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Gewalt muß enden

UN-Sicherheitsrat fordert "alle Seiten" in Syrien zu "größtmöglicher Zurückhaltung" auf. Präsident Assad setzt per Dekret neues Parteiengesetz in Kraft

Von Karin Leukefeld *

Mit einer sogenannten Präsidialerklärung hat der UN-Sicherheitsrat auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Syrien reagiert. Im Gegensatz zu einer »Resolution« hat die Stellungnahme vom Mittwoch (Ortszeit) keine bindende Wirkung. In dem verabschiedeten Text äußert der Sicherheitsrat »tiefe Sorge« über die »sich verschlechternde Lage in Syrien« und »bedauert zutiefst den Tod von vielen hundert Menschen«. Verurteilt wird die »weit verbreitete Verletzung von Menschenrechten und der Einsatz von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung durch die syrischen Behörden«. Gewalt müsse sofort beendet werden, alle Seiten sollten »größtmögliche Zurückhaltung« üben, heißt es weiter in der Erklärung. Keine Repression dürfe verübt werden, auch die Angriffe gegen staatliche Einrichtungen müßten aufhören. Die syrischen Behörden müßten die Menschenrechte respektieren, alle. Diejenigen, die für Gewalt verantwortlich seien, müßten dafür zur Verantwortung gezogen werden. Das UN-Gremium versichert weiter, »die Souveränität, Unabhängigkeit und die territoriale Integrität Syriens zu achten«, eine Lösung der Krise sei »nur durch einen umfassenden politischen Prozeß unter syrischer Führung« möglich, in dem die »legitimen Wünsche« und »grundlegenden Freiheitsrechte der Bevölkerung« geachtet werden müßten. Dabei nennt der Sicherheitsrat ausdrücklich das auf Meinungsfreiheit und friedliche Versammlungen. Internationalen humanitären Organisationen müsse der ungehinderte Zugang zu den Krisengebieten ermöglicht werden, außerdem müsse Syrien umfassend mit dem Büro der Hohen Kommissarin für Menschenrechte kooperieren. Im übrigen habe man die Reformzusagen der syrischen Regierung »bemerkt« und fordere, diese umgehend umzusetzen.

Die Erklärung des UN-Sicherheitsrates trägt deutlich auch die Handschrift von Rußland, China, Indien, Brasilien und Südafrika, die bisher auf bilateraler Ebene Syrien gedrängt hatten, den Reformprozeß voranzutreiben und auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten. Indien hatte zusätzlich vorgeschlagen, eine Delegation des Gremiums der Vereinten Nationen nach Damaskus zu senden, um direkte Gespräche mit der Regierung zu führen. Dies war aber von den europäischen Staaten im Sicherheitsrat und von den USA abgelehnt worden. Als einziger der 15 Mitgliedsstaaten distanzierte sich der Libanon von der Erklärung. In der kommenden Woche will das UN-Organ weiter über Syrien beraten.

Neben der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen wird in der Erklärung erstmals auf Sicherheitsratsebene der Reformwille der Regierung in Damaskus zumindest »bemerkt«. Zudem werden »alle Seiten« zum Gewaltverzicht aufgefordert, Angriffe auf staatliche Einrichtungen in Syrien werden eingeräumt. Allein in der Stadt Hama wurden in den vergangenen Tagen Polizeistationen, das Einwohnermeldeamt, das Gericht und das Gebäude einer Bank zerstört und in Brand gesetzt. In der vergangenen Woche waren ein Anschlag auf einen Zug zwischen Aleppo und Damaskus sowie die Explosion einer Ölpipeline gemeldet worden. Syrische Militärkreise nennen diese Gewalt als Grund für das militärische Vorgehen zuletzt in Hama und Deir Essor. Nach dem Rückzug von Militär und Sicherheitskräften Ende Mai waren über Wochen die Massenproteste in Hama unbehelligt geblieben.

Die weitere Gewalteskalation traf mit dem 66. Jahrestag der Gründung der syrischen Armee zusammen, der am vergangenen Wochenende landesweit gefeiert worden war. Die Armee genießt weiterhin großes Vertrauen in der Bevölkerung. Gleichwohl ist ihr Einsatz gegen die Protestbewegung hoch umstritten. Mehr als 500 Soldaten wurden in den Auseinandersetzungen bisher getötet. Durch die Berichterstattung internationaler Nachrichtensender – die in Syrien über Satellitenkanäle ungehindert empfangen werden – könnte die Armee an Ansehen verlieren.

