Erdogan ließ sich Blankovollmacht erteilen
Parlament gab grünes Licht für Truppeneinsatz in Syrien
Von Jan Keetman *
Einen Tag nach dem tödlichen Granateneinschlag in Akcakale hat das türkische Parlament grünes Licht für mögliche Militäreinsätze im Nachbarland Syrien gegeben. Mehrheitlich billigten die Abgeordneten einen Antrag der Regierung, der für ein Jahr Einsätze auch über die Grenze hinweg erlaubt.
Im Eilverfahren hatte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan beim Parlament eine
Blankovollmacht für einen Einmarsch in Syrien beantragt, während türkische Artillerie den Beschuss syrischen Gebiets fortsetzte. In ihrem Antrag berief sich die Regierung darauf, dass seit dem 20. September mehrfach Granaten auf türkisches Gebiet gefallen seien. Jenseits der Grenze, in der Umgebung des syrischen Ortes Tell Abyad, toben seit Mitte September heftige Kämpfe zwischen syrischen Regierungstruppen und Rebellen. Bereits bei einem früheren Einschlag auf türkischem Gebiet hatte es Verletzte gegeben, danach wurden Häuser in Grenznähe evakuiert. Das am Mittwoch getroffene Haus lag etwas weiter von der Grenze entfernt. Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc bezweifelte, dass es sich bei dem wiederholten Beschuss lediglich um ein Versehen handele. Schließlich sei die Reichweite der Geschosse bekannt. Das Maß sei nun voll, sagte er.
Die Opposition übte heftige Kritik an dem Regierungsantrag und insbesondere daran, dass darüber in geheimer Sitzung abgestimmt wurde. Der Abgeordnete Muharrem Ince von der Republikanischen Volkspartei (CHP) hielt der Regierung vor, dass die Schuld an dem Granatenbeschuss noch keineswegs geklärt sei. Außerdem lege der Wortlaut des Entwurfs der Regierung keinerlei Beschränkung auf. »Damit können Sie einen Weltkrieg entfachen!« Ein Abgeordneter des Regierungslagers unterbrach Ince mit dem Zwischenruf: »Sind sie auf der Seite Assads oder auf der Seite der Türkei?«
Dieses simple Argument verfing offenbar bei der zweitgrößten Oppositionspartei, der ultranationalistischen MHP. Zwar kam auch aus deren Reihen Kritik, doch ihr Vorsitzender Devlet Bahceli signalisierte seine Zustimmung zu dem Entwurf. Um des nationalen Nutzens willen müsse man der Regierung den Rücken stärken.
Laut Nachrichtensender CNN-Türk stimmten schließlich 286 Abgeordnete für die Vorlage, 92 dagegen. Einer Meldung des türkischen Senders NTV zufolge erhielt der Antrag sogar 320 Ja-Stimmen. Die Vollmacht bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die türkische Armee demnächst gegen Syrien marschiert, selbst wenn es zu weiteren Zwischenfällen kommt. Türkische Kommentatoren betonten die abschreckende Wirkung eines solchen Mandats. Ähnliche Vollmachten wurden immer wieder erteilt, um der Regierung Angriffe gegen Stützpunkte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Irak zu ermöglichen. Sie wurden indes nicht immer benutzt.
Einfach hinnehmen wollte die Regierung Erdogan die Beschießung eines Grenzortes nicht. Auch weil sie wiederholt kritisiert wurde, auf den Abschuss eines türkischen Aufklärungsflugzeuges durch Syrien im Juni nicht angemessen reagiert zu haben. Offizielle Lesart ist mittlerweile, dass das Flugzeug entgegen syrischer Darstellung nicht vor der Mittelmeerküste abgeschossen wurde, sondern aus unbekannten Gründen abgestürzt ist. Nach dem neuerlichen Granatenbeschuss konnte Erdogan schlecht weiter stillhalten.
Das erklärt auch den anschließenden Beschuss syrischer Stellungen durch türkische Artillerie. Ankara will darin nicht den Auftakt zu einer weiteren Eskalation sehen. Man wolle keinen Krieg mit dem Nachbarland beginnen, erklärte ein ranghoher Erdogan-Berater. So ist die Ermächtigung zu grenzüberschreitenden Truppeneinsätzen zunächst wohl mehr als politischer Paukenschlag gedacht.
