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Grenzfall Syrien-Konflikt

Ankara lenkt ein / Übergreifen der Gewalt auf das Nachbarland zunächst wohl abgewendet *

Nach harten Drohgebärden scheint ein Übergreifen des Syrien-Konflikts auf die Türkei vorerst abgewendet. Doch die Gesten zum Einlenken kommen zögerlich. In Syrien dauert unterdessen die Gewalt an.

Am Tag nach dem türkischen Ja zu Militäroperationen in Syrien meldeten die Staatsmedien in Damaskus verdächtige Bewegungen an der Grenze. Bewaffnete Gruppen aus der Türkei hätten versucht, in das syrische Dorf Chirbet al-Dschoos einzudringen, berichtete das staatliche Fernsehen am Freitag. Regierungstruppen hätten die »Eindringlinge« aber gestoppt und viele von ihnen getötet. Die meisten seien Ausländer gewesen, einer von ihnen türkischer Staatsbürger, hieß es weiter.

Was genau im Grenzgebiet vorgefallen ist, blieb unklar. Die Medienblockade des Regimes von Präsident Baschar al-Assad macht eine unabhängige Überprüfung solcher Berichte kaum möglich. Aus verschiedenen Meldungen von Augenzeugen, Oppositionellen und auch der offiziellen Stellen lässt sich nur ein grobes Bild zusammenfügen. Und demnach geht nach der kurzzeitigen Ausweitung des Syrien-Konflikts zu einer internationalen Krise in dem arabischen Land die Gewalt weiter. Eine Rebellengruppe drohte mit der Tötung von 48 Iranern, die angeblich dem Assad-Clan als Söldner behilflich waren.

Die Türkei sendete indes zwei Tage nach dem Angriff aus Syrien auf das türkische Grenzgebiet zögerliche Friedenszeichen und zeigte sich bemüht, die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen. Die türkische Regierung signalisierte, dass sie die Erklärungsversuche der syrischen Regierung in Kontakten mit Russland und der UNO als Entschuldigung verstehen möchte.

Der UNO-Sicherheitsrat hatte einige Stunden zuvor den Angriff aus Syrien über die Grenze mit fünf Toten »in schärfsten Worten« kritisiert und die Truppen von Präsident Baschar al-Assad dafür verantwortlich gemacht. Eine Reaktion aus Damaskus darauf gab es zunächst nicht - die Syrer warten weiter auf eine Verurteilung der jüngsten Anschlagsserie in der Metropole Aleppo mit vielen Toten durch die Vereinten Nationen.

Die türkische Regierung wiederum ist mit den Erklärungen des Nachbarn unzufrieden und will an einen technischen Fehler der Syrer beim Abfeuern von Granaten auf das türkische Grenzdorf Akcakale nicht glauben.

Insgesamt habe es in der jüngsten Zeit sieben Angriffe auf türkisches Territorium gegeben, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, nachdem ihm das Parlament freie Hand für Militäreinsätze in Syrien gegeben hatte. Regierungsnahe türkische Kommentatoren folgten am Freitag der offiziellen Lesart, wonach die Regierung mit der parlamentarischen Billigung von Militäreinsätzen in Syrien vor allem ein Instrument der Abschreckung in die Hände bekommen wollte, um dem syrischen Staatschef eine »rote Linie« zu demonstrieren.

Politiker der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP und der Kurdenpartei BDP warnten dagegen, dass Premier Erdogan nun die Weichen für einen Krieg gegen Syrien stellen könne. Vor einem solchen Szenario hat auch schon der UN-Sondervermittler für Syrien gewarnt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 06. Oktober 2012


"Die Türkei ist Aggressor"

Ankara arbeitet seit Monaten an der Destabilisierung Syriens. Mehrheit der Bevölkerung lehnt Kriegskurs ab. Ein Gespräch mit Sevim Dagdelen *


Die Türkei greift seit Mittwoch Ziele im Nachbarland Syrien an. Die Angriffe seien eine »Reaktion« auf syrischen Granatenbeschuß, bei dem im türkischen Grenzort Akcakale fünf Zivilisten getötet worden waren. Wie plausibel ist diese Erklärung?

Den Beschuß hat es tatsächlich gegeben, die syrische Regierung hat sich ja bereits entschuldigt und eine Untersuchung angekündigt. Es ist schlimm, daß hier wieder Menschen getötet wurden. Es scheint aber auch nicht ausgeschlossen, daß bewaffnete aufständische Gruppen die Urheber des Beschusses waren, da er aus Richtung eines von den Rebellen eroberten Grenzübergangs kam. Premier Erdogan und die türkische Regierung erwecken den Eindruck, nur auf solch einen Anlaß gewartet zu haben. Sie destabilisieren Syrien bereits seit Monaten gezielt. Die Waffenlieferungen gemeinsam mit Saudi-Arabien und den anderen Golfdiktaturen, die Ausbildungslager und Rückzugsgebiete für Rebellen, das hat längst den Maßstab einer – wenn auch indirekten – militärischen Invasion im Auftrag der NATO angenommen. Völkerrechtlich sind eigentlich die Türkei und ihre US-amerikanischen und deutschen Unterstützer der Aggressor.

