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Hoffnung in der Barbarei

Der Terror des IS, die Schikanen der Regierung in Ankara, das Treiben des Barsani-Clans: Die Kurden müssen sich der Angriffe gleich mehrerer Seiten erwehren. Ein Reisebericht

Von Ulla Jelpke, Sukriye Dogan und Nezir Suleiman

Das aktuelle Jahrhundert ist das Jahrhundert der Kurden.« Diese Hoffnung hatte der türkische Soziologe Ismail Besikci, der für seine Forschungen über die lange blutig verfolgte und sogar in ihrer Existenz geleugnete Bevölkerungsgruppe 18 Jahre in türkischen Gefängnissen verbringen mußte, vor einigen Jahren einmal geäußert. Sein Optimismus schien gerechtfertigt.

Nach rund 30 Jahren Guerillakrieg der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahm die türkische Regierung Friedensgespräche auf, seit eineinhalb Jahren schweigen die Waffen weitgehend, und bei Wahlen triumphieren legale prokurdische Parteien in den entsprechenden Landesteilen. Im Rojava – Westkurdistan – genannten Norden Syriens war es der dortigen Bevölkerung unter der Losung eines »Dritten Weges« gelungen, ihre Region weitgehend aus dem Bürgerkrieg zwischen dem Baath-Regime und den vom Ausland unterstützen bewaffneten Oppositionsgruppen herauszuhalten. Trotz der seit Sommer 2012 anhaltenden Angriffe radikaler Dschihadisten wurde in Rojava eine aus den drei Kantonen Afrin, Kobani und Cizire bestehende Selbstverwaltungsregion etabliert. In Räten können sich die in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen – Kurden, Assyrer und Araber – selbst vertreten. Im Nordirak kündigte der Präsident der kurdischen Autonomieregierung, Masud Barsani, nach der Einnahme der als »kurdisches Jerusalem« geltenden Stadt Kirkuk mit ihren riesigen Ölfeldern durch seine Peschmerga Ende Juni ein baldiges Referendum über einen unabhängigen kurdischen Nationalstaat an.

Wenige Tage vor unserer mehrwöchigen Reise vom 4. bis zum 21. August durch die kurdischen Gebiete der Türkei, des Iraks und Syriens sah es also so aus, als würden koloniale Unterdrückung, Zwangsassimilation, Massaker bis hin zum Völkermord gegen die Kurden bald der Vergangenheit angehören. Doch kurz vor unserem Abflug nach Diyarbakir, der quirligen Metropole im kurdischen Osten der Türkei, kamen Anfang August die Schreckensmeldungen: Die Terror­organisation Islamischer Staat (IS), die im Juni ein weite Gebiete des Iraks und Syriens umfassendes Kalifat ausgerufen hatte, war zum Angriff auf kurdische Gebiete im Nordirak übergegangen. Betroffen war insbesondere die an Syrien grenzende Region Shengal (arabisch: Sindschar), Heimat der Jesiden, einer nur unter Kurden anzutreffenden 4000 Jahre alten monotheistischen Religion, die weltweit nur noch eine Million Anhänger hat. Von radikalen sunnitischen Muslimen werden die Jesiden seit Jahrhunderten als Abtrünnige und Gottlose verfolgt. Hunderttausende Menschen im Nordirak ergriffen die Flucht vor den fanatischen Schlächtern des IS: neben jesidischen Kurden christliche Aramäer, schiitische Turkmenen und auch diejenigen sunnitischen Araber, die sich nicht den mittelalterlichen Islamvorstellungen des IS unterwerfen wollten.

Grauen jenseits aller Vorstellungen

Bereits in der Stadt Midyat in der an Syrien grenzenden südostanatolischen Provinz Mardin trafen wir am 6. August auf jesidische Flüchtlinge, die es geschafft hatten, in die Türkei zu gelangen. Was uns diese vielfach traumatisierten Menschen schilderten, überstieg jede Vorstellungskraft. Keine Familie, mit der wir sprachen, hatte noch alle Angehörigen beisammen. Eine Frau beschrieb uns, wie die Terroristen ihrem Vater zuerst die Gliedmaßen abschlugen und ihn dann vor den Augen der Angehörigen köpften. Eine andere berichtete, wie eine alte Frau in ein Brautkleid gesteckt und vergewaltigt wurde. IS-Mitglieder filmten diese Szene. Anschließend warfen sie die alte Frau ihrer Familie vor die Füße. »Sie haben die Menschen aufeinandergestapelt, mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt«, erzählte ein Überlebender.

