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Ende eines Phantom-Fluges

Syrien schoss türkischen Aufklärungsjet ab, NATO-Rat berät am Dienstag

Von René Heilig *

Die Türkei will den Abschuss eines ihrer Militärjets am Freitag durch Syrien auf einer Sondersitzung des NATO-Rates zur Sprache bringen. Nach wie vor sind die Fakten unklar. Doch beide Seiten scheinen sich - angesichts der fragilen Situation in der gesamten Region - Mäßigung auferlegt zu haben.

»Es gibt keine Zweifel daran, dass die notwendigen Schritte unternommen werden«, sagte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül am Samstag. Er rief das Sicherheitskabinett zusammen, konferierte mit Generalen und Geheimdienstlern. Zu hören war nur: »Unsere Ermittlungen werden sich darauf konzentrieren, ob das Flugzeug innerhalb unserer Grenzen abgeschossen wurde oder nicht.«

Zuvor hatte Außenminister Ahmet Davutoglu erklärt, die Maschine sei am Freitag auf einem Übungsflug von der syrischen Flugabwehr über internationalen Gewässern abgeschossen worden, nachdem sie kurzzeitig den syrischen Luftraum verletzt habe. Später bezeichnete er den Absturzort nicht sehr präzise mit 13 nautischen Meilen (24 Kilometer) vor Syrien. Es handelt sich offenbar um das Küstenvorfeld von Latakia.

Syrien wiederum, dass den Abschuss eines zunächst unbekannten Flugzeuges bestätigte, betont, es sei nicht um einen Angriff gegangen. Nach Abschuss des Objekts habe sich herausgestellt, dass es sich um ein türkisches Militärflugzeug gehandelt habe. Man bedauere das Vorkommnis.

Abgeschossen wurde offenbar eine RF-4E, die vom Fliegerhorst in Malatya aufgestiegen war. Dieser »Phantom«-Typ ist eine spezielle Variante zur Aufklärung. Jets aus dieser Serie waren erst jüngst von Israel elektronisch auf den neuesten Stand gebracht worden.

Folgt man den - per Radarplot erhärteten - syrischen Aussagen, so hat es sich keineswegs nur um einen Übungsflug gehandelt. Die Maschine vollführte mehrere Manöver unmittelbar vor der Küste des im Bürgerkrieg befindlichen Landes und überflog Festland bis zu einer Tiefe von 20 Kilometern. Erst als sich der Jet dann extrem tief und extrem schnell abermals dem Festland näherte, feuerten - so soll ein bei einer Strandparty aufgenommenes Video belegen - von einem Hügel Flakgeschütze verschiedener Kaliber. Israelische Quellen sagen, gerade aus Russland gelieferte S-125- oder Pansir-Raketen haben den Jet getroffen.

Der Flugverlauf deutet darauf hin, dass die türkische Besatzung die syrische Luftabwehr testen wollte. Offenbar ist die jedoch weitaus besser als beim erfolgreichen israelischen Luftangriff im Jahr 2007. Den Aufklärungsversuch haben die beiden türkischen Piloten vermutlich mit dem Leben bezahlt. Zwar hat man am Sonntag vermutlich das Wrack in 1000 Metern Tiefe geortet. Von der Besatzung gibt es keine Spur.

Am Dienstag wird sich der NATO-Rat mit der Lage befassen. Das Gremium der Botschafter aller 28 Bündnisstaaten tritt zusammen, nachdem Ankara unter Berufung auf Artikel 4 des NATO-Vertrages eine Sitzung beantragt hat.

* Aus: neues deutschland, Montag, 25. Juni 2012


Provokation aus Ankara

Von Karin Leukefeld **

Nach dem Abschuß eines türkischen Kampfjets durch die syrische Luftabwehr hat die NATO nach Artikel IV ihrer Charta für Dienstag eine Sondersitzung einberufen. Die Sitzung wurde von der Türkei beantragt. Militärbeobachter vermuten, daß Ankara sich für einen eventuellen Gegenschlag der Rückendeckung der NATO versichern wolle.

