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Idylle mit Brandherden

In Dschisr al-Schogur sollen viele syrische Soldaten getötet worden sein

Von Karin Leukefeld, Dschisr al-Schogur *

Im syrischen Dschisr al-Schogur sollen Anfang Juni zahlreiche Soldaten getötet worden sein. Die Regierung behauptet, Extremisten hätten in dem Ort 120 Angehörige der Sicherheitskräfte massakriert. Westliche Medien zitierten dagegen Aussagen, es sei zu einem Gefecht zwischen den Soldaten gekommen, nachdem sich einige geweigert hätten, auf Zivilisten zu schießen. Nun besuchten ausländische Journalisten den Ort.

Dschisr al-Schogur ist etwa fünf Autostunden von Damaskus entfernt. Es ist früh am Morgen, als der kleine Konvoi mit Journalisten und Mitarbeitern des Informationsministeriums sich auf den Weg macht. Bei Hama verlassen die drei Fahrzeuge die Autobahn. An einem unscheinbaren Militärposten übernimmt ein weißes Armeefahrzeug mit zivil gekleideten Männern die Führung. Keiner stellt sich vor, alle mustern aufmerksam die ausländischen Journalisten, die herausfinden wollen, was in ihrer Heimat geschieht. Über eine Nebenstrecke geht die Fahrt durch eine fruchtbare Acker- und Wiesenlandschaft. Einige Felder sind abgebrannt, Hunderte Störche staksen darauf herum. »Es ist eine schlechte Angewohnheit, diese Felder abzubrennen«, bemerkt eine der begleitenden Übersetzerinnen. »Die Bauern machen das nach der Ernte, um leichter umpflügen zu können.« Und was, wenn das Militär die Felder angezündet hat, um die Bauern zu bestrafen? Das hatten doch kürzlich Anwohner den westlichen Medien berichtet. Und auch ein westlicher Diplomat hatte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von einer »Politik der verbrannten Erde« bei Dschisr al- Schogur gesprochen.

Militärposten sichern das Gebiet

Es ist Mittagszeit. Still liegen die Dörfer versteckt hinter Oleander und Eukalyptusbäumen. Auf den Feldern ist kein Mensch weit und breit zu sehen, obwohl höchste Erntezeit ist. Sind etwa alle Bewohner vor dem Militär geflohen, das hier mordend und verwüstend gegen die Protestbewegung vorgegangen sein soll, wie westliche Medien schreiben?

Auf einem Verkehrsschild steht: Dschisr al-Schogur 35 Kilometer. Kurz darauf gibt es die erste Straßensperre des Militärs. Die Soldaten salutieren und winken die Fahrzeuge durch, offenbar hat man sie von der Journalistengruppe unterrichtet. Auf den nächsten Kilometern nimmt die militärische Präsenz zu, Panzer stehen an schmalen Straßen, die in die Berge führen. Kleinere Zeltlager ducken sich auf abgelegenen Feldern, nur vereinzelt sind Soldaten zu sehen. Dann liegt Dschisr al-Schogur vor uns. Der Name heißt so viel wie: »Brücke über dem freien Platz«. Durch das Tal fließt der Orontes, arabisch: Al Assi, der Ungehorsame. Er wird so genannt, weil er – untypisch für die Region – von Süden nach Norden fließt.

Erste Station ist das örtliche Krankenhaus, wo sich in einem Nebengebäude die Militärkommandantur einquartiert hat. Bei einem inoffiziellen Gespräch erfahren die Journalisten, dass das Militär erst eingeschritten sei, als bewaffnete Milizen öffentliche Gebäude, wie die Post, das Gericht und eine Niederlassung des militärischen Geheimdienstes, angegriffen, in Brand gesetzt und 120 Soldaten und Sicherheitskräfte ermordet hätten. Einige seien schrecklich verstümmelt worden. Normalerweise sei die Armee in dieser Gegend nicht stationiert, sagt der Offizier. Man sei erst angerückt, als der Stadtrat um Hilfe gerufen habe. »Bewaffnete Islamisten« hätten »die friedlichen Proteste der Bevölkerung ausgenutzt« und versucht, ein »Islamisches Emirat« zu errichten. Gleiches hätten sie auch für den Küstenort Banias angekündigt. Erstmals seien diese Bewaffneten in Daraa, an der jordanischen Grenze, gesichtet worden, später in Tel Kalagh, Banias und dann in Dschisr. Nun hätten sie sich an der Grenze zur Türkei verschanzt, das Militär verfolge sie.