Wer nicht zum Islam konvertiert, wird von den Dschihadisten hingerichtet. Doch auch Jesiden, die nach Aufforderung des IS ihrem Glauben entsagten, wurden abgeschlachtet. Auffällig sei gewesen, daß sich in dem Flüchtlingsstrom kaum junge Männer und Frauen befanden, berichtete uns ein Sanitäter des Kurdischen Roten Halbmondes. Dies wertete er als Hinweis auf die von vielen Geflohenen berichteten Massaker an Jesiden im wehrfähigen Alter, aber auch auf die Entführungen Tausender Mädchen und Frauen. Im Krankenhaus von Tal Afar im Nordwesten des Irak würden 700 Frauen gefangengehalten, so ein Flüchtling. Eine von ihnen habe über ihr Mobiltelefon ihre Angehörigen angefleht: »Werft eine Bombe auf das Krankenhaus. Wir wollen nur noch sterben.« Ein anderer Flüchtling mußte über ein Mobiltelefon, das seine Tochter versteckt hatte, mit anhören, wie diese ihren Entführer bat, sie lieber umzubringen, als zu verkaufen. Doch der Terrorist entgegnete: »Ihr werdet uns jeden Tag waschen und zu Diensten sein.« Es gibt Berichte über Sklavinnenmärkte in Mossul, auf denen die verschleppten Frauen verkauft werden.

Der frühere Abgeordnete Ahmet Türk, der während seines rund 40jährigen Einsatzes für die Rechte der Kurden verfolgt, inhaftiert, gefoltert und mit der Aberkennung seiner politischen Rechte bestraft wurde, gewann im März 2014 die Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Mardin. Wie in allen von der linken »Demokratischen Regionenpartei (BDP)« regierten Kommunen im kurdischen Südosten der Türkei gibt es auch in Mardin eine quotierte Doppelspitze, die zugleich die ethnische Vielfalt der Region widerspiegeln soll. An der Seite des altgedienten 72jährigen Politikers Türk wurde so die 25jährige Studentin Februniye Akyol Benno als erste Aramäerin zur Kobürgermeisterin einer Stadt in der Türkei. Neben Kurden und einer kleinen aramäischen Minderheit leben in der Provinz Mardin viele Araber, die den neuen Stadtoberhäuptern skeptisch gegenüberstehen. »Der Frieden in Mardin ist gefährdet, weil Teile der arabischen Bevölkerung anfällig für den IS sind«, warnt Türk im Gespräch mit uns vor den Aktivitäten der Gruppe in der Region. Die Dschihadisten verteilen in der türkischen Grenzstadt Nusaybin und Umgebung Flugblätter, werben um Unterstützer und rekrutieren junge Männer für den »Heiligen Krieg«. Vor allem nutzt der IS die Grenzregion als sicheres Hinterland für seine Angriffe auf das kurdische Selbstverwaltungsgebiet in Nordsyrien. »Viele Kurden haben mit eigenen Augen gesehen, wie IS-Kämpfer in Nizip, Ceylanpinar und Akcakale bewaffnet die Grenze passierten«, berichtet Türk von der Unterstützung des IS durch die islamisch-konservative türkische AKP-Regierung. »Der AKP-Bürgermeister von Ceylanpinar zeigte sich öffentlich mit bewaffneten IS-Verbrechern in der Stadt.« Dies ist durch Fotos belegt. Für die aus aller Welt nach Syrien und in den Irak strömenden Dschihadisten – darunter über 400 aus Deutschland – ist die Türkei die wichtigste Einreiseschleuse. Dies belegen Einreisestempel und Visa in den Pässen der in Syrien gefallenen oder in Gefangenschaft geratenen Kämpfer. »Bis jetzt kommen die meisten Terroristen nicht aus Syrien, sondern von außen, aus Libyen, Saudi-Arabien, Ägypten und Europa. Ihre Emire kommen aus Europa, ihre Waffen aus Amerika«, bestätigte uns später der Kommandant der Sicherheitsmiliz in Rojava, Ciwan Ibrahim.