Allerdings betritt die Türkei damit eine nächste Konfrontationsstufe. Ömer Celik, ein anderer Stellvertreter Erdogans, sagte, die Entwicklung hänge nun vom Verhalten Syriens ab. Und eben das ist die Gefahr. Nun, da die Regierung die Vollmacht in der Tasche hat, werden gemäßigte Antworten auf Provokationen oder auch nur auf ungeklärte Zwischenfälle noch schwerer. Mit Sanktionen als Alternative zu militärischer Vergeltung hält sich Ankara indessen weiter zurück. Energieminister Taner Yildiz lehnte es ab, die Energieexporte in das Nachbarland einzustellen. Wenn Ankara wollte, könnte es einem großen Teil Syriens den Strom abstellen.
Eine Gruppe von etwa 50 türkischen Kriegsgegnern, die am Donnerstag spontan zum Parlament ziehen wollte, wurde mit Tränengas auseinandergetrieben.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 05. Oktober 2012
NATO-Vertrag (Auszug
Artikel 4: Die Parteien werden
einander konsultieren, wenn
nach Auffassung einer von ihnen
die Unversehrtheit des Gebiets,
die politische Unabhängigkeit
oder die Sicherheit einer
der Parteien bedroht ist.
Artikel 5: Die Parteien vereinbaren,
dass ein bewaffneter Angriff
gegen eine oder mehrere
von ihnen in Europa oder Nordamerika
als ein Angriff gegen sie
alle angesehen wird; sie vereinbaren
daher, dass im Falle eines
solchen bewaffneten Angriffs
jede von ihnen in Ausübung des
in Artikel 51 der Satzung der
Vereinten Nationen anerkannten
Rechts der individuellen
oder kollektiven Selbstverteidigung
der Partei oder den Parteien,
die angegriffen werden,
Beistand leistet, indem jede von
ihnen unverzüglich für sich und
im Zusammenwirken mit den
anderen Parteien die Maßnahmen,
einschließlich der Anwendung
von Waffengewalt, trifft,
die sie für erforderlich erachtet,
um die Sicherheit des nordatlantischen
Gebiets wiederherzustellen
und zu erhalten.
Von jedem bewaffneten Angriff
und allen daraufhin getroffenen
Gegenmaßnahmen ist unverzüglich
dem Sicherheitsrat
Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen
sind einzustellen, sobald
der Sicherheitsrat diejenigen
Schritte unternommen hat,
die notwendig sind, um den internationalen
Frieden und die
internationale Sicherheit wiederherzustellen
und zu erhalten.
Hiuer geht es zum ganzen
NATO-Vertrag.
Keine Chance für eine friedliche Regelung?
Radikale syrische Aufständische denunzieren jede Dialogbereitschaft als Verrat / Russland kritisiert UN-Sicherheitsrat
Von Karin Leukefeld **
Angesichts des tödlichen Granatenbeschusses
an der türkisch-syrischen
Grenze ist der dreifache Anschlag in
Aleppo, der ebenfalls am Mittwoch
mindestens 48 Todesopfer forderte,
nahezu in Vergessenheit geraten.
Weder das Auswärtige Amt noch der
Menschenrechtssprecher der Bundesregierung
fanden Zeit, den Syrern ihr
Beileid auszusprechen.
Syrien beschuldigt die Türkei,
ausländische Aufständische, Waffen,
Munition und Sprengstoff ungehindert
über die gemeinsame
Grenze nach Syrien passieren zu
lassen und damit eine aktive Rolle
in dem bewaffneten Aufstand
gegen die Regierung von Präsident
Bashar al-Assad zu spielen.
Tatsächlich unterstützt die türkische
Regierung den »Syrischen
Nationalrat« und die »Freie Syrische
Armee«, die sich ihrerseits
kategorisch gegen jede friedliche
Regelung des Konflikts wenden,
den »Sturz des Regimes« als
einzige »Lösung« propagieren und
jeden Dialog als »Verrat« denunzieren.
