Die Chemiewaffenlüge
Der US-Journalist Seymour Hersh hat Washingtons Syrien-Politik untersucht
Von Karin Leukefeld *
Warum hat Barack Obama Ende August 2013 in letzter Minute den Angriff auf Syrien abgeblasen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh in einem exklusiven Artikel für die aktuelle Ausgabe der renommierten London Review of Books.
Unter dem Titel »Die Rote Linie und die Rattenlinie« geht Hersh ausführlich auf die Hintergründe der Politik Washingtons gegenüber Syrien ein und fügt dabei Informationen, die seit 2011 vereinzelt berichtet worden waren, zu einem neuen Bild zusammen. Sichtbar werden deutliche Differenzen zwischen der politischen Führung und den Geheimdiensten der USA, die Rolle der CIA und des britischen MI6 bei der Organisation der »Rattenlinie«, wie die Geheimdienste den Waffenschmuggel an Kampfverbände in Syrien nennen. Das Engagement der Türkei gegen Syrien rückt das Handeln der NATO insgesamt in ein neues Licht.
Die »rote Linie«, die Syrien nicht überschreiten dürfe, wenn es ein Eingreifen der US-Streitkräfte vermeiden wollte, war von US-Präsident Barack Obama 2012 verkündet worden. Die Aussage bezog sich auf den chemischen Waffenbestand Syriens. Im März 2013 hatte die syrische Regierung tatsächlich dem UN-Sicherheitsrat einen Giftgasangriff auf den kleinen Ort Khan Al-Azzal (Provinz Aleppo) und weitere Angriffe gemeldet. Damaskus forderte eine umgehende internationale Untersuchung, der der Sicherheitsrat zustimmte. Die Umsetzung der Untersuchungsmission wurde durch politische Manöver Großbritanniens und Frankreichs verschleppt. Über die Vorfälle legte sich ein Mantel des Schweigens.
Seymour Hersh beschreibt nun, daß tatsächlich eine Sondermission der Vereinten Nationen die Angriffe damals untersucht habe. Er zitiert »eine Person mit internen Kenntnissen über die UN-Aktivitäten in Syrien«, wonach es »Beweise gab, die die syrische Opposition mit den ersten Gasangriffen am 19. März (2013) in Khan Al-Azzal, in Verbindung« gebracht hätten. In einem Bericht habe die UN-Mission festgehalten, daß »mindestens 19 Zivilisten und ein syrischer Soldat« getötet worden waren, es habe Dutzende Verletzte gegeben. Die Sondermission der UN habe »kein Mandat gehabt, die Verantwortung für den Angriff (einer Partei) zuzuschreiben, doch die Person (…) sagte: ›Es war eindeutig, daß die Rebellen das Gas benutzt hatten‹.« Diese Information sei nicht an die Öffentlichkeit gelangt, »weil keiner es wissen wollte«, zitiert Hersh seine Quelle.
Bereits vor den Angriffen (März, April 2013) habe der US-amerikanische Militärische Geheimdienst (Defense Intelligence Agency, DIA) täglich einen nichtöffentlichen Bericht erstellt, berichtet Hersh weiter unter Berufung auf einen ehemaligen Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums. Der als »SYRUP« bekannte Bericht habe alle Informationen über den Konflikt in Syrien zusammengefaßt, auch über die chemischen Waffen. Nach den Angriffen im Frühling 2013 sei der Bericht – auf Anweisung des Weißen Hauses – plötzlich für den Bereich der Chemiewaffen in massiv gekürzter Form erschienen. Zu dem Zeitpunkt sei der US-Generalsstab bereits mit »Aufmarschplänen für eine mögliche Bodeninvasion in Syrien« beschäftigt gewesen, zur »Vernichtung der chemischen Waffen«.