Die Durchreise durch die Türkei geschieht nicht etwa heimlich, vielmehr gab es Anweisungen des Innenministeriums an die Provinzbehörden, den ausländischen Kämpfern Unterkunft und Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Die offizielle Begründung lautete, daß die »Mudschaheddin« die regionalen Interessen der Türkei durch ihre Angriffe auf die kurdischen Selbstverwaltungskantone in Syrien unterstützen würden. Verwundete Dschihadisten werden in Krankenhäusern des Landes versorgt, wie die Regierung in Ankara auf eine parlamentarische Anfrage der linken HDP-Partei zugeben mußte. In den letzten Jahren beförderte der Geheimdienst Hunderte Waffenladungen zu syrischen Oppositionsgruppen – auch der IS und die zu Al-Qaida gehörende Al-Nusra-Front profitierten davon. Polizisten, die solche Transporte stoppten, sehen sich jetzt mit langen Haftstrafen wegen Verrats von Staatsgeheimnissen bedroht. »Der türkische Staat unterstützt den IS offen gegen die Kurden in Rojava. Man kann nicht auf der einen Seite behaupten, daß man Frieden mit den Kurden will und auf der anderen Seite mit dem antikurdischen IS kooperieren«, beklagt Bürgermeister Türk das Doppelspiel der AKP-Regierung.

Unser Weg führt uns am 8. August weiter ins türkisch-irakisch-syrische Grenzdreieck. Wenige Tage vor unserer Durchreise wurden hier nahe der nordirakischen Stadt Dohuk sechs Insassen eines Autos von IS-Terroristen ermordet. Sie hatten sich verfahren, als ein Motorradfahrer ihnen anbot, sie zu ihrem Ziel zu geleiten. Doch der Mann führte sie direkt zu einem Stützpunkt des IS.

Guerilla als Retterin

Für einen kurzen Abschnitt bildet der Fluß Tigris die Grenze zwischen den kurdischen Autonomiegebieten in Nordsyrien und im Nord­irak. An der Grenze begegneten wir bereits Tausenden jesidischen Flüchtlingen aus Shengal, denen die Flucht nach Rojava gelungen war und die zu Verwandten oder Freunden in die kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak weiterziehen wollten. Wir sahen Kinder barfuß mit blutigen Füssen über den glühend heißen Boden gehen. Aus Shengal geflohene Jesiden berichteten, daß die Peschmerga von Barsanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP) sich Anfang August zurückgezogen hatten und sie schutzlos den IS-Terroristen überließen. Die Peschmerga weigerten sich, der Bevölkerung Waffen zum Selbstschutz dazulassen und nahmen statt dessen in einigen Fällen den Dorfbewohnern noch deren eigene Waffen ab. Es war eine regelrechte Einladung an den IS.

In dieser Situation eines drohenden Völkermordes an den Jesiden sind Kämpferinnen und Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG aus Rojava, die bereits seit über zwei Jahren erfolgreich gegen die Dschihadisten kämpfen, über die irakische Grenze nach Shengal gegangen. Auch Guerillakämpfer der PKK, die in den Kandil-Bergen im irakisch-iranischen Grenzgebiet ihre Camps haben, eilten nach Shengal. »Nur Gott und die PKK haben uns gerettet«, erklärten uns immer wieder Flüchtlinge. Die YPG und die PKK-Guerilla hatten den Zugang zum Shengal-Gebirge blockiert, so daß die IS-Männer sich dort nicht verschanzen und die in die Berge geflohenen Menschen nicht jagen konnten. Die Guerilla und die YPG kämpften dann einen Fluchtkorridor von den kargen Bergen, in denen Zehntausende Flüchtlinge Schutz gesucht hatten und viele von ihnen starben, nach Rojava frei.

Unter den Jesiden wird angenommen, daß Barsani einen Genozid an ihrer Bevölkerungsgruppe billigend in Kauf genommen hatte, um eine Situation zu provozieren, in der ihm der Westen die für die Ausrufung der Unabhängigkeit notwendige Militärhilfe nicht mehr versagen konnte. Der Vorstoß des IS kam erst bei der Kleinstadt Mahmur 40 Kilometer vor der kurdischen Hauptstadt Erbil zum Stehen – dank des Eingreifens der PKK, die sich an die Seite der Peschmerga stellte. Barsani mußte sich anschließend persönlich bei den Guerillakämpfern bedanken.