Zwei Tage vor den
Mehrfachanschlägen in Aleppo
hatte der syrische Außenminister
Walid Mou’allem vor der Vollversammlung
der Vereinten Nationen
in New York die Dialogbereitschaft
der syrischen Regierung
bekräftigt. Der Sprecher
des oppositionellen »Syrischen
Nationalrats«, George Sabra, wies
das Angebot mit den Worten zurück:
»Kein Syrer ist bereit, mit irgendeinem
von den Mördern in der
syrischen Regierung zu verhandeln,
die für jeden einzelnen Tropfen
Blut verantwortlich sind, der
in Syrien vergossen wurde.«
In der letzten Septemberwoche hatten 16 Oppositionsgruppen
in Syrien auf einer
Konferenz gemeinsame
Initiativen für einen Waffenstillstand vereinbart
und eine weitere, alle Gruppen der Opposition
umfassende Konferenz angekündigt, für die von keiner
Seite Vorbedingungen gestellt
werden dürften. Während des
mehrtägigen Treffens waren auch
Deserteure der syrischen Armee
aufgetreten, die sich den bewaffneten
Aufständischen im Süden des Landes und in Aleppo angeschlossen
hatten. Sie hätten eingesehen,
dass der Konflikt in Syrien
nicht bewaffnet gelöst werden
könne, sagten die Männer. Sie
seien dem Aufruf des Ministeriums
für Nationale Versöhnung gefolgt,
hätten sich gestellt und ihre
Waffen abgegeben. Sie wollten
ihr Land nun politisch und im
nationalen Dialog verändern, nicht
durch Gewalt. Vertretern des neuen
Ministeriums für Nationale
Versöhnung gelingt es im Verein
mit lokalen Bürgerinitiativen und
Ältestenräten immer wieder, Entführte
zu befreien und Bewaffnete
zu überzeugen, ihre Waffen
abzugeben. Fast täglich werden
Gefangene freigelassen. Der Sprecher
des syrischen Parlaments, Al-
Laham, rief die Parlamente der
Welt auf, sich dafür einzusetzen,
dass keine Waffen mehr nach Syrien
geschmuggelt werden. Sowohl
aus der Türkei als auch aus
Jordanien sind wiederholt Delegationen
nach Damaskus gereist,
um ihre Unterstützung für eine
friedliche Lösung zu zeigen.
In Kairo fand derweil ein Treffen
des regionalen Quartetts –
Ägypten, Türkei, Iran, Saudi Arabien
– auf Außenministerebene
statt, das nach einem Ausweg aus
dem syrischen Chaos sucht, der
allen beteiligten Seiten ermöglicht,
ihr Gesicht zu wahren. Russlands
Außenminister Sergej Lawrow
erklärte in einem Interview
mit der russischen Tageszeitung
»Kommersant«, wer in erster Linie
syrisches Leben retten wolle,
sei verpflichtet, die Vereinbarung
von Genf umzusetzen, die in
der westlichen Diplomatie weitgehend
in Vergessenheit geraten
zu sein scheint. Ende Juni hatten
sich die Außenminister der
Vetomächte im UN-Sicherheitsrat
mit dem damaligen Sonderbeauftragten
für Syrien Kofi Annan
auf einen Waffenstillstand in Syrien
und Verhandlungen über eine
Übergangsregierung unter Einbeziehung
der Opposition geeinigt.
Dazu müsse man sich für einen
Waffenstillstand und einen
Dialog einsetzen. Wer aber in erster
Linie das syrische Regime stürzen
wolle, fuhr Lawrow fort, werde
den Syrern nicht helfen. Der
Außenminister kritisierte den UNSicherheitsrat,
sich nicht aktiv genug
für die Umsetzung der Genfer
Vereinbarung, einen Waffenstillstand
und einen Dialogprozess
einzusetzen. Das »schürt und
verlängert den Bruderkrieg«.
** Aus: neues deutschland, Freitag, 5. Oktober 2012
Am Rande des Krieges
Türkisches Parlament ermächtigt Armee zu Vorgehen gegen Syrien
Von Roland Etzel ***
Syrien hat sich nach Angaben der türkischen Regierung für den Beschuss eines türkischen Grenzortes am Mittwoch entschuldigt. Dennoch ermächtigte das Parlament in Ankara die Streitkräfte zu einer Militärintervention. Der NATO-Rat verurteilte Syrien scharf, Russland mahnte zur Ruhe.