Der F-4-Phantom-Kampfjet vom Stützpunkt Erhac bei Malatya war am Freitag mittag vom türkischen Militär zunächst als vermißt gemeldet worden, später bestätigte die syrische Luftwaffe, den Jet etwa eine halbe Seemeile vor der syrischen Küste »nach Regeln, die für solche Fälle gelten«, abgeschossen zu haben. Die Maschine sei im Tiefflug in den syrischen Luftraum eingedrungen und etwa fünf Seemeilen vor dem Dorf Um Al-Tuyour ins Meer gestürzt. Der Abschuß sei »ein Versehen« gewesen, sagte Jihad Makdissi, Sprecher des Außenministeriums in Damaskus. Syrien befinde sich »nicht im Krieg mit der Türkei«. Man habe nicht erkannt, daß es sich um ein türkisches Flugzeug handelte, und lediglich seine Souveränität verteidigt.

Die türkische Regierungsspitze äußerte sich nach dem Vorfall zurückhaltend. Präsident Abdullah Gül erklärte, bei Hochgeschwindigkeitsflügen komme es vor, daß der Luftraum von Nachbarstaaten für kurze Zeit verletzt wird. Das geschehe »nicht in böser Absicht, sondern wegen der Geschwindigkeit«. Außenminister Ahmed Davutoglu warf Syrien vor, die Maschine »ohne Vorwarnung« über internationalen Gewässern abgeschossen zu haben. Gleichzeitig räumte er ein, daß der Jet kurzzeitig in syrischem Luftraum geflogen sei. Es habe sich um einen Übungsflug gehandelt, die Maschine sei unbewaffnet gewesen. Das Wrack wurde am Sonntag in 1000 Meter Tiefe geortet. Der Verbleib der beiden Piloten ist unklar.

Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi forderte sowohl Damaskus als auch Ankara zu »Zurückhaltung, Takt, Toleranz und Dialog« auf. Der britische Außenminister William Hague sagte, Großbritannien stehe für eine »robuste Aktion« im UN-Sicherheitsrat bereit. Bundesaußenminister Guido Westerwelle begrüßte die »besonnene Reaktion« der Türkei. Ähnlich äußerte sich UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Der irakische Außenminister Hoschjar Sebari warnte vor einer Ausweitung der Krise auf die Nachbarländer. Die Fahnenflucht eines syrischen Luftwaffenpiloten nach Jordanien am Donnerstag und der Abschuß des türkischen Jets zeigten, daß der Syrien-Konflikt weitreichende Auswirkungen haben könnte.

Unterdessen gibt es weitere Hinweise auf massive Unterstützung der Aufständischen aus dem Ausland. Der britische Guardian veröffentlichte am Freitag den Bericht des Reporters John Densky, der in der besonders umkämpften syrischen Provinz Idlib bewaffnete Aufständische begleitet. Denksy beschreibt die gute Ausrüstung der Aufständischen, die sich vor kurzem noch die Gewehre geteilt und Munition hätten sparen müssen. In der von Aufständischen eingenommenen Grenzstation Altima beobachtete Densky die Übergabe von Geld und Waffen.

Unbestätigten Berichten von »Aktivisten« zufolge sollen bewaffnete Aufständische am Sonntag einen Militärstützpunkt in der Provinz Aleppo eingenommen und 16 Soldaten getötet haben. Offiziellen syrischen Angaben zufolge sind seit dem 20. Juni mindestens 189 Soldaten, Sicherheitskräfte und Zivilisten getötet worden. Ein Freiwilliger des Syrischen Arabischen Roten Halbmonds wurde in Deir Al-Sur erschossen.

** Aus: junge Welt, Montag, 25. Juni 2012


Strategische Tiefe

Berät NATO über Krieg gegen Syrien?

Von Werner Pirker ***


Nach dem Abschuß eines türkischen Kampfjets vom Typ F-4 durch die syrische Luftabwehr am Freitag ist der Konflikt in und um Syrien bis an den Rand eines zwischenstaatlichen Krieges eskaliert. Die Türkei hat den Zwischenfall zum NATO-Thema gemacht. Das Kriegsbündnis will über eine »angemessene Reaktion« beraten. Das läßt das Schlimmste befürchten.

