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Kein Platz für syrische Flüchtlinge

50 000 Anmeldungen für ein zugesagtes Kontingent von 10 000 / Erst 3700 wurden aufgenommen

Von Uwe Kalbe *

10 000 syrische Flüchtlinge ist Deutschland bereit, in einem Sonderkontingent aufzunehmen. Mehr als 50 000 Anmeldungen liegen einer Umfrage von dpa zufolge vor.

Die Bundesregierung ist um moralisierende Bewertungen nicht verlegen, wenn es um den Konflikt in Syrien geht, der seit nunmehr drei Jahren anhält. Gern wird über angemessene Reaktionen debattiert, darüber etwa, wie man auf die Konfliktparteien Einfluss nehmen könne, seltener auch über die Möglichkeiten von Hilfslieferungen. Die Aufnahme von Flüchtlingen verursacht hierzulande hingegen heftige Allergiereaktionen.

Zu Beginn des Aufstandes gegen das Regime von Baschar al-Assad lebten in Deutschland 30 000 Syrer. Inzwischen hat sich ihre Zahl nahezu verdoppelt. Wer es schaffte, floh zu Angehörigen, die bereits hier leben. Lange dauerte es, bis sich die Bundesregierung zu einem Abschiebestopp nach Syrien durchrang; dieser ist im September 2013 um ein halbes Jahr verlängert worden und muss nun bald erneut verhandelt werden. Im Angesicht wachsender Flüchtlingszahlen erklärte sich die Bundesregierung im letzten Jahr schließlich zu einer Aufnahme von zusätzlich 5000 syrischen Flüchtlingen bereit, im Dezember verdoppelte sie die Zusage. Die Flüchtlinge sollen auf die 16 Bundesländer entsprechend der Ländergröße verteilt werden; dies hat zunächst einen großen bürokratischen Aufwand zur Folge.

Schätzungsweise neun Millionen Menschen sind auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien, 6,5 davon in Syrien selbst. Die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl machte darauf aufmerksam, dass die Nachbarländer Syriens Tag für Tag jene Zahl von Flüchtlingen bewältigen müssen, die Deutschland für sich als Aufnahmekontingent über ein ganzes Jahr für zumutbar hält.

Dass diese dem realen Bedarf nicht im Mindesten entspricht, ergab eine Umfrage der Nachrichtenagentur dpa in den Bundesländern. Dieser zufolge liegen für die im Dezember zugestandenen zusätzlichen 5000 Aufnahmeplätze nach Ablauf der Meldefrist mindestens zehnmal so viele Anmeldungen vor – mehr als 50 000 nämlich.

Allein in Nordrhein-Westfalen meldeten sich dpa zufolge bis zum Ende der Frist am 28. Februar rund 26 000 Syrer, die Verwandte aus dem Bürgerkriegsgebiet aufnehmen möchten. In Niedersachsen seien es mehr als 10 000. In Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Bremen liegen nach Angaben der zuständigen Behörden jeweils rund 1000 Anfragen vor, in Bayern sind es 1700.

In Baden-Württemberg gebe es für 1300 Plätze mehr als 4000 Interessenten, berichtet dpa. In Hessen lägen mit etwa 5000 Anmeldungen sogar knapp 20 Mal so viele Bewerber vor wie freie Plätze vorhanden sind. Ein Sprecher des Thüringer Innenministeriums wird mit der nicht sehr präzisen Mitteilung zitiert, die Plätze seien »vielfach überzeichnet«.

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius kritisierte: »Auch das zweite 5000er-Aufnahmeprogramm des Bundes ist leider völlig unzureichend.« Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) hatte seinen Ministerkollegen Anfang Dezember vorgeschlagen, das Flüchtlingskontingent auf 20 000 zu erhöhen. Heraus kamen jene 5000 Plätze.

Neumanns Vorschlag kollidiert allerdings auffallend mit der eigenen Hamburger Senatspolitik gegenüber den Flüchtlingen in der Hansestadt. Rund 1500 Menschen gingen dort am Wochenende auf die Straße, um ein Bleiberecht für die Flüchtlingsgruppe »Lampedusa in Hamburg« zu fordern. Die selbstbewusste Gruppe libyscher Flüchtlinge und ihre Unterstützer in Deutschland sehen sich einer von Ablehnung motivierten Bürokratie ausgesetzt. Der Senat spricht sich gegen eine Gruppenlösung aus und will jeden Einzelfall nach dem Asylrecht prüfen.

Im Fall der syrischen Flüchtlinge hat dieses bürokratische Herangehen dazu geführt, dass von den zugesagten 10 000 Aufnahmeplätzen bisher gerade mal 3700 in Anspruch genommen werden konnten.