Der schwere Zwischenfall an der syrisch-türkischen Grenze vom Mittwoch hat das ohnehin gespannte Klima zwischen beiden Staaten bis aufs Äußerste verschärft. Von syrischem Gebiet aus war am Mittwochnachmittag eine Granate auf Akcakale nördlich der Grenze abgefeuert worden und hatte in der vorwiegend von Arabern und Kurden bewohnten Stadt fünf Menschen getötet, sämtlich Zivilisten.
»Die syrische Seite hat eingestanden, was sie getan hat, und sich dafür entschuldigt«, sagte der stellvertretende Regierungschef Besir Atalay laut AFP am Donnerstag vor Journalisten in Ankara. Dass der Schuss auf Akcakale nicht vorsätzlich abgegeben wurde, wie die syrische Seite beteuert, wurde von Atalay in seiner Stellungnahme nicht in Frage gestellt. Dem Vernehmen nach hatte es in Grenznähe auf syrischer Seite Kampfhandlungen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen gegeben. Die Rebellen operieren häufig von türkischer Seite aus und ziehen sich auch dorthin zurück, wenn sie verfolgt werden. Das macht die Grenze seit langem zu einem permanenten Unruhegebiet.
Derlei Argumente fanden in der Stellungnahme des NATO-Rates vom Donnerstag keinerlei Berücksichtigung. »Mit Empörung«, heißt in dem Papier, habe das Bündnis auf den Beschuss türkischen Gebiets durch Syrien reagiert und der Türkei seine Unterstützung zugesichert. Weitergehende Erklärungen, wie sie die Türkei nach Diplomatenangaben gewünscht hatte, gab es nicht.
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderte Syrien auf, die »territoriale Unversehrtheit und Souveränität aller Nachbarländer« zu respektieren. US-Außenministerin Hillary Clinton hatte gesagt, dieser neue Zwischenfall zwischen den Nachbarstaaten sei »sehr, sehr gefährlich«. Paris, das dem Vernehmen nach ein militärisches Ultimatum gegen Syrien vorgeschlagen hatte, konnte sich damit aber vorerst nicht durchsetzen.
Frankreichs Außenminister Laurent Fabius forderte eine Verurteilung Syriens in der UNO »auf das Schärfste«. Russland hatte daraufhin weitere Beratungen verlangt, so dass es eine Abstimmung vor gestern Abend nicht möglich war. Moskau hatte Damaskus zuvor aufgefordert, sich bei der Türkei zu entschuldigen, und brachte den Gedanken einer internationalen Untersuchungskommission ins Spiel. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ gestern erklären, dass sie »an der Seite der Türkei« stehe.
Iran rief laut der Nachrichtenagentur Fars beide Seiten zur Zurückhaltung und zur Untersuchung des Vorfalls auf. Im Grenzgebiet gebe es »bewaffnete Extremisten und Terrorgruppen«, verlautete aus dem Außenministerium.
Die Türkei hatte bereits am Mittwochabend sogenannte Vergeltungsschläge angekündigt und unmittelbar darauf ausgeführt. Artillerie habe am Donnerstagmorgen Gebiete bei Tell Abjad unter Feuer genommen, hieß im türkischen Fernsehen. Mindestens fünf syrische Soldaten seien dabei gestorben. Noch während »Vergeltungsangriffe« durch die türkische Artillerie anhielten,
ermächtigte das Parlament in Ankara die Streitkräfte zu einer »direkten Intervention im Nachbarland«. Dafür wurde eine Frist für die kommenden zwölf Monate eingeräumt. Der stellvertretende Ministerpräsident Atalay sagte, diese Entscheidung sei »kein Kriegsmandat«, sondern sie werde einen abschreckenden Effekt haben.
Nahe Syriens Hauptstadt Damaskus gingen die Kämpfe unterdessen weiter. Explosionen und Schüsse seien zu hören, hieß es. Ein Sprengstoffanschlag, zu dem sich Rebellen im Internet bekannten, tötete mindestens 21 Mitglieder der Republikanischen Garde in deren Unterkunft. Die Offensive der Streitkräfte in der zweitgrößten Stadt Aleppo hielt an.
*** Aus: neues deutschland, Freitag, 05. Oktober 2012
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