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Alltag in Homs

Im Vorort Al-Waer torpedieren bewaffnete Gruppen eine politische Friedenslösung - zum Leidwesen der Bevölkerung

Von Karin Leukefeld, Homs *

»Sehen Sie hier, das ist mein Sohn.« Hayat Awad zeigt auf ein Amulett, das sie an einer goldenen Kette um den Hals trägt. Versehen mit einem blauen Stein, der den bösen Blick abwenden soll, hebt sich das Schmuckstück von ihrem schwarzen Pullover ab. Hayat Awad ist ganz in Schwarz gekleidet, sie trägt Trauer. »Er war Soldat. Nur 20 Jahre war er alt, als er von den Terroristen getötet wurde«, fährt sie fort. Im südsyrischen Deraa war ihr Sohn eingesetzt, um dort ein Krankenhaus zu bewachen. »Die Terroristen haben einen Belagerungsring um das Krankenhaus gezogen und alle 40 Soldaten getötet.« Auf ihrem Mobiltelefon hat sie ein weiteres Foto ihres Sohns: »Er ist als Märtyrer gestorben.« Sie habe noch zwei Söhne, die bei der Armee dienten, sagt sie dann. »Und mein Mann ist Offizier.«

Hayat Awad lebt in Homs und arbeitet im Medien- und Informationsbüro des Gouverneurs. In ihrer Freizeit hilft sie Menschen, die vom Krieg vertrieben wurden, Waisenkindern oder Verletzten. »Nur nach Al-Waer kann ich nicht gehen«, sagt sie. »Dort wird man mich vermutlich gleich töten, dort wohnen Feinde der Armee. Ich kann hineingehen, werde aber nicht wieder herauskommen.«

Al-Waer ist eine Satellitenstadt im Westen von Homs. Sie liegt in Sichtweite der größten Raffinerie des Landes an der Straße nach Tartus. Von weitem sieht man die Neubauten, einige tragen deutliche Kampfspuren. Al-Waer, so nennt man auch trockenes, unfruchtbares Land, das schwer zu bearbeiten ist. Im übertragenen Sinne treffe das auch auf den Ort zu, sagt Pater Michel, der einem Versöhnungskomitee angehört, das zwischen der lokalen Bevölkerung und der Regierung vermitteln soll. Auch das Büro von UN-Sondervermittler Staffan de Mistura ist in die Gespräche eingebunden.

Pater Michel hat nur wenig Zeit für ein Gespräch, die Arbeit im Komitee beansprucht seine ganze Zeit. Nur wenige Leute in Al-Waer seien Extremisten, sagt er, nur etwa zehn Prozent der fast eine halbe Million Einwohner. »Alle warten auf eine politische Lösung, aber mit der Kalaschnikow, wie soll das gehen?« Die Armee halte sich zurück, sagt er. »Wenn sie wollten, könnten sie den Vorort in einem Tag einnehmen - das gäbe ein Blutbad, viel Zerstörung, auch in den Herzen.« Die Regierung versuche, eine politische Lösung zu finden, doch nicht alle seien einverstanden. »Es gibt eine Strömung - und die ist sehr stark -, die will die Sache mit Gewalt zu Ende bringen. Dann gibt es Händler, Geschäftsleute innerhalb von Al-Waer und außerhalb, die verdienen an der Situation, wie sie ist. Und die armen Leute bezahlen: mit Blut, mit ihren Wohnungen und mit dem, was sie für ihre Lebensmittel bezahlen.«

Mit der Situation in der Altstadt von Homs, die zwei Jahre belagert war, sei die Lage in Al-Waer kaum vergleichbar, sagt Pater Michel. In der Altstadt seien zum Schluss kaum noch Zivilisten gewesen, das sei in Al-Waer anders. »Dort leben vielleicht noch 150.000 Menschen, die durch zwei Kontrollpunkte kommen und gehen können. Und es gibt bis zu 5.000 Kämpfer.« In der Altstadt von Homs hätten die bewaffneten Gruppen schließlich einen Rat gebildet, der bei den Verhandlungen mit Armee und Regierung Ansprechpartner gewesen sei. »In Al-Waer haben wir 18 Gruppen!« Darunter die Al-Nusra-Front, die jede bisherige Vereinbarung torpediert habe.

Am vergangenen Wochenende schlug in Al-Waer eine Mörsergranate in der Moschee ein. Unweit davon liegt ein Waisenhaus; die 60 dort lebenden Kinder mit Lehrern und Betreuern verließen fluchtartig das Gebäude. Es sei zur Zeit einer Unterrichtspause in ihrer Schule gewesen, erzählt der 12jährige Mahmud. Erst hätten sie sich alle im Speiseraum versammelt, dann hätten die Betreuer zwei Busse organisiert, mit denen sie aus der Stadt herausgebracht worden seien. Ihre Schulbücher hätten sie mitnehmen können, erzählt ein anderer Junge. Doch ihre persönlichen Dinge hätten sie zurücklassen müssen.

Die erste Nacht nach ihrer Flucht übernachteten die Kinder in der Al-Andalus-Schule, wo seit den Kämpfen in der Altstadt von Homs ein Auffangzentrum für Kriegsflüchtlinge eingerichtet wurde. Dann wurden die Kinder in einem Hotel untergebracht. Zusätzlich zu den großen Betten haben Helfer Matratzen und Decken ausgelegt. Jedes von ihnen soll einen Platz zum Schlafen haben, sagt Budour Jandalie, die Direktorin des Waisenhauses. In zwei, drei Tagen werde man die Kinder in ein anderes Gebäude bringen, wo sie sicher seien.

Am frühen Abend ist Homs verwaist. Wer ein Zuhause hat, hat es schon am späten Nachmittag aufgesucht, im Winter wird es früh dunkel. In der Altstadt, wo es Strom, aber nur wenige Bewohner gibt, treffen Freunde sich in ihren Wohnungen zu einem Kaffee oder einer Wasserpfeife. Gespenstisch ruhig liegen die engen Straßen in der Dunkelheit. Ab und zu flackert ein Feuer an einem Kontrollpunkt der Armee. Im Westen, wo Al-Waer liegt, röhren dumpfe Schusswechsel durch die Nacht. Nach einer halben Stunde ist alles wieder still. Als hätten die verfeindeten Seiten sich vergewissern wollen, dass der andere noch da ist.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 19. November 2014


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