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Die Tragödie von Jarmuk

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Jarmuk im Süden der syrischen Hauptstadt ist in den vergangenen Tagen angesichts heftiger Kämpfe in die Schlagzeilen der internationalen Medien gerückt. Begonnen hat die Tragödie dort im Jahr 2011, als die palästinensische Hamas beschlossen hatte, den von islamistischen Kräften wie der Muslimbruderschaft forcierten bewaffneten Aufstand in Syrien gegen die Regierung zu unterstützen. In dem Damaszener Stadtteil lebten zu dem Zeitpunkt fast eine Million Menschen, darunter etwa 180.000 registrierte palästinensische Flüchtlinge.

Unter den Palästinensern war die Debatte zunächst politisch geführt worden. Die mit der Hamas verbundene oder sympathisierende Fraktion war für eine Beteiligung an den Protesten gegen Präsident Baschar Al-Assad, dazu gehörte explizit auch der Griff zu den Waffen. Andere, vor allem jüngere Palästinenser, die den Wunsch nach Reformen mit den Syrern teilten, beteiligten sich an Demonstrationen. Als Forderungen nach einer ausländischen Intervention, der Einrichtung einer Flugverbotszone und nach »Sturz des Regimes« laut wurden, zogen sie sich zurück. Die dritte Gruppe von Palästinensern meinte, man solle an dem »Prinzip der Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten« des Landes festhalten, das die Palästinenser als »Gäste« aufgenommen habe. Das entspricht der PLO-Linie seit dem libanesischen Bürgerkrieg (1985–2000).

Die Hamas allerdings stellte ihre brüderlichen Verbindungen zur Muslimbruderschaft, die sich in Tunesien, Ägypten, Jordanien und im Jemen zu dem Zeitpunkt auf der Siegerspur des »Arabischen Frühlings« wähnte, »über die gemeinsamen palästinensischen Interessen«, wie es der PLO-Vertreter Anwar Abdul-Hadi im Gespräch mit der Autorin Anfang 2014 in Damaskus formulierte. Mitglieder der Hamas halfen beim Schmuggel von Waffen und Geld nach Syrien, andere schlossen sich den bewaffneten Gruppen an. Auf der anderen Seite positionierte sich die Palästinensische Front zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC) an der Seite der syrischen Armee. Die Palästinensische Armee, die im palästinensischen Teil von Jarmuk – dem Lager Mouchaijem – offiziell für Sicherheit sorgen soll, schwieg. Die Mehrheit der palästinensischen Syrer, wie sie sich selbst auch nennen, lehnen das militärische Engagement auf seiten der Aufständischen wie der Regierung ab.

Die mehrheitlich syrische Bevölkerung aus Jarmuk verließ derweil aus Angst vor Kämpfen ihre Wohnungen und Häuser und suchte anderenorts eine sichere Bleibe. Die politische Führung der Hamas wurde aufgefordert, Damaskus zu verlassen. Anfang 2012 zog sie nach Katar. Die Kämpfer blieben.

Im Sommer 2012 planten bewaffnete Kampfverbände, aus dem Süden kommend, den militärischen Einmarsch in die syrische Hauptstadt, um die Macht zu übernehmen. Auslöser war ein Anschlag auf die militärische Führung und die Geheimdienstspitze Syriens am 18. Juli in Damaskus. Wie die libanesische Tageszeitung As-Safir am 14. März 2015 unter Berufung auf französische Regierungsquellen berichtete, hatten der US-Geheimdienst mit Frankreich und arabischen Verbündeten den Anschlag geplant, um eine militärische Übernahme des Landes einzuleiten.

