit wohl vor allem den Zweck verfolgen, den Gegner zu demoralisieren. Wer sie sind, woher sie kommen, wer sie bezahlt und ausrüstet, verschweigen sie.
Auch die Londoner Beobachtungsstelle begnügt sich mit den genannten Pauschalklassifizierungen. Dabei ist davon auszugehen, dass man dort sehr gut weiß, wer da kämpft. Dasselbe gilt wohl für die internationalen Nachrichtenagenturen. Aus politischer Opportunität aber sieht man darüber hinweg, dass im Hintergrund beider rivalisierender Lager Staaten von der Arabischen Halbinsel stehen: Die »Islamisten« blicken dankbar gen Saudi-Arabien, ihre am Mittwoch offenbar erfolgreichen Gegner vornehmlich in dessen Nachbarland Katar. Der Großteil der Waffen gelangt mit einiger Sicherheit über die türkische Grenze nach Syrien. Dies so zu sagen, würde allerdings die auch von der deutschen Außenpolitik verkündeten politischen Koordinaten für den Nahen Osten als Trugbild entlarven.
Berlin blickt verschämt zur Seite, möchte sich im katarisch-saudischen Ringen um die künftige Vorherrschaft in der Region durch keinerlei Äußerung den Mund verbrennen. Mag den westeuropäischen Wünschen auch manches dort zuwiderlaufen: Es sind nun mal die besten Rüstungsgüterkunden außerhalb der NATO.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Januar 2014
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