Mittlerweile hat ein Arzt des Krankenhauses den Raum betreten. Tiefe Ringe liegen unter seinen Augen, er bittet um Anonymität. Schon zwei Wochen bevor das Militär gekommen sei, hätten die Bewaffneten das Krankenhaus eingenommen und das Personal aufgefordert, Verletzte zu versorgen. Einige seien »Leute aus Dschisr« gewesen, die anderen »Fremde«. Sie hätten Krankenwagen beschlagnahmt und die Bevölkerung eingeschüchtert. Viele Menschen seien zu Verwandten nach Aleppo oder in die umliegenden Dörfer geflohen. Eine Gruppe angesehener Persönlichkeiten aus den Moscheen der Stadt und den umliegenden Dörfern, Anwälte und Ärzte, wurde zusammengerufen, um die Anliegen dieser Männer zu erfahren und sich friedlich zu einigen, berichtet später der Rechtsanwalt Zakwan Assi von der örtlichen Baath Partei. Vergeblich.

Als die Journalisten aufbrechen, um das zerstörte Postgebäude, das Gericht und die kleine Kaserne am Rande der Stadt zu sehen, setzt sich jeweils ein Lkw mit Soldaten vor und hinter den Konvoi. Bei jedem Halt springen sie ab, um den Ort zu sichern, aber niemand wird gehindert, Kontakt mit den Ausländern aufzunehmen. Viele Menschen sind nicht auf der Straße, es ist früher Nachmittag. Einzelne kommen und erzählen bereitwillig, andere bleiben mit ernsten, fast feindseligen Gesichtern auf Distanz.

Explosionen zerstörten Gebäude und Kaserne

Im Gerichtsgebäude ist der Boden der Eingangshalle offenbar durch eine Explosion zerstört, das Zimmer des Vorsitzenden, Archive und die Zahlstelle sind völlig ausgebrannt. Bei der Kaserne am Rande der Stadt, wo die meisten Soldaten gestorben sein sollen, erzählt Hamed Said Telcu (55), was er am 4. und 5. Juni vom Balkon seiner Wohnung sah, die der Kaserne gegenüber liegt. Die Bewaffneten hätten die Kaserne umzingelt und beschossen, seien dann mit einem Bulldozer durch ein Zugangstor eingedrungen und hätten mit Sprengstoff Teile des Objektes zerstört. Insgesamt 35 Stunden hätten die Soldaten sich verteidigt, dann seien sie überrannt und getötet worden. Aus Angst vor Vergeltung der Armee, die zwei Tage später in Dschisr eingetroffen ist, sei seine Frau mit zwei ihrer fünf Kinder in die Türkei geflohen, erzählt Hamed Said.

Am Abend kommen die Menschen aus ihren Häusern. Mütter spazieren mit ihren Kindern und erfrischen sich an der kühlen Luft. Eine Frau wettert, wenn die ausländischen Medien doch nicht berichten würden, was sie hier zu sagen habe, sollten sie doch fortbleiben. Ihre Hände zittern, sie ist weiß im Gesicht. Sie sei vor den Bewaffneten nach Aleppo zu Angehörigen geflohen, erzählt sie, als sie sich wieder beruhigt hat. »Die Armee hat uns geholfen, egal, was Ihre Medien berichten.« Ein Trupp Kinder kommt auf die Kameras zugelaufen, die Knirpse postieren sich und schmettern mit aller Kraft die Parole: »Syrien, Allah und Bashar«, die Hände mit Siegeszeichen strecken sie in die Luft. Dann singen sie die Nationalhymne, die von den Hauswänden der engen Gasse widerhallt.

Der Abendhimmel glüht rot, als der Konvoi durch die Dörfer zurückfährt. Anders als am Mittag sind nun viele Menschen unterwegs. Das Vieh wird nach Hause getrieben, die Jugend trifft sich vor Cafés, auf knatternden Mopeds und Motorrädern fahren ganze Familien die Straße entlang. Als sich die Dunkelheit über das Land legt, brennen wieder die Stoppelfelder.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2011


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