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Keine Angst vor Al-Qaida

Anführer der islamistischen Al-Nusra-Front erklärt in Interview, den Westen nicht angreifen zu wollen. Ziel sei Sturz der syrischen Regierung

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die syrischen Streitkräfte haben am Donnerstag den nordsyrischen Ort Ariha in der Provinz Idlib verlassen. Die Armee teilte mit, die Truppen hätten sich »nach heftigen Kämpfen mit einer großen Zahl von Terroristen der Al-Nusra-Front auf die Verteidigungslinien vor der Stadt zurückgezogen«. Auf anderen Kampfschauplätzen in der Region um Idlib seien »Terroristenstützpunkte und deren Fahrzeuge zerstört« und viele Islamisten getötet worden.

Nach Darstellung dschihadistischer Kampfverbände steht die an die Türkei grenzende Provinz nun weitgehend unter deren Kontrolle. Seit März haben Tausende von Islamisten, die sich unter Führung der Al-Nusra-Front zur »Armee der Eroberung« zusammengeschlossen haben, mit Unterstützung der türkischen Armee, Saudi-Arabiens und der Golfstaaten Idlib förmlich überrannt.

Der Anführer der Al-Nusra-Front, Abu Mohammed Al-Scholani, hatte am Mittwoch dem katarischen Fernsehsender Al-Dschasira ein Interview gegeben. Darin versichert er dem Westen, dieser brauche keine Angst vor Al-Qaida zu haben. Er und seine Kämpfer seien »angewiesen worden«, Syrien nicht für Angriffe auf den Westen zu nutzen, und daran werde man sich halten. Der Mann, dessen Kopf mit einem schwarzen Tuch unkenntlich gemacht worden war, saß in einem goldverzierten Sessel an einem Tisch mit der Fahne der »Al-Qaida in der Levante«. Nach Angaben des Reporters wurde das Gespräch aus den »befreiten Gebieten Syriens« gesendet. Ein zweiter Teil soll folgen.

Ziel der Al-Nusra-Front und ihrer Verbündeten sei es, Damaskus einzunehmen und »das Regime und seine Verbündeten« zu stürzen, führte der Mann in dem einstündigen Interview aus. »Wir erfüllen hier nur unseren Auftrag, das Regime und seine Agenten im Land zu bekämpfen, einschließlich Hisbollah«, sagte er. »Wenn die Alawiten sich von ihrer Religion lossagen und Baschar Al-Assad verlassen, werden wir sie schützen.« Christen hätten von ihnen nichts zu befürchten, müssten aber eine Kopfsteuer bezahlen.

Ein Bewohner der von den Islamisten belagerten Ortschaft Al-Fouah nördlich von Idlib, äußerte sich gegenüber junge Welt besorgt über die Entwicklung. In den vergangenen Tagen hatte der 32jährige schiitische Muslim, der anonym bleiben möchte, wiederholt die aktuelle Lage in dem Ort gegenüber jW beschrieben. »Haben Sie gehört, was Al-Scholani gesagt hat? Die Lage für uns ist sehr schlecht, die Menschen haben Angst.«

Die in London ansässige Quilliam-Stiftung kritisierte, dass Al-Dschasira der Al-Nusra-Front eine prominente Plattform gebe. »Das ist Teil eines Normalisierungsprozesses, den Al-Qaida in Syrien seit langem anstrebt«, sagte Charlie Winter dem Internetprotal Middle East Online.

Al-Qaida wolle vermitteln, »die Al-Nusra-Front sind die Moderaten«. Im Westen neige man dazu zu vergessen, dass Al-Scholani ursprünglich vom »Islamischen Staat im Irak« komme, der sich heute »Islamischer Staat« (IS) nenne.

Die scheidende UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe in Syrien, Valerie Amos, hatte am Donnerstag dem UN-Sicherheitsrat in New York ihren Abschlussbericht vorgelegt. Die Weltmächte müssten handeln, um den Krieg zu beenden, erklärte Amos. 12,2 Millionen Menschen seien auf Hilfe angewiesen, mehr als die Hälfte der 23 Millionen Einwohner des Landes.

Der syrische UN-Botschafter Baschar Al-Schaafari erklärte in der gleichen Sitzung, dass die Krise in Syrien ende, wenn die Unterstützung für die »ausländischen terroristischen Kämpfer« gestoppt werde. Es gäbe keine »moderate bewaffnete Opposition«, wie der Westen behaupte, sagte der Botschafter. Außerdem wiese der UN-Bericht Lücken auf, die Angaben der syrischen Regierung seien unberücksichtigt geblieben. Die Rolle der Türkei werde nicht erwähnt, die Tausenden Kämpfern den Übertritt nach Syrien ermöglicht und Waffenlieferungen organisiert habe.

Ebenfalls am Donnerstag hat die Europäische Union ihre Sanktionen gegen Syrien um ein weiteres Jahr verlängert. Diese umfassen Reiseverbote und Kontensperrungen für 200 Personen, das Verbot der Ein- und Ausfuhr von Waren sowie von Investitionen und ein Erdölembargo. Letzteres richtet sich gegen die syrische Regierung, nicht gegen die Kampfgruppen, die sich auch mit dem Verkauf von gestohlenem Öl finanzieren.

* Aus: junge Welt, Samstag, 30. Mai 2015


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