Der britische und US-amerikanische Geheimdienst sei allerdings schon damals darüber informiert gewesen, daß »einige Rebelleneinheiten in Syrien chemische Waffen entwickelten«, schreibt Hersh weiter. Die DIA habe Ende Juni dem stellvertretenden DIA – Direktor David Shedd ein »streng vertrauliches Fünf-Seiten-Papier« vorgelegt, in dem es heißt, daß die Al-Nusra-Front eine Einheit zur Produktion von Saringas habe. Unterstützt werde die Nusra-Front dabei von »Chemiehändlern in der Türkei und Saudi-Arabien«, so das Papier. Im Mai 2013 war in der Türkei eine Gruppe von Nusra-Kämpfern festgenommen worden, die zwei Kilogramm Sarin bei sich trugen. Im Laufe der Ermittlungen wurden alle Festgenommenen freigelassen, offiziell sollen die Männer »Entfrostungsmittel« bei sich getragen haben. Tatsächlich hatte die Gruppe durch Mittelsmänner die Zusatzstoffe für Sarin in Bagdad kaufen können, heißt es in dem DIA-Papier. Ein Sprecher des Direktors des Nationalen US-Geheimdienstes dementierte auf Anfrage von Hersh die Existenz des Papiers.
Als es am 21. August zu dem Einsatz chemischer Waffen in verschiedenen, zu dem Zeitpunkt heftig umkämpften Vororten von Damaskus kam, war für US-Präsident Barack Obama – unter massivem medialen und politischen Druck – die »rote Linie« überschritten. Er ordnete einen »Monsterangriff« an, zitiert Hersh den ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiter: zwei B-52-Bomber sollten 2000 Pfund schwere Bomben abwerfen, Tomahawk-Raketen sollten von US-U-Booten und -Kriegsschiffen abgefeuert werden. Der Angriff sollte »alle militärischen Fähigkeiten« der syrischen Armee »ausradieren«. Aufgelistet waren »die Stromversorgung, Öl- und Gasdepots, alle bekannten logistischen und Waffendepots, alle bekannten Kommando- und Kontrollstellen, alle bekannten militärischen und Geheimdienstgebäude«, so Hersh. Französische und britische Kampfjets und U-Boote brachten sich in Stellung.
Doch zwei Tage vor dem geplanten Angriff am 2. September machte Obama den Rückzieher. Sein Sinneswandel erfolgte, nachdem der britische Geheimdienst Proben des Sarins analysiert hatte, das am 21. August bei Damaskus eingesetzt worden war. Die Proben waren den Briten von russischen Experten übergeben worden, im Rahmen der Konvention zur Verhütung der Verbreitung von Chemiewaffen, schreibt Hersh. Die Analyse der Briten hatte erbracht, daß das Sarin nicht mit dem Gas übereinstimmte, über das die syrischen Streitkräfte verfügten. »Die DIA kannte die Zusammensetzung der in der Sowjetunion hergestellten chemischen Waffen«, so der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter. »Wenige Tage nach dem Vorfall in Damaskus baten wir eine Quelle in der syrischen Regierung, uns eine Liste der aktuellen Zusammenstellung (der chemischen Waffen, KL) zu geben. Darum konnten wir den Unterschied so schnell bestätigen«. Ein hochrangiger CIA-Beamter faßte daraufhin seine Warnung in knappen Worten zusammen: Der Angriff sei »nicht Ergebnis des derzeitigen Regimes. GB und USA wissen das«. US-Generalstabschef Dempsey warnte das Weiße Haus vor einer »ungerechtfertigten Aggression«. Präsident Obama erklärte daraufhin, er suche die Zustimmung des Kongresses zu dem Angriff, die bekanntlich nicht zu erwarten war.
US-Geheimdienstmitarbeiter sind mittlerweile überzeugt, daß die türkische Regierung hinter den Angriffen bei Damaskus stecken dürfte. Man wisse, daß Präsident Erdogan die Nusra-Front und andere islamistische Gruppen unterstütze, so der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter, der sein Wissen über diesen und andere Vorfälle mit Seymour Hersh teilte. »Einige in der türkischen Regierung meinten«, Assad stürzen zu können, indem sie »einen kleinen Sarinangriff in Syrien durchführen, um Obama zu zwingen, seine Drohung von der roten Linie wahr zu machen«.
Die Regierungen der Türkei und der USA haben den Zeitungsbericht von Seymour Hersh erwartungsgemäß dementiert.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. April 2014
Der Link zum Artikel von Hersh:
The Red Line and the Rat Line
Seymour M. Hersh on Obama, Erdoğan and the Syrian rebels. In London Review of Books, Vol. 36 No.8 - 17 April 2014, pages 21-24
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