Den militärischen Strategen dieses Vorhabens – und den am Boden operierenden Kampfgruppen – erschien Jarmuk als natürliche »Einflugschneise«, um im Zentrum der syrischen Hauptstadt zu landen. Allein die Weigerung der Mehrheit der palästinensischen Organisationen, die Kämpfer passieren zu lassen, stand ihnen im Weg. Gegen »großzügige Bezahlung«, sprich Bestechung, wechselten Mitte November 2012 einige der palästinensischen Gruppen die Seiten und öffneten Jarmuk für die Kämpfer aus dem Süden. Hunderttausende Menschen flohen innerhalb weniger Stunden nur mit den nötigsten Habseligkeiten in das etwa fünf Kilometer entfernt liegende Zentrum von Damaskus. Die syrische Armee riegelte kurz darauf das Stadtviertel ab, um ein Vordringen der Kampfverbände nach Damaskus zu stoppen. Zurück blieben zu dem damaligen Zeitpunkt rund 80.000 Zivilisten, die nicht fliehen konnten, weil sie krank, alt oder mittellos waren oder weil Angehörige von ihnen auf seiten der bewaffneten Gruppen in Lohn und Brot standen. Oder weil sie ihre Wohnungen und Häuser nicht verlassen wollten. Anfangs war es noch möglich, hin- und herzufahren, um Lebensmittel zu bringen oder seiner Arbeit im Zentrum von Damaskus nachzugehen. Fast permanent wurde zwischen den PLO-Fraktionen und den bewaffneten Gruppen verhandelt, um einen Abzug der Kämpfer zu erreichen.

Die syrische Armee hielt sich vereinbarungsgemäß innerhalb des Lagers zurück, reagierte allerdings wiederholt auf Angriffe mit Mörsergranaten, die aus dem südlichen Teil abgeschossen wurden. Die Zahl der Zivilisten in Jarmuk ging auf geschätzte 18.000 zurück, die Armee riegelte den Stadtteil schließlich hermetisch ab. Die Belagerung wurde zunehmend von internationalen Hilfsorganisationen angeprangert, die humanitären Zugang in das Lager forderten. Je mehr sich die humanitäre Situation im Lager verschlimmerte, desto mehr Kampfgruppen waren bereit, einem lokalen Waffenstillstand zuzustimmen. Als größter Blockierer erwies sich zu diesem Zeitpunkt (2013/14) die Nusra-Front, die mehrmals zusagte, abziehen zu wollen, um dann kurz vor Unterzeichnung einer Vereinbarung wieder das Gegenteil zu tun. Das geschah erneut Anfang dieses Monats. Am 9. April sollte ein Abkommen zum Rückzug der bewaffneten Kämpfer einschließlich der Nusra-Front unterzeichnet werden. Wenige Tage zuvor, am 4. April, wechselten einige Nusra-Kämpfer die Fronten und ließen die Milizen des »Islamischen Staats« (IS) nach Jarmuk einmarschieren.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. April 2015


Flucht aus dem Flüchtlingslager

Jarmuk war die Heimat der größten Palästinensergemeinde in Syrien. Ursprünglich war das Lager eine Ansammlung von Zelten für Flüchtlinge, die 1948 Palästina verlassen mussten. 1957 wurde aus dem Camp ein offizielles, von den Vereinten Nationen anerkanntes Flüchtlingslager. Aus den Zelten wurden Hütten und Häuser. Syrer, die aus allen Teilen des Landes nach Damaskus kamen, um in der Hauptstadt zu arbeiten, zogen ebenfalls nach Jarmuk. Die Häuser wurden höher, die Fläche von nur wenig mehr als zwei Quadratkilometern wurde immer dichter bebaut. Jarmuk wurde zu einem Damaszener Stadtteil. 2010 war Jarmuk ein boomender Wirtschaftsstandort.

Ausgebildet in den Schulen des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), konnten Palästinenser in syrischen Universitäten studieren. Viele erhielten staatliche Stipendien, um im Ausland zu lernen. Anders als im Libanon, wo der Zugang zum Arbeitsmarkt für Palästinenser stark eingeschränkt ist, können sie in Syrien als Ärzte, Ingenieure und Beamte arbeiten.

Jarmuk galt als die »Hauptstadt der Palästinenser« außerhalb Palästinas. Drei Hauptstraßen durchqueren den Ort, die heute Frontlinien sind. Nach offiziellen UNRWA-Angaben waren im Jahr 2010 knapp 150.000 palästinensische Flüchtlinge in Jarmuk registriert.

Anfang 2011 wurden in Syrien 526.000 palästinensische Flüchtlinge gezählt. Seit Ausbruch des Krieges haben bis zu 50 Prozent der »syrischen Palästinenser«, wie sie sich selber nennen, das Land verlassen. Viele leben heute in Flüchtlingslagern im Libanon oder haben sich auf die gefährliche Reise nach Europa gemacht. Eine unbekannte Zahl ertrank dabei im Mittelmeer. (kl)




Kampf um Befreiung

Palästinenser in Syriens Hauptstadt Damaskus unterstützen Armee beim Vorgehen gegen »Islamischen Staat«. PLO pocht auf »Nichteinmischung«

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Während palästinensische und internationale Hilfsorganisationen sich um Zugang zu eingeschlossenen Zivilisten in Jarmuk bemühen, halten die Kämpfe in dem ehemaligen Flüchtlingslager im Süden der syrischen Hauptstadt Damaskus an. Nur wenige Kilometer weiter nördlich, im Zentrum der Metropole, ist wenig von den Kämpfen zu spüren.