Bereits vor Beginn des Ramadans hatte die syrische Exilopposition dazu aufgerufen, die Proteste gegen Präsident Baschar Al-Assad während des islamischen Fastenmonats zu verschärfen. Religiöse islamische Führer in Syrien forderten hingegen am Dienstag erneut zur Mäßigung auf und verurteilten die gewaltsamen Auseinandersetzungen.

In ausländischen Medien werden derweil Parallelen mit der blutigen Niederschlagung eines bewaffneten Aufstandes der Muslimbruderschaft hergestellt, der von 1979 bis 1983 den Nordwesten Syriens erschütterte. Tausende Menschen wurden getötet. Mit dem Trauma und dem Zorn der Bevölkerung über diese nie aufgearbeiteten Ereignisse arbeitet auch die syrische Opposition.

Damaskus reagierte auf die Erklärung im UN-Sicherheitsrat auf seine Weise. Am frühen Donnerstag morgen verbreitete die staatliche Nachrichtenagentur SANA die Meldung, Präsident Assad habe per Dekret (Nr. 100 und 101) sowohl das neue Parteiengesetz als auch das neue Wahlgesetz in Kraft gesetzt. Weitere Erklärungen wurden nicht bekannt. Am Sonntag soll das Parlament zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen, um »über die Lage Syriens und seiner Bevölkerung« zu debattieren. Die für Ende Juli vorgesehenen Parlamentswahlen waren aufgrund der Unruhen verschoben worden.

Frankreich reagierte unmittelbar mit Ablehnung auf die Ankündigung eines neuen Parteiengesetzes in Syrien und sprach von einer »Provokation«. Präsident Assad sollte lieber dafür sorgen, die tödlichen Angriffe auf demokratische Proteste zu beenden, sagte Außenminister Alain Juppé im französischen Rundfunk. Frankreich war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Protektoratsmacht in dem Land, aus dem es sich erst 1946 zurückzog.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle wiederum will die Einsetzung eines UN-Sondergesandten für Syrien forcieren. Das Auswärtige Amt in Berlin verschärfte zudem seine Reisewarnung für die arabische Republik und empfiehlt allen Deutschen »dringend die sofortige Ausreise«.

* Aus: junge Welt, 5. August 2011


Syria: Security Council condemns rights abuses and use of force against civilians **

3 August 2011 – The Security Council today condemned the widespread violation of human rights in Syria and the use of force against civilians by the country’s security forces, calling for an end to the violence and urging all sides to act with restraint and refrain from reprisals, including attacks against State institutions.

The Council voiced its profound regret at the deaths of hundreds of the people during mass protests in Syria and urged the authorities in Damascus to fully respect human rights and comply with their obligations under international law.

“Those responsible for the violence should be held accountable,” the Council said in a presidential statement read by Ambassador Hardeep Singh Puri of India, which holds the Council’s rotating presidency this month.

Syria has been rocked by deadly civil unrest since mid-March, driven by calls for greater civil liberties. The strife followed similar protests across North Africa and the Middle East that toppled entrenched regimes in Tunisia and Egypt, led to conflict in Libya and caused unrest in Bahrain and Yemen.

The Council took note of Syria’s stated commitment to the implementation of reforms, but expressed regret over the lack of progress, calling on the Government to carry out the promised political changes.

The 15-member United Nations body also reaffirmed its strong commitment to the sovereignty, independence, and territorial integrity of Syria.

It stressed that “the only solution to the current crisis in Syria is through an inclusive and Syrian-led political process, with the aim of effectively addressing the legitimate aspirations of and concerns of the population which will allow the full exercise of fundamental freedoms for its entire population, including that of expression and peaceful assembly.”

The Council called upon the Syrian authorities to respond to the humanitarian needs of people in areas affected by the unrest by ceasing the use of force to allow quick and unhindered access by relief workers.

The Syrian authorities should also cooperate fully with the Office of the UN High Commissioner for Human Rights (OHCHR), the Council added. It requested the Secretary-General Ban Ki-moon to update it on the situation in Syrian within seven days.

Lebanon, one of the Council’s non-permanent members, dissociated itself from the presidential statement, but did not seek to block its adoption.

Mr. Ban welcomed the Council’s statement, saying it sent a “clear message from the international community” to the Syrian authorities to stop their “brutally shocking” actions. He once again urged Syrian President Bashar al-Assad to cease all acts of violence, stating that the aspirations of the citizens of the country must be addressed.

“All killings should be investigated fully, independently and transparently,” Mr. Ban told reporters after the Council delivered its statement.

“Those responsible should be held to account. The legitimate aspirations of the Syrian people must be addressed through an inclusive Syrian-led political process that guarantees fundamental freedoms and rights for all,” he added.