Embargo gegen Rojava

In der Nähe der Stadt Derik im Nordosten von Rojava wurde eine Zeltstadt für Flüchtlinge errichtet. Das Newroz-Camp beherbergt zur Zeit rund 15000 Jesiden. Der stellvertretende Kantonsvorsitzende von Cizire, Husein Ezem – ein Araber – übernahm die Verwaltung. Die gesamte Regierung des Kantons Cizire war vor Ort, um zu helfen. Die Behörden und die Bevölkerung brachten den Geflohenen, die nichts als ihre Kleider bei sich hatten, Wasser, Brot, Medikamente und Decken. Dabei leidet die Bevölkerung in Rojava selbst schwer unter der Belagerung durch die terroristischen Banden und einer Blockade der Außengrenzen durch die Türkei und die kurdische Regionalregierung im Nordirak. Entlang der Grenze, die Qamischli auf syrischer Seite von Nusaybin auf türkischer Seite trennt, hat Ankara eine Mauer errichten lassen. Nur unregelmäßig erlaubt die Türkei die Lieferung humanitärer Güter über ihre Grenzübergänge. Deren Soldaten verzögerten die Lieferung großer Mengen Kindernahrung so lange, bis sie verdorben war und nur noch verbrannt werden konnte, teilte uns eine Mitarbeiterin der Kantonalregierung mit. Passieren können hier überhaupt nur syrische Staatsbürger, die in die Türkei geflüchtet oder eingereist waren. Wollen sie nach Rojava zurückkehren, werden sie oft tagelang von bewaffneten türkischen Einheiten aufgehalten. Für Nichtsyrer ist die Grenze von türkischer Seite her dicht. Dies gilt auch für die internationale Presse. Und eine Einreise nach Rojava über den einzigen offiziellen Grenzübergang von der kurdischen Autonomieregion im Irak ist für Ausländer nur mit einer Sondergenehmigung aus dem Präsidialamt in Erbil möglich. In Qamischli trafen wir Journalisten, denen ein solcher Grenzübertritt verwehrt wurde, so daß sie sich in die Hände von Schleppern begeben mußten.

Noch strenger als auf türkischer Seite wird die Blockade durch die Peschmerga der KDP von Barsani durchgesetzt. Letzterer macht mit der Türkei Geschäfte mit dem Handel von Energieträgern. Er hat in deren autoritär regierendem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen Seelenbruder gefunden. »Wir haben nichts dagegen, daß die Regierung in Erbil gute Beziehungen zu Ankara unterhält und Handel mit der Türkei betreibt«, betont ein Mitglied der Kantonalregierungen im Gespräch mit uns. »Doch diese Beziehungen dürfen nicht zu Lasten von Rojava gehen.« Aber Barsani kann es offensichtlich nicht verkraften, daß seine Anhänger in der selbstverwalteten Region kaum über Einfluß verfügen. Denn unter Führung der sozialistischen Partei der Demokratischen Union (PYD) wurde dort ein anderer als der im Nordirak vertretene halb feudale, halb neoliberale Entwicklungsweg eingeschlagen. Während in der kurdischen Region im Irak undurchsichtige Clan­strukturen, Korruption und Vetternwirtschaft dominieren, bestimmt in Rojava die in Volksräten und Komitees organisierte Bevölkerung auf allen Ebenen mit. Die auf Kooperativen basierende Wirtschaft soll der Allgemeinheit statt der individuellern Bereicherung dienen.

Die Mitglieder des KDP-Ablegers in Rojava und einige andere Kleinparteien, deren untereinander zerstrittene Führer weiterhin in Luxushotels in Erbil wohnen, weigern sich, in den Gremien und Institutionen der Selbstverwaltung mitzuarbeiten. Mehrfach beteiligten sich Barsani-Anhänger sogar an Sabotageakten, mit denen die Selbstverwaltung destabilisiert werden sollte. Werden die Rechtsbrecher dann von der Polizeimiliz Asayish rechtlich verfolgt, heißt es in den KDP-nahe Medien wie dem Sender Rudaw oder der von Deutschland aus betriebenen Website Kurdwatch, die PYD – und nicht die Regierung Rojavas – unterdrücke andere Meinungen.

Mit dem Embargo versucht Barsani, die Bevölkerung in Rojava auszuhungern und das Selbstverwaltungsgebiet zu entvölkern. Fast eine Woche hielt die kurdische Regierung in der Autonomen Region im Nordirak 200 Zelte am Grenzübergang Semalka zurück, die die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« für die Flüchtlinge aus Shengal nach Derik schicken wollte. Selbst mehrere Lastwagen mit Hilfsgütern, die die im Nordirak mitregierende Patriotische Union Kurdistans gesammelt hatte, wurden an der Grenze blockiert.