Der Darstellung aus Damaskus, daß ein unidentifiziertes Flugobjekt mit hoher Geschwindigkeit in den syrischen Luftraum eingedrungen sei, wird von türkischer Seite widersprochen. Der Abschuß sei im internationalen Luftraum erfolgt, nachdem das Flugzeug unabsichtlich kurz in den syrischen Luftraum eingedrungen sei, behauptet Ankara. Welcher Version die »internationale Gemeinschaft«, in deren Namen die westliche Kriegsallianz aufzutreten beliebt, Glauben schenken wird, dürfte unschwer zu erraten sein. Wie aus der Pistole geschossen kam die Schuldzuweisung des britischen Außenministers William Hague. Der Vorfall zeige, wie weit jenseits akzeptablen Verhaltens sich das syrische Regime bewege, formulierte er in der Diktion einer Kriegserklärung und trat für »robuste Maßnahmen« des UN-Sicherheitsrates gegen Syrien ein. Es darf erwartet werden, daß sich der deutsche Außenminister bald mit ähnlich martialischen Sprüchen zu Wort meldet. Der will schließlich das Image eines »Kriegsdienstverweigerers« loswerden, das er sich mit der richtigen Entscheidung, Deutschland nicht am Angriffskrieg gegen Libyen teilnehmen zu lassen, zugezogen hat.

Selbst in der Türkei wird bezweifelt, daß sich der Kampfjet unabsichtlich in den syrischen Luftraum verirrt habe. Ein regierungskritischer Experte bezeichnete in einer Sendung auf NTV die F-4 als eines der ältesten Modelle der türkischen Luftwaffe. Sie sei als Aufklärer mit Kameras ausgerüstet gewesen und habe vielleicht prüfen sollen, wie gut die syrische Luftabwehr sei. Diese hätte den Test dann wohl bestanden. Doch darf bezweifelt werden, daß es der Regierung in Damaskus daran gelegen sein könnte, in dieser Situation die Türkei zu einem bewaffneten Konflikt herauszufordern.

Die Feindseligkeit, die Ankara gegenüber Damaskus seit Beginn der Unruhen an den Tag legt, ist wohl kaum auf die Sorge um die Menschenrechte in Syrien zurückzuführen. Ein Staat, der die kurdische Minderheit in einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg blutig niedergehalten hat, sollte sich besser nicht als Rächer der Unterdrückten in seiner Nachbarschaft aufspielen. Es ist eher so, als wollte die Türkei reumütig in den Schoß der westlichen Wertegemeinschaft zurückkehren, zu der sie mit ihrer »Außenpolitik der strategischen Tiefe« auf eine gewisse Distanz gegangen zu sein schien. Das äußerte sich vor allem in der dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zu Israel, aber auch in Signalen Ankaras an Kairo und Teheran, einen gegenhegemonialen Block zum Westen zu bilden. Das schien so. Der türkische Außenminister Davutoglu dürfte unter strategischer Tiefe wohl etwas anderes verstanden haben.

*** Aus: junge Welt, Montag, 25. Juni 2012


Mal eben verfranzt

Von René Heilig ****

Düsenflieger sind so schnell, da ist man rasch einmal in fremdem Luftraum, sagte die Regierung in Ankara, nachdem die Syrer ein türkisches Aufklärungsflugzeug abgeschossen haben. Komisch, dass sich vor allem türkische Piloten so oft »verfranzen«. Auch NATO-Partner Griechenland ist über diese »Normalität« verärgert. Doch wer jetzt vor Syrien solche Manöver vollführt, spielt mit dem Feuer. Natürlich reagiert das in den Druck eines Bürgerkrieges geratene Regime hochgradig nervös. Umso gescheiter ist es, dass Damaskus - nachdem seine Militärs (oder Verbündete?) Abwehrpotenzen bewiesen haben - sofort den Rückwärtsgang eingelegt hat und auf Siegesgeschrei verzichtet.

Auch die Türkei taktiert relativ zurückhaltend. Denn die Regierung hat sich mit dem US- und NATO-gefälligen Stellungsbau gegen Syrien selbst in die Zwickmühle gebracht. Auf der einen Seite hilft Ankara Flüchtlingen. Auf der anderen lässt man es zu, dass sich in der Türkei syrische Rebellen formieren. Man billigt die Waffenhilfe von CIA und saudischen Geldgebern. Wohl wissend, dass zwei Drittel der Türken gegen jede Einmischung in den Konflikt sind. Unklar ist auch, wie loyal das Militär zur Herrschaftsform von Staatschef Erdogan steht. Vor nicht allzu langer Zeit hat der viele Offizieren in den Knast gesteckt, weil sie etwas gegen ihn im Schilde geführt haben sollen. Und dann ist da ja noch der eigene Bürgerkrieg gegen die PKK in Kurdistan. Und die NATO? Die sollte sich keinesfalls im Beistandsartikel 5 »verfranzen«. Syrien ist nicht Libyen.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 25. Juni 2012 (Kommentar)


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