Responding to a question on how he would gather the information required to update the Security Council, Mr. Ban said he would mobilize all UN agencies and cooperate with non-governmental organizations (NGOs) and other groups. “I will spare no efforts in this regard,” he said.

The Secretary-General stressed that his assessment will “unbiased, impartial and true to the facts.”

He also emphasized that the Syrian authorities must allow humanitarian assessment teams and the UN Human Rights Council-mandated fact-finding mission into the country.

**Source: UN News Centre, 3 August 2011; www.un.org


UNO verlangt Ende der Gewalt in Syrien

Deutschland fordert Sondergesandten / Hama weiter eingekreist / Parteiengesetz per Dekret in Kraft ***

Nach der Verurteilung der Gewalt in Syrien durch den UN-Sicherheitsrat hat Bundesaußenminister Westerwelle die Ernennung eines UN-Sonderbeauftragten gefordert. Dieser solle Damaskus die Botschaft des Sicherheitsrats übermitteln und seinen Forderungen Nachdruck verleihen, sagte Westerwelle am Donnerstag (4. Aug.).

Das Ergebnis der Sitzung des UN-Sicherheitsrates zu Syrien sollte Damaskus von einem speziellen Gesandten direkt übermittelt werden, um der Forderung des Rates Nachdruck zu verleihen. Dies geht aus einer Erklärung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle vom Donnerstag (4. Aug.) hervor. Das UN-Papier sei »ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung«, doch müsse Damaskus weiter zu einem Ende der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung gedrängt werden. Der Sicherheitsrat hatte am Mittwoch nach wochenlangen Verhandlungen die Gewalt in einer Erklärung verurteilt, konnte sich aber nicht zu einer Resolution durchringen. Die Vetomächte Russland und China, aber auch Indien, Brasilien und Südafrika sperren sich gegen ein hartes Vorgehen gegen Damaskus. Libanon distanzierte sich von der Erklärung.

Frankreichs Außenminister Alain Juppé nannte die Erklärung dennoch einen »Wendepunkt« in der Haltung der internationalen Gemeinschaft. Die UN-Botschafterin der USA, Susan Rice, äußerte, ein derartiges Signal hätte schon längst gesendet werden müssen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sagte, die Ereignisse in Syrien seien »brutal schockierend«, und er werde sich erneut um einen direkten Kontakt mit der syrischen Regierung bemühen. Der syrische Staatschef Baschar al-Assad weigert sich allerdings seit Wochen, Telefonanrufe von Ban entgegenzunehmen.

Unterdessen berichten Einwohner aus der von der syrischen Armee eingekreisten Großstadt Hama, Dutzende Menschen seien bei einem Bombardement der Armee getötet worden. Für die in der zyprischen Hauptstadt Nikosia empfangenen Botschaften gibt es keine unabhängigen Bestätigungen.

Hama ist in Syrien das Zentrum der verbotenen Muslimbrüder, die sich seit Jahrzehnten gegen das weitgehend säkulare Regime in Syrien, teils bewaffnet, zur Wehr setzen. 1982 ließ deshalb der damalige Präsident Hafez al-Assad, Vater des jetzigen Staatschefs Baschar al-Assad, einen Aufstand blutig niederschlagen, wobei 30 000 Menschen getötet worden sein sollen.

Assad erließ unterdessen ein Dekret, das die zuvor angekündigte Gründung neuer Parteien erlaubt. Dies darf allerdings nur unter Einschränkungen erfolgen. So dürfen neue Parteien nicht religiös oder auf Stammesgruppierungen ausgerichtet sein und auch nicht aus dem Ausland unterstützt werden. Die Schaffung eines Mehrparteiensystems war bisher eine der Hauptforderungen der Protestbewegung.

Die französische Regierung sieht in der Zulassung neuer Parteien in Syrien angesichts der Gewalt gegen Zivilisten »fast eine Provokation«. »Was wir heute erwarten, ist das Ende der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die nur ihre Rechte verteidigt«, sagte Außenminister Alain Juppé am Donnerstag dem Radiosender France Info. Die Ankündigung, neue Parteien zu erlauben, sei zudem »wenig glaubwürdig«.

Kritik kam auch von der syrischen Opposition: Der Anwalt Anwar al-Bunni nannte das Gesetz eine »kosmetische« Maßnahme.