Selbsthilfe

Die Menschen in Rojava betonen, daß sie von äußerer Hilfe nicht abhängig werden, sondern sich durch eigene Produktion und Landwirtschaft selbst versorgen wollen. Ein abschreckendes Gegenbeispiel stellt hier die kurdische Autonomieregion im Nordirak dar. Dort wird fast nichts produziert, es gibt kaum Landwirtschaft, das Gebiet ist völlig abhängig von türkischen Importen. Türkische Unternehmen dominieren die Märkte der Region.

Aufgrund der Belagerung müssen Maschinen und Ersatzteile, Medikamente und andere wichtige Versorgungsgüter durch Schmuggler nach Rojava gebraucht werden. Innerhalb Syriens ist dies gefährlich und kostspielig, da die Händler durch die von den terroristischen Banden kontrollierten Gebieten reisen müssen. Auch das Schmuggeln über die türkische Grenze ist lebensgefährlich. Denn immer wieder werden Schmuggler, aber auch Flüchtlinge von türkischen Posten erschossen.

So müssen sich die Menschen in Rojava mit Kreativität und Improvisation helfen. Aus weggeworfenen technischen Geräten werden zum Beispiel Generatoren gebaut. Traktoren werden mit Stahlblechen zu »gepanzerten« Fahrzeugen für Abwehrkämpfe gegen die terroristischen Banden umgebaut. Kooperativen bemühen sich, die für die Grundversorgung der Bevölkerung notwendigen Nahrungsmittel zu erzeugen. Obwohl sich viele Kraftwerke in den vom IS kontrollierten Gebieten befinden, ist es nun mit eigenen Mitteln gelungen, die Bevölkerung wenigstens drei Stunden am Tag mit Elektrizität zu versorgen. Die restliche Zeit rattern die ölbetriebenen Generatoren in den Höfen.

In Amude – dem Regierungssitz des Kantons Cizire – berichtete Bürgermeisterin Berivan Yunis von den Anfängen. »Wir befanden uns 2013 in seiner schwierigen Lage, es fehlte an Wasser, Brot und Strom. Heute haben wir das Problem der Brotversorgung nicht mehr. Dank der Ölraffinerie können wir Strom produzieren und die Bevölkerung vor dem Erfrieren im Winter bewahren.« Für den Eigenbedarf des Kantons wird Erdöl aus den Feldern bei Rumalan gefördert. Es gibt Komitees zur Preis- und Qualitätskontrolle von Lebensmitteln, für die Gesundheitsvorsorge, Wasser- und Stromversorgung, Stadtreinigung, Verkehrs- und Baukontrolle. Dabei geht es nicht mehr nur um die Grundversorgung der Bevölkerung. »Wir haben sehr viele Pläne«, erklärte Bürgermeisterin Yunis. Im Bau sei ein Frauen- und Kinderpark für Veranstaltungen sowie ein Kultur- und Kunstzentrum. Ein eigener Radiosender soll in diesen Tagen starten.

Ungewohnt für den Nahen Osten ist die Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen, bei allen Aktivitäten – bis hin zu den bewaffneten Organen. »Früher hockten wir den ganzen Tag zu Hause rum und machten nur die Hausarbeit«, erzählte uns eine ältere Frau. »Doch jetzt haben wir ständig Termine. Wir sind im Frauenverein aktiv und bilden uns dort weiter. Wir entscheiden in den Volksräten mit und wir organisieren Aufgaben wie Lebensmittelverteilung und Straßenreinigung in unserem Stadtviertel.«

Wir haben erlebt, wie motiviert die Menschen in Rojava sind, weil sie endlich nach Jahrzehnten der Unterdrückung aus Überzeugung politisch für sich und das Allgemeinwohl tätig sind. Immer wieder hören wir: »Trotz der Todesbedrohung leben wir unseren Traum.«

Der in Rojava eingeschlagene Weg, in dem alle ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt und alle durch das Rätesystem vertreten sind und miteinander regieren, garantiere, daß es nicht zum Bürgerkrieg oder Fundamentalismus komme, ist die Koministerpräsidentin des Kantons Cizire, Elisabeth Gewriye, eine syrische Christin, überzeugt. »Das ist die politische Lösung für den Nahen Osten.« In diesem Ozean der Barbarei ist Rojava somit eine Insel der Hoffnung.

* Ulla Jelpke ist Mitglied der Linksfraktion im Bundestag, Sukriye Dogan ist türkische Kurdin und lebt in der BRD, Nezir Suleiman kommt aus der Region Rojava und lebt ebenfalls in der Bundesrepublik

Aus: junge Welt, Donnerstag 11. September 2014



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