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Eine Strafaktion mit unabsehbaren Folgen

Friedrich Schorlemmer über den drohenden Militärschlag gegen Syrien


Friedrich Schorlemmer, geb. 1944 in Wittenberge (Prignitz), ist Pfarrer und Bürgerrechtler, Pazifist und Publizist. Zuletzt veröffentlichte er 2012 im Aufbau-Verlag sein Buch »Klar sehen und doch hoffen – Mein politisches Leben«.

Von vorn nach hinten und von hinten nach vorn die UN-Charta durchsuchend, finde ich keinen Hinweis auf eine völkerrechtlich legitimierte militärische Strafaktion gegen ein Land, schon gar nicht eine Ausnahmeregelung für einen selbsternannten Großmacht-Weltpolizisten. Zugleich vermisse ich international abgestimmte Reaktionen auf einen Einsatz von Giftgas, gleich in welchem Konflikt, gleich durch wen.

Welch unsteuerbarer Flächenbrand kann in einem Eskalationsmechanismus ausgelöst werden? Wer davor zurückschreckt, ist nicht feige, sondern mutig. Wenn Obama länger zauderte, in einem Bürgerkriegsland, mitten in einer waffenstarrenden, hassgeladenen Weltregion militärisch einzugreifen, dann war das nicht als Weichheit, sondern als Klugheit anzusehen. Und nun ist er Opfer seiner eigenen Ankündigungen geworden. Was aber wird, wenn sein »chirurgischer Eingriff« misslingt, weiß niemand vorherzusagen. Düsterste Szenarien sind nicht auszuschließen. Es ist wohl richtig, den US-amerikanischen Kongress in Mitverantwortung und Mithaftung zu nehmen, auf die öffentliche Debatte im Lande ebenso zu hören wie auf das differierende Urteil von Nahostkonfliktexperten und selbst von Militärs.

Es wurde ein so seltener Sieg des Parlamentarismus, als das britische Parlament mehrheitlich gegen einen Militäreinsatz votierte, über Parteigrenzen hinweg. Die Regierung erlitt im Parlament eine Niederlage. Der Premier beugt sich dem. Das steht ihm letztlich gut zu Gesicht. Der Bundespräsident erklärt in Paris selbstentschuldigend, Deutschland könne wegen seiner Geschichte nicht militärisch mitmachen. Würde aber gerne?

Friedensnobelpreisträger Obama ist nicht zu beneiden. Aber er hat sich selbst in ein Dilemma hineinmanövriert.

Wenn die Amerikaner letztlich im Alleingang eine sogenannte Strafaktion in Syrien ausführen sollten, dann wäre das ein weiterer Schritt bei der Ignorierung des Völkerrechts und der Unterminierung der Vereinten Nationen. Auch eine »chirurgische« Strafaktion macht Racheakte wahrscheinlich, die unkalkulierbar sind und wieder Gegenmaßnahmen, also neue Strafaktionen, provozieren. Weiter anschwellende Flüchtlingsströme sowieso, die das Zeug haben, die Anrainerstaaten zu destabilisieren.

Und wer wird geschädigt und getötet, wenn man vermutete Chemiewaffenarsenale zerbombt, deren Einsatz in der Tat ein barbarischer Akt war, gleich von welcher Seite er ausgegangen ist?

Wenn die Untersuchungen der UNO seitens der Amerikaner als irrelevant bezeichnet werden, dann scheinen sie die ganze UNO für irrelevant zu halten. Wenn die USA wieder auf ihre eigenen Geheimdienste bauen, so ist der kritischen Weltöffentlichkeit gut in Erinnerung geblieben, welche »glasklaren Beweise« einst Colin Powell über Massenvernichtungswaffen in Irak 2003 vorgelegt hatte. Der der Öffentlichkeit zugängliche Teil der Geheimdienstberichte über Assads Schuld bleibt in der Sprache der Vermutungen. Man spricht davon, dass man »mit hoher Wahrscheinlichkeit ... davon ausgehen müsse, dass ...«

Das sind keine Beweise. Warum, frage ich, wurden politische Gespräche durch die USA verschoben und wer oder was hat den amerikanischen Präsidenten – immerhin einen Friedensnobelpreisträger – dazu gebracht, in den letzten Monaten nicht auf weitere diplomatische Schritte und auf eine erneute Syrien-Konferenz zu setzen? Schließlich fragt sich der normale Bürger, wo denn in diesem Falle die überall präsenten Aufklärungsdrohnen, wo die rechtzeitigen Informationen der weltweit agierenden NSA-Abhörer geblieben sind?

Zudem ist der Präsident offenbar umstellt von einem Kabinett, das dem Militärischen den Vorrang gibt: von seiner Sicherheitsberaterin, seinem Außenminister, seinem Verteidigungsminister.

Monatelang ist auch die Propagandamaschinerie angeworfen worden, bis hin zu gestanzten Sprachregelungen. Man spricht schon seit längerem nirgendwann mehr von der syrischen Regierung, sondern nur noch vom »Assad-Regime«. (Es liegt noch keine zehn Jahre zurück, da hatten die USA Al-Qaida-Verdächtigte nach Syrien und Libyen ausgeflogen, um dort Geständnisse zu erpressen, die man aufgrund von Foltermethoden zu gewinnen hoffte, die in den USA gesetzlich untersagt sind.)

Assad ist verbrecherisch, aber nicht halsbrecherisch. Er ist gerade im Vormarsch gegen das unübersichtliche Kräftekonglomerat der sogenannten Rebellen. Warum sollte er jetzt Chemiewaffen einsetzen und seinen militärischen Erfolg durch Interventionsdrohungen gefährden? Dieser Diktator geht über Leichen, aber er ist nicht dumm. Geheimdienste suchen nur nach Bestätigung ihrer Ausgangsthesen. Am windigsten ist der »Beweis« des BND mit seinem abgehörten Telefonat.

