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184.665 menschliche Schicksale

Zahl der Flüchtlinge aus Syrien gestiegen / UN-Generalsekretär lehnt Militäreinsatz gegen Schleuser ab / Datenbank zu toten Migranten im Mittelmeer veröffentlicht *


Update 15.00 Uhr: Im vergangenen Jahr haben die EU-Staaten laut Statistik 184.665 Menschen Asyl gewährt. Die meisten von ihnen, mehr als 68.000, kamen aus dem Bürgerkriegsland Syrien, wie das EU-Statistikamt Eurostat am Dienstag in Luxemburg mitteilte. Die Zahlen beziehen sich auf 27 EU-Staaten, für Österreich standen keine Daten zur Verfügung.

Die Zahl der Syrer habe sich gegenüber 2013 nahezu verdoppelt und gegenüber 2012 vervierfacht, erläuterte das Statistikamt. Der Bürgerkrieg in Syrien hat bereits Millionen Menschen außer Landes getrieben - die allermeisten von ihnen kamen in den unmittelbaren Nachbarländern wie dem Libanon unter. Weitere große Gruppen, die in der EU im vergangenen Jahr offiziell Asyl fanden, waren laut Eurostat Menschen aus Eritrea (14.600) und Afghanistan (14.100).

Unter den Aufnahmeländern war Deutschland als bevölkerungsreichstes EU-Land auch dasjenige, das mit gut 47.555 Menschen den meisten Zuflucht Suchenden absolut gesehen Asyl zubilligte. In Schweden wurden rund 33.000 Asylanträge positiv beschieden, in Frankreich und Italien jeweils knapp 21.000.

Der Status, der den 185.000 Menschen zuerkannt wurde, ist nicht einheitlich. Den meisten wurde bescheinigt, dass sie Flüchtlinge sind, dies ist der höchste Schutzstatus. Einer weiteren Gruppe von ihnen wurde ein sogenannter subsidiärer Schutzstatus zuerkannt, weil auch sie bei einer Rückkehr in ihr Land Schaden erleiden könnten.

Die dritte Gruppe erhielt eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Dies können zum Beispiel Kranke oder unbegleitete Minderjährige sein, die weder Flüchtlinge sind noch subsidiären Schutz erhalten.

Update 13.00 Uhr: Seit der strengeren Überwachung der EU-Außengrenzen in Südeuropa sind nach einer Studie deutlich mehr Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Das geht aus der ersten Datenbank zu toten Migranten im Mittelmeerraum hervor, die am Dienstag in Amsterdam präsentiert wurde. Die weitaus meisten Opfer werden jedoch nie gefunden. Von 1990 bis 2013 wurden 3188 Tote registriert. Zum Vergleich: Allein bei der jüngsten Schiffs-Katastrophe im April starben nach Angaben von Hilfsorganisationen rund 800 Menschen, 24 wurden geborgen.

Seit dem Jahr 2000 wurden im Schnitt jährlich doppelt so viele Tote an den Küstenorten gefunden, als noch in den 90er Jahren. »Das kann ein Nebeneffekt der europäischen Politik sein«, erklärte der Leiter des Forschungsprojekts, Professor Thomas Spijkerboer, bei der Vorstellung der Studie in Den Haag. Der Flüchtlingsstrom nahm nach der Analyse durch strengere Überwachungsmaßnahmen nicht ab, sondern verlagerte sich nur. »Flüchtlinge nehmen gefährlichere Routen und noch unsichere Boote.«

Forscher der Freien Universität Amsterdam hatten Daten der Sterberegister von 563 Orten in Italien, Griechenland, Spanien, Malta und Gibraltar aus den Jahren 1990 bis 2013 ausgewertet. Die meisten Opfer waren Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren und stammten aus Afrika. Nur rund 40 Prozent konnten identifiziert werden.

Die Daten zeigten, dass das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer bereits seit 25 Jahren andauert, sagte der Professor. »Europäische Politiker haben weggeschaut.« Erst durch die Aufmerksamkeit der Medien würden die Boote jetzt gesehen. Er plädierte für die Einführung eines zentralen Registers von Toten und Vermissten, als Basis für die europäische Flüchtlingspolitik. Bisher werde die Politik von einzelnen Katastrophen, aber nicht von Fakten, bestimmt. UN-Generalsekretär lehnt Militäreinsatz gegen Schleuser ab

New York. Nach den jüngsten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vor dem UN-Sicherheitsrat für ein Mandat für einen robusten Militäreinsatz gegen Schleuser geworben. »Unsere oberste Priorität ist es, Leben zu retten und weitere Verluste von Leben auf dem Meer zu verhindern«, sagte Mogherini am Montag in New York. Nach den Beratungen äußerte sie sich zuversichtlich über eine entsprechende UN-Resolution.