* Aus: neues deutschland, Montag, 3. März 2914


»Gekommen, um zu bleiben«

Hamburg: 7000 forderten Bleiberecht für Lampedusa-Flüchtlinge. Friedliche »kulturell-politische Parade« mit Agitproptheater und Choreinlagen

Von Martin Dolzer **


Rund 7000 Menschen haben am Sonnabend in Hamburg für ein Bleiberecht der libyschen Kriegsflüchtlinge der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« demonstriert. Die Kundgebung war als »kulturell-politische Parade« angekündigt. Eine riesige Krake in EU-Farben fuhr auf einem Pkw inmitten der Teilnehmer. Aktivisten trugen ein Schlauchboot, weitere hatten sich kostümiert und wiesen mit Kurztheaterstücken und Chorgesängen auf die Hintergründe von Flucht und die Abschottungspolitik Europas hin.

»Wir sind nicht freiwillig und auch nicht zufällig hier.« Europa habe »dazu beigetragen, daß unsere Heimatländer in Afrika über Jahrhunderte destabilisiert und zerstört wurden. Der NATO-Krieg in Libyen ließ uns schließlich keine andere Chance, als über das Mittelmeer zu fliehen«, sagte Ali Ahmet, ein Sprecher der Lampedusa-Gruppe, auf der Auftaktkundgebung. Es sei das Recht der Flüchtlinge, auf der Grundlage des Paragraphen 23 des Aufenthaltsgesetzes in Deutschland zu bleiben. Die Politiker der EU und der Stadt Hamburg dürften die Situation von insgesamt 65000 libyschen Kriegsflüchtlingen nicht weiter ignorieren, so Ahmet. Die desolate Lage der Gruppe nach drei Jahren Flucht ohne Arbeitsmöglichkeit und Perspektive wirke sich auch negativ auf die Situation der Familien in den Heimatländern aus. Ahmet dankte allen, die Hilfe leisten. Niemand außer den Flüchtlingen selbst habe jedoch das Recht, im Namen der Gruppe zu sprechen, wie das in den letzten Monaten einzelne Vertreter aus der evangelischen Kirche versucht hätten.

Steffi Wittenberg, Überlebende der Verfolgung durch das Naziregime und aktiv in der VVN–BdA, verdeutlichte, wie wichtig es ist, auf der Flucht vor Verfolgung, Krieg, Folter und Tod Schutz zu finden. »Wir müssen uns für das Verhalten des Hamburger Senates schämen«, so Wittenberg. Eine Sprecherin des Kurdischen Frauenrates beschrieb die Auswirkungen und das Ausmaß neokolonialistischer Politik: »In vielen Ländern Afrikas und im Mittleren Osten herrscht Krieg, werden Menschen massakriert. Al-Qaida-Gruppen haben nach der Zerstörung Libyens Militärbasen, Trainingslager und Waffendepots eingerichtet. Von da aus gehen sie in weitere Länder Afrikas und über die Türkei nach Syrien.«

Vor dem Hamburger Rathaus wandte sich der Schauspieler Rolf Becker direkt an Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD). Auch Papst Franziskus habe einen menschlichen Umgang mit Flüchtlingen gefordert. Wer Menschen in Not nicht helfe und sich an einer Politik beteilige, die sie in Sklaverei, Prostitution, Ausbeutung und Krieg treibe, mache sich mitschuldig, sagte Becker: »Der Hamburger Senat befürchtet offensichtlich, daß er rechte Wechselwähler und die Macht an die CDU verliert, wenn er das einzig Richtige tut und den Lampedusa-Flüchtlingen ein Bleiberecht und ein damit verbundenes Arbeitsrecht gewährt.«

Zum Abschluß traten Hip-Hop-Acts auf dem Dach eines Lkws auf und thematisierten die Ausgrenzung von Migranten in Flüchtlingslagern und die militaristische Politik der Bundesregierung. Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bürgerschaft, und Peter Bremme von der Gewerkschaft ver.di betonten, daß die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« mit ihrem ein Jahr andauernden, selbstbestimmten Agieren Bereicherung und politisches Vorbild sei. Ralf Lourenco von der »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen« erklärte: »Libyen wurde angegriffen, um zu verhindern, daß Afrika sich aus kolonialistischer Umklammerung lösen kann.« Er lobte das Engagement der Hamburger Schüler, die kürzlich einen Tag für die Rechte der Flüchtlinge gestreikt haben und sich weiter an den Aktionen für ihr Bleiberecht beteiligen.

** Aus: junge Welt, Montag, 3. März 2914


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