Schließlich muss man fragen, warum ein klar denkender Diktator den UN-Experten Zugang zu seinem Land geben sollte, wenn er etwas zu verbergen hätte. Die UN-Experten sind gewiss keine Gruppe von Trotteln. Vor allem sind sie unabhängig. Das passt denen nicht, die sich von ihren eigenen Propagandaparolen abhängig gemacht haben.

Außenminister Kerry behauptet, die UNO habe sich als handlungsunfähig erwiesen und die USA hätten eine legitime Abschreckungsabsicht, die Signalcharakter habe. Russland wird permanent unterstellt, es hätte Interessen, als wenn die Amerikaner dort keine Interessen hätten! Die Russen waren es schließlich, die monatelang darauf bestanden hatten, alles dafür zu tun, dass eine zweite Syrien-Konferenz zustande käme. Doch die Propagandamaschine läuft seit längerem auf Hochtouren. Der Schuldige für alle Verbrechen im Bürgerkrieg ist immer schon ausgemacht. Es fehlen nur noch »Beweise«. Verteidigungsminister Hagel hat Obama vor Wochenfrist mehrere Optionen vorgelegt und erklärt, er warte nur noch auf den Befehl des Präsidenten. Offensichtlich gibt es in der Region Zerstörer und Flugzeugträger, die endlich einmal wissen und zeigen wollen, wozu sie da sind. Die Rüstungsindustrie kann zudem wieder größere Aufträge erwarten.

Was von Geheimdienstberichten zu halten ist, ist jedem wachen Bürger spätestens seit dem Januar 2003 klar, als Powell mit 16 gefälschten oder falschen Informationen die UN zu einem Krieg gegen Irak vorbringen wollte. Geheimdienste liefern stets, was man von ihnen erwartet!

Die USA können für ihre »Beweise« die Ergebnisse der UN-Mission nicht brauchen und halten die UNO für handlungsunfähig. Das ist Großmacht-Arroganz und Demütigung der UNO-Institutionen, deren Unabhängigkeit den Amerikanern nicht ins Konzept passt. Die UNO wird so systematisch und nachhaltig geschädigt, ganz so wie in Kosovo oder Irak. Das Gravierendste scheint mir, dass einer Strafaktion Racheakte folgen, die eine unabsehbare Eskalationsspirale in Gang setzen.

Ich jedenfalls bin nicht enttäuscht, dass der amerikanische Präsident zaudert. So wurde bisher einer politischen Lösung ein letztes Schlupfloch gelassen, was nicht bedeutet, einfach tatenlos zuzulassen, dass in Konflikten die seit 1925 geächteten Chemiewaffen eingesetzt werden. Von wem auch immer.

Es ist geradezu lächerlich, wenn nicht zynisch, wenn nun plötzlich von »sehr zuverlässigen und glaubwürdigen Nichtregierungsorganisationen« und von sozialen Netzwerken gesprochen wird, die den Chemiewaffenangriff durch Assads Truppen bestätigen. Seit wann nutzen amerikanische Quellen Nichtregierungsorganisationen und wer hat so minutiös 1429 Tote zusammengezählt?

Schließlich sei an alte Regeln über den sogenannten gerechten Krieg erinnert: legitime Autorität, gerechter Grund, gerechte Absicht, letztes Mittel, begründete Hoffnung auf Erfolg, verbunden mit der Erwartung, dass nach einem Krieg ein besserer Zustand erreicht wird als vor dem Krieg, wo Krieg nicht das Potenzial zu einem erneuten Krieg enthält.

Die letzten fünfzig Jahre zeigen, dass insbesondere der Nahe Osten militärisch nicht zu befrieden ist und alle vor eine wahre Herkulesaufgabe gestellt sind, die nicht mit Raketen, schon gar nicht mit Massenvernichtungswaffen, zu lösen ist.

Die politische Klugheit und Verantwortung in einer so explosiven Weltregion muss heißen: lieber hundert Mal verhandeln, als sich ein Mal zu früh mit Waffen in den Konflikt verwickeln zu lassen. (59 Prozent der US-Bürger sind strikt gegen militärische Intervention, nur 36 Prozent dafür. Leidtragende werden die verängstigten Syrer sein, nicht das »Assad-Regime.«)

Zudem kann die Eskalationsdynamik diese Weltregion ins Chaos stürzen und enthält Risiken für den Weltfrieden. Was würde etwa ein staatlicher Zusammenbruch in Syrien für Israel bringen? Welche Kräfte kommen nach vorn, wenn der zweifellos skrupellose Diktator entmachtet würde?

Die syrischen Muslimbrüder sind noch viel radikaler und gewalttätiger als die ägyptischen. Und Al-Qaida hat die Rebellengruppen durchsetzt.

Nicht Krieg, sondern Konferenz mit jedem nur denkbaren politischen Druck bleibt das Gebot der Stunde.

Politische Veränderung in Syrien muss von den Syrern herbeigeführt und stabilisiert werden. Interventionisten haben stets Hunger nach Krieg, ohne genau zu fragen, wohin der Krieg sie, die Weltregionen, ja die ganze Welt, führt. Mit vielen anderen zusammen bestehe ich auf der Erkenntnis: Krieg ist keine Lösung, sondern wird das Problem, als dessen Lösung er ausgegeben wird. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn Israel einbezogen wird oder wenn Iran eingreift. Einhalten und mit den Gegnern reden ist allemal besser als »Abschreckung« durch Strafaktions-Bomben. Die Lunte würde an einen hochexplosiven Kessel gelegt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. September 2013


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