Allerdings stoßen die Pläne auch auf breite Skepsis und Ablehnung an oberster Stelle. So ist UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nicht davon überzeugt, dass die Bekämpfung von Schleusern Entspannung in der Flüchtlingsfrage bringen könnten. Er warnt davor, dass die Angriffe auf vermeintliche Schleuserboote auch Fischer vor der libyschen Küste treffen könnte, denen durch die permanente Gefahr einer Verwechslung die Lebensgrundlage entzogen werden könnte. Möglicherweise würden die Fischer dadurch gezwungen, noch enger mit den Schleusern zu kooperieren.

Ähnlich sieht dies der Bürgermeister von Tripolis, Mahdi al Harati: »Selbst wenn sie nur auf die Boote zielen, was wird das lösen? Die Schmuggler werden ihr Geschäft woanders hin verlagern«, sagte der libysche Politiker der »Malta Times.«

Amnesty International warnt eindringlich davor, den Flüchtlingen diesen letzten Weg zu verbauen. Viele von Ihnen seien in Libyen von Verfolgung, Mißhandlungen und Tod bedroht, erklärte Philip Luther, Amnesty-Direktor für den Mittleren Osten und Nordafrika. Anstatt die Schleuser zu bekämpfen, müssten mehr legale Wege nach Europa geschaffen werden.

Das Geschäft mit dem Leid der Flüchtlinge sei »nicht nur ein humanitärer Notstand, sondern auch eine sicherheitspolitische Krise«, sagte dagegen Mogherini. Die Schleuserbanden hätten Verbindungen zu Extremistengruppen und würden »terroristische Aktivitäten« finanzieren. Um der Flüchtlingskrise zu begegnen, sei die EU auf eine Partnerschaft mit den Vereinten Nationen angewiesen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten bei einem Krisengipfel unter anderem die Zerstörung von Schleuserbooten beschlossen, nachdem Mitte April mehr als 750 Flüchtlinge vor der libyschen Küste ertranken. Ein Militäreinsatz gegen Schleuser ist aber aus rechtlichen Gründen schwierig. Ohne ein Mandat der Vereinten Nationen dürfte die EU nicht in libyschen Hoheitsgewässern operieren.

Seit Jahresbeginn sind bereits mehr als 1800 Flüchtlinge bei der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Mogherini sagte vor dem Sicherheitsrat, diese »beispiellose Situation« erfordere eine »außergewöhnliche Antwort«.

Unter Federführung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder Großbritannien und Frankreich arbeiten mehrere EU-Staaten an einem Resolutionsentwurf, der »alle notwendigen Mittel« gegen Schleuserboote legitimieren würde. Er könnte bereits in den kommenden Tagen fertiggestellt werden. Die UN-Vetomacht Russland ist allerdings gegen einen Einsatz zur Zerstörung von Booten. Auf die russische Regierung müsse noch eingewirkt werden, hieß es aus Diplomatenkreisen.

Nach Gesprächen mit dem UN-Sicherheitsrat hinter verschlossenen Türen zeigte sich Mogherini aber zuversichtlich. Keiner der 15 Mitgliedstaaten sei »grundsätzlich dagegen zu handeln, um Leben zu retten und kriminelle Organisationen zu zerschlagen«, sagte die EU-Außenbeauftragte. Auf die Einwände Russlands angesprochen sagte sie: »Entscheidend ist sicherzustellen, dass die Schiffe nicht erneut verwendet werden können.« Das EU-Vorhaben stößt auch in Afrika auf Skepsis.

Den Libyern sicherte Mogherini zu, dass nichts gegen ihren Willen geschehen werde. Die bisherigen Stellungnahmen der libyschen Behörden zu den EU-Plänen seien »konstruktiv« gewesen. Aus Libyen tritt ein Großteil der Flüchtlinge die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa an.

Unterstützung für das EU-Vorhaben kam von der NATO, die sich allerdings nicht an dem Einsatz beteiligen will. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte am Montag, dass die EU »eine umfassendere Antwort auf diese Tragödie geben« wolle.

Die Parlamentspräsidenten der Mittelmeerunion riefen ihre Regierungen und die EU derweil auf, mehr »humanitäre Visa« für Flüchtlinge auszustellen und die Seenotrettung auf dem Mittelmeer zu verstärken.

Am Mittwoch will EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen Aktionsplan zur Einwanderung vorstellen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon will am 26. Mai vor dem EU-Parlament sprechen. Er fordert von der EU mehr legale Einreisemöglichkeiten und warnt die Staatengemeinschaft davor, vornehmlich auf einen Militäreinsatz gegen Schleuser zu setzen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag (online), 12. Mai 2015


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