*** Aus: Neues Deutschland, 5. August 2011

Remis im Rat

Von Roland Etzel ****

Im Ton diplomatisch, in der direkten Konsequenz – zunächst – folgenlos: Das ist die Kurzcharakteristik der jüngsten Syrien-Stellungnahme des UN-Sicherheitsrates. Es ist eben keine Resolution mit einer Verurteilung von, sondern einer »Erklärung« zu Syrien. Dieses Patt wird begleitet vom wortreichen Lamento aus Paris und Washington. Sie beklagen, dass auf Grund der Haltung »einiger Vetomächte«, gemeint sind China und Russland, lediglich die Gewalt im Lande an sich, nicht aber deren Verursacher am Pranger stehen. Ein Angebot, Hilfe für den Aufbau einer Dialogschiene zu leisten, steht übrigens nicht im Text.

Auf die traditionelle Großmachtpolitik allein – schützt du »deine«, schütz' ich »meine« Diktatoren – lässt sich das nicht reduzieren. Auch Staaten, die nicht im Kampf um Einflusssphären im Nahen Osten mitmischen wie die genannten, ist das überbordende Mitgefühl des Westens mit der von Assads Armee bedrängten syrischen Opposition nicht geheuer. Zwar sind Brasilien, Indien und Südafrika ein wenig auf Distanz zu ihrem Nichtpaktgebundenen-Bruder Assad gegangen – aber sie wollten sich diesmal nicht handstreichartig vom Westen über den Tisch ziehen lassen wie im Fall Libyen im März.

Sollte er darüber weiter maulen, käme der Westen bald in Erklärungsnot. Man denke an Libanon 2006, Gaza 2008 oder das blutige Frühjahr in Bangkok 2010. In diesen Fällen haben vor allem die USA verhindert, dass es auch nur eine Erklärung zur Gewalt gab.

**** Aus: Neues Deutschland, 5. August 2011 (Kommentar)

Hintergrund: Im Schutz der Protestbewegung

Den Sicherheitskräften Syriens wird immer wieder vorgeworfen, gewaltsam gegen die Protestbewegung gegen Präsident Baschar Al-Assad vorzugehen. Mehr als 1600 friedliche Demonstranten seien mittlerweile getötet worden. Bei mehr als 500 Toten und mindestens ebenso vielen Verletzten auf staatlicher Seite aber kann nicht mehr ausgeschlossen werden, daß es innerhalb der syrischen Opposition bewaffnete Gruppen gibt. In hiesigen Medien wird angesichts der letztgenannten Zahl vorwiegend die Einschätzung vorgetragen, diese Männer seien Opfer ihrer eigenen Truppe geworden. »Vor Augenzeugen standrechtlich erschossen«, wie ein Korrespondent es ausdrückt, um anschließend als »Märtyrer« von dem Regime vorgezeigt zu werden.

Doch es gibt keine belastbaren Beweise dafür. Allerdings existieren Hinweise, daß sowohl die neun Soldaten, die bei Banias getötet wurden, als auch Soldaten der kleinen Einheit in Dschisr Al-Schughur von Milizen erschossen wurden. Erstere waren in Fahrzeugen unterwegs, als diese auf einer Brücke von Bewaffneten mit Kugeln durchsiebt wurden, wie ein Offizier erzählte, der den Anschlag überlebte. Und Handyaufnahmen zeigen die Soldaten in Dschisr Al-Schughur, die in ihrer Kaserne auf dem Boden sitzen – in voller Bewaffnung, im Hintergrund sind Schußwechsel zu hören –, kurz bevor sie getötet wurden. Und anschließend deren Leichen.

Innerhalb der Oppositionsbewegung wird schon länger eingeräumt, daß Gewalt nicht nur von den Sicherheitskräften ausgeht, sondern auch von Bewaffneten, die aus der Protestbewegung heraus operieren. So wurde kürzlich über das Internetportal Youtube ein Video bekannt, das Männer in Hama zeigt, die mit Schnellfeuergewehren und Sensen bewaffnet auf den Straßen unterwegs sind. Ein weiterer Film zeigt, wie Männer blutüberströmte Leichen von der Ladefläche eines Fahrzeuges räumen und über das Geländer einer Autobahnbrücke in einen Fluß, vermutlich den Orontes, werfen und dabei »Allah ist groß« rufen. Ein Oppositioneller, der namentlich nicht genannt werden wollte, erklärte gegenüber dem Nachrichtensender CNN, er halte die Aufzeichnung für authentisch. Bei den Toten handelte es sich um syrische Geheimdienstmitarbeiter, die von Milizen ermordet worden seien, die schon im Irak gekämpft hätten. (kl)

Syria Comment (englisch): www.joshualandis.com/blog

(junge Welt, 5. August 2011)




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