»Jarmuk? Das ist doch ein ganz großes Spiel«, sagt Amar B., während er neben dem Gespräch versucht, das Fußballspiel von Manchester United gegen Manchester City im Fernsehen zu verfolgen. »Da will jemand zeigen, dass ›Daesh‹ jetzt auch in Damaskus angekommen ist und er unbedingt internationale Hilfe braucht.« Der Apotheker benutzt das arabische Kürzel für den selbsternannten »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« (IS, früher ISIS). Der Mann ist kein Freund der Palästinenser und noch weniger ein Freund der Regierung. Dass man in den USA und in Europa inzwischen wieder laut darüber nachdenkt, mit Syriens Präsident Baschar Al-Assad im Rahmen des internationalen »Kampfes gegen den Terrorismus« einen Dialog aufzunehmen, kommentiert der Mann zynisch. Ihm sei die Politik inzwischen egal, er verfolge lieber Fußball, das sei seine »Passion«.

»Jarmuk wird zerstört«, ist dagegen ein palästinensischer Familienvater überzeugt, der sein Haus in dem Viertel Ende 2012 mit seiner Familie verlassen musste. »Gegen diese Truppen von ›Daesh‹ bleibt der syrischen Armee keine andere Wahl.«

Anders als bei früheren Kämpfen gegen bewaffnete Gruppen in den Vororten von Jobar, Duma oder Daraja, ist in Damaskus in den letzten Tagen nur selten der Lärm schwerer Waffen zu hören. Als die Kampfverbände des IS Anfang April in den südlichen Stadtteil Jarmuk einmarschieren konnten, fielen in den folgenden Nächten schwere Bomben auf den Ort. Unbestätigten Berichten zufolge sollen »Fassbomben« eingesetzt worden sein. Zu diesem international ständig wiederholten Vorwurf äußert sich die syrische Armeeführung nicht.

Syrische und arabische Medien berichten von schweren Häuserkämpfen in dem ehemaligen Flüchtlingslager. Von einst einer Million Menschen sind nur etwa 16.000 Zivilisten verblieben, rund 2.000 konnten in den vergangenen Tagen in die angrenzenden Stadtteile fliehen. Palästinenser, die sich bisher aus den Kämpfen heraushalten wollten, haben sich nun zum bewaffneten Eingreifen entschlossen und rücken an der Seite syrischer Spezialtruppen Straße für Straße in dem Viertel gegen IS vor. Der Einsatz widerspricht der Haltung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in Ramallah. Die hatte einen Beschluss von 14 palästinensischen Gruppen in Syrien zurückgewiesen, bewaffnet »Daesh« und die Nusra-Front aus Jarmuk zu vertreiben. Die PLO-Führung pocht statt dessen auf das »Prinzip der Nichteinmischung« in innersyrische Konflikte.

Ein Vertreter der Fatah in Syrien, Abbas Zaki, kritisierte die Erklärung der PLO. Die palästinensische Nachrichtenagentur Maan News zitierte ihn mit den Worten, dass es sich in Syrien um eine »Aggression von Agenten der NATO, des Mossad und des US-Geheimdienstes« handle. Jeder, der Jarmuk verteidige, sei willkommen, so Zaki. An vorderster Front müsse die Palästinensische Befreiungsarmee an der Seite der syrischen Streitkräfte kämpfen. Die Fatah ist die stärkste Fraktion der Palästinensischen Befreiungsorganisation. PLO-Vertreter Khaled Abdulmajid, der von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nach Syrien geschickt worden war, um ein gemeinsames Vorgehen der verschiedenen Fraktionen in Jarmuk zu erreichen, hatte sich angesichts der PLO-Erklärung überrascht gezeigt. Möglicherweise sei auf die Palästinenserführung internationaler Druck ausgeübt worden, nicht mit den syrischen Streitkräften zu kooperieren.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. April 2015


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