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Angriff mit Chlorgas

Syrische Regierung und ihre Gegner werfen sich gegenseitig Chemiewaffeneinsatz vor. Kriegsgeschehen betrifft die gesamte Region

Von Karin Leukefeld *

In Syrien ist es offenbar zu einem neuen Angriff mit chemischen Substanzen gekommen. Das syrische Fernsehen berichtete, daß bei einer Attacke auf das Dorf Kafar Sita in der Provinz Hama am vergangenen Freitag augenscheinlich Chlorgas eingesetzt worden sei. Kämpfer der Al-Nusra-Front seien für den Überfall verantwortlich, bei dem mindestens zwei Personen getötet und mehr als 100 verletzt worden waren. Die oppositionelle »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« berichtete dagegen, daß die syrische Luftwaffe den Ort angegriffen hätte. Die dabei eingesetzten »Faßbomben« hätten »dichten Rauch und Geruch entwickelt, das führte zu Fällen von Vergiftung und Erstickung«, erklärte Rami Abdelrahman, der die Beobachtungsstelle in London betreibt. Anfang April war unter Aufsicht der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) die zwölfte Ladung syrischer C-Waffen aus dem Land abtransportiert worden. Zwei Wochen lang war der Transport gestoppt worden, nachdem Kampfverbände mehrmals entsprechende Lager in Syrien angegriffen hatten.

Obwohl Kämpfer um Damaskus, Homs und Idlib lokalen Waffenstillständen zugestimmt haben, kommt Syrien nicht zur Ruhe. Am Mittwoch vergangener Woche waren bei der Explosion von zwei Autobomben in Karm Al-Louz, einem Stadtteil von Homs, 25 Menschen getötet und mehr als 100 Personen teilweise schwer verletzt worden. Am Sonntag wurde dort das Klinikum, in dem viele der Opfer behandelt werden, mit einer Mörsergranate beschossen. In der Provinzhauptstadt Idlib starben am Samstag zwei Personen, als bewaffnete Gruppen ein Stadtviertel mit Raketen beschossen, 22 Personen wurden verletzt. Bei Mörsergranatenbeschuß in Damaskus starb am Sonntag ein Kind, 22 Personen wurden verletzt.

Die Angriffe gehen von Gruppen aus, die vor allem aus Jordanien und der Türkei nach Syrien eindringen, was die regionale Dimension des Krieges deutlich macht. Söldnerverbände, die unter der Fahne des politischen Islam und der Al-Qaida aus der Türkei in den Norden Syriens einmarschieren, haben ihre Attacken auf die Provinz Lattakia forciert. Auch die Rojava genannten Gebiete entlang der Grenze zur Türkei, die syrische Kurden in einer Art Selbstverwaltung sichern, werden nahezu täglich von diesen Kampfverbänden angegriffen.

Eine andere Front dieses von der Beiruter Zeitung Al-Safi so bezeichneten »regionalen Krieges« entwickelt sich im Süden an der Grenze zu Jordanien. Im Norden dieses Nachbarlandes kommandiert der syrische Kriegsfürst Baschar Al-Zoabi seine Yarmuk-Brigade und andere Kampfverbände der »Südfront«. Dabei kooperiert der ehemalige syrische Brigadegeneral der Luftwaffe mit einer US-amerikanisch-arabischen »Einsatzzentrale« in Amman. Al-Zoabi bezeichnete kürzlich im Gespräch mit einem Reporter der New York Times die Frontlage als »gut«. Kampfverbände, die aus Jordanien nach Syrien eindringen wollten, könnten das mit Genehmigung des jordanischen Geheimdienstes in bestimmten Zeitfenstern tun. Wenn sie Waffen bräuchten, gäben die Kämpfer ihre Bestellung in der »Einsatzzentrale in Amman« ab, wo Agenten aus Jordanien, Saudi-Arabien und den USA die Anfrage bearbeiteten. Dort holen die Kämpfer auch ihre Gehälter ab, die Al-Zoabi allerdings nicht für ausreichend hält. Was man bekomme, sei »gerade genug, um uns am Leben zu halten«, beklagte er sich, die USA vermittelten den Kämpfern »nur die Illusion von Hilfe«. Während im Norden Jordaniens die Existenz einer Einsatzzentrale ein offenes Geheimnis ist, dementieren alle daran beteiligten Staaten diese.

Auch Israel hat inzwischen eine aktive Rolle in dem »regionalen Krieg« um Syrien übernommen. Kämpfer, die bei ihrem Vormarsch und Angriffen auf syrische Orte in der entmilitarisierten Zone auf dem Golan durch syrisches Eingreifen verletzt werden, werden in israelischen Krankenhäusern auf dem besetzten Golan versorgt. Die UN-Truppe UNDOF, die die entmilitarisierte Zone dort seit 1973 kontrolliert, schweigt ebenfalls zu Bewegungen dieser Gruppen aus Jordanien.

* Aus: junge Welt, Montag, 14. April 2014


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