Das türkische Parlament hat am Donnerstag Regierung und Armee grünes Licht für eine militärische Intervention in Syrien gegeben. Bundeskanzlerin Angela Merkel bekundete am selben Tag: »Wir stehen an der Seite der Türkei.« Stehen wir vor dem nächsten Kriegseinsatz?

Bundesaußenminister Westerwelle hatte schon vor den Angriffen auf Syrien mit seinem türkischen Amtskollegen gesprochen und sehr einseitig Stellung genommen, ohne daß da der genaue Hergang auch nur im mindesten geklärt war. Und dies, obwohl die Türkei und ihre Verbündeten bereits im Juni wegen des angeblichen Abschusses eines türkischen Kampfflugzeuges über internationalen Gewässern auf unehrliche Weise eine weitere Eskalation befördern wollte. Diesmal hat sich die NATO noch deutlicher auf die Seite Ankaras gestellt. Die türkische Nationalversammlung hat auf Grundlage des grenzüberschreitenden »Antiterrorkampfes« gegen die PKK, wie er völkerrechtswidrig ständig durch die Bombardierungen der türkischen Luftwaffe im Irak stattfindet, mit den Stimmen der AKP und MHP einer Militärintervention in Syrien grünes Licht erteilt. Damit wird sowohl dem Eigeninteresse der türkischen Regierung, den Krieg auch in die kurdischen Gebiete nach Syrien tragen zu können, wie auch dem der NATO-Verbündeten, einen »Regime change« in Damaskus nötigenfalls nicht nur durch die Unterstützung bewaffneter Gruppen zu befördern, Rechnung getragen. Es ist eine sehr gefährliche Situation, und ich bin sehr froh, daß es eine breite Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei gibt, die diesen Krieg ablehnt. Die Massendemonstrationen in Istanbul sind ein sehr hoffnungsvolles Zeichen, daß die AKP-Kriegsregierung mit ihrer Eskalationspolitik nicht durchkommt.

Die NATO hat am Mittwoch die Amtszeit von Generalsekretär Rasmussen um ein Jahr bis Sommer 2014 verlängert. Wie ist die überraschende Mandatsverlängerung zu erklären?

Das ist natürlich ein beunruhigendes Zeichen. Die NATO schätzt die Lage wohl so ernst ein, daß sie lieber keinen Führungswechsel riskieren will. Das legt auch die Vermutung von erneuten Zugeständnissen an die Türkei nahe, die Rasmussen bereits bei seiner Wahl 2009 kritisch gegenüberstand und für ihre Zustimmung zusätzliche Posten in der NATO-Militärstruktur für türkische Generäle herausschlug.

Im Bundestag scheint es dessenungeachtet reichlich ruhig zuzugehen. Warum kommt nicht wenigstens der Auswärtige Ausschuß zu einer Sondersitzung zusammen, um sich von der Regierung über das »Wie weiter« informieren zu lassen?

Ich habe unmittelbar nach Bekanntwerden des Grenzzwischenfalles meiner Fraktion vorgeschlagen, eine Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses einzuberufen. Denn die Bundesregierung arbeitet über Geheimdiplomatie mit an einer Destabilisierung Syriens. Was ihre Aktivitäten in Syrien angeht, verweigert sie dem Parlament jegliche Auskunft. Vieles wird mit dem Verweis auf nationale Sicherheitsinteressen unter Geheimhaltung gestellt. Egal, ob es um Massaker geht, den Abschuß eines türkischen Flugzeugs oder Grenzzwischenfälle: sie ist schnell dabei, das syrische Regime zu beschuldigen, möchte dann aber nicht mehr darüber reden, wenn es darum geht, auch nur einigermaßen belastbares Material für die Anschuldigungen zu präsentieren. So hat sie von Anfang an Menschenrechtsverletzungen, Terrorakte und die Verfolgung religiöser Minderheiten durch die »Freie Syrische Armee«, Al-Qaida-Einheiten und andere islamistische Gruppen geleugnet und bis heute nicht klar verurteilt. Auch das ist Teil einer gezielten Destabilisierung, einer völkerrechtswidrigen Politik des »Regime change«, die eine friedliche Lösung des Konflikts in Syrien verhindert.

Interview: Rüdiger Göbel

** Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag

Aus: junge Welt, Samstag, 06. Oktober 2012


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