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Eid-Fest im Krieg

Keine Feuerpause zum Ramadan-Ende: Aufruf gemäßigter syrischer Oppositionsgruppen an Aufständische und Armee bleibt erfolglos

Von Karin Leukefeld, Damaskus/Beirut *

Eid Kerim! Alles Gute zum Eid-Fest, bereiten Funk und Fernsehen die Syrer auf das ersehnte Ende des Fastenmonats Ramadan vor. Fernsehköche erläutern, wie zum Eid-Al-Fitr die köstlichsten Leckereien zubereitet werden, Restaurants und Hotels werben mit Sonderangeboten, in den späten Abendstunden füllen sich wieder die Straßen und Märkte der syrischen Städte, um kleinere oder größere Geschenke einzukaufen. Traditionell werde Kleidung für die Kinder gekauft, erzählt Dschihad aus dem Palästinenserviertel Jarmuk in Damaskus. Nur wenige Geschäfte in der Lubia-Straße haben geöffnet, die stadtweit als eines der preisgünstigsten Einkaufszentren für moderne Mode bekannt ist. »In diesem Jahr werden kaum Menschen kommen«, ist Dschihad überzeugt, der in Damaskus Journalistik und Medienwissenschaften studiert. »Die Menschen haben keine Arbeit, kein Geld, also werden sie nichts kaufen.«

In den angrenzenden Vierteln Tadamoun und Hadsch Al-Aswat war es in den letzten Wochen immer wieder zu Kämpfen zwischen bewaffneten Aufständischen und der regulären syrischen Armee gekommen. Jarmuk hat viele von dort geflohene Familien aufgenommen. »Wir versuchen, sie mit einem Dach über dem Kopf, Essen und Wasser zu versorgen«, sagt Samer, der für eine palästinensische Wochenzeitung arbeitet. »Die UNO zögert zu helfen, was für eine unsägliche Bürokratie!« Das UN-Hilfswerk für Flüchtlinge (UNHCR) ist für Inlandsvertriebene formal nicht zuständig, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser (UNWRA) hilft nur Palästinensern, nicht den Syrern. Weil aber Hilfe sofort gebraucht wird, krempeln palästinensische Volkskomitees die Ärmel hoch und organisieren unter der palästinensischen Bevölkerung Hilfe, mit beeindruckendem Ergebnis.

Hilfe für Flüchtlinge

Der Countdown für das Eid-Fest hat begonnen, doch die letzten Tage des Fastens müssen die Menschen noch durchhalten. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang darf nicht gegessen oder getrunken werden, bei bis zu 40 Grad Hitze am Tag ist das eine große Herausforderung. Senkt sich die Sonne am westlichen Horizont, fiebern die Menschen dem Iftar entgegen, dem Fastenbrechen. Die Straßen in der Damaszener Innenstadt leeren sich, die Menschen eilen nach Hause, um sich auf das gemeinsame »Frühstück« vorzubereiten. Es ist fast unmöglich, ein Taxi zu bekommen, um nach Tijara, einem Stadtviertel im Osten der Stadt, zu fahren. Wo man hin wolle, fragen die Fahrer, liegt das Ziel nicht auf ihrem Nachhauseweg, winken sie ab. Andere versuchen, aus der Not Profit zu schlagen: »Einhundertfünzig« will ein Fahrer für den Weg haben, der normalerweise 100 syrische Pfund, etwa 1,25 Euro, kostet, »Zweihundert« fordert der nächste. Schließlich gelingt es doch, Tijara zu erreichen, wo im Ibn-Haitham-Park seit Wochen Familien leben, die vor den Kämpfen aus ihren Wohnungen geflohen sind.

Frau H. steht auf ihrem Balkon und blickt auf die etwa zehn Großfamilien, die im unteren Teil des Parks leben, unweit der großen Springbrunnen, direkt an einem kleinen Teich. Zunächst hätten die Menschen in einer Schule Zuflucht gefunden, erzählt sie. Dort wurden sie mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Matratzen vom Syrischen Arabischen Roten Halbmond und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz versorgt. Dann gefiel es den Menschen in der Schule nicht mehr, und sie zogen um in den Park. »Sie kommen hierher, weil hier viele Christen leben. Hier bekommen sie Essen und Kleidung, manche geben ihnen auch etwas Geld.«

Manche Familien zählen bis zu 14 Personen, wie die von Ahmed Mohammed (24). Der junge, braungebrannte Mann sitzt aufrecht im Schneidersitz mitten auf dem Familienteppich. Auf der einen Seite sitzt seine schwangere Frau, zwei Kinder toben um das Paar herum. Auf der anderen Seite sitzt Juweid Hussein (27), sein Cousin. Er hat vier Kinder. Hinter den beiden Männern sitzen vier weitere junge Frauen. »Wir sind ohne männliche Begleitung, daher haben diese beiden Männer uns ihren Schutz angeboten«, sagt eine der Frauen. In der Nacht wechsele er sich mit seinem Cousin ab beim Wache halten, erzählt Ahmed Mohammed. »Alle jungen Männer hier machen das so.«

Er und sein Cousin stammten aus Aleppo, erzählt Ahmed Mohammed bereitwillig. Vor vielen Jahren seien sie nach Damaskus gekommen, auf der Suche nach Arbeit. Sie wohnten im Süden in Hadsch-Al-Aswat, das heißt »Der Schwarze Stein«. Als die Kämpfe begannen, seien sie davongelaufen. Tijara sei ruhig, sicher und »die Menschen helfen uns«, sagt Ahmed Mohammed. »Wir bekommen Essen, manchmal gibt man uns auch Geld.« Wer für die Kämpfe und die Unsicherheit verantwortlich sei, wisse er nicht. »Niemand ist verantwortlich. Ich weiß nur, daß wir aus Angst vor den Schießereien und Explosionen das Weite gesucht haben.« Ein Mann von der Stadtverwaltung kommt vorbei und zählt die Mitglieder der Familie. Dann bittet er sie, ihre Sachen zusammenzuräumen und in die Busse einzusteigen, die draußen vor dem Park auf sie warteten. »Wir bringen Euch in eine Schule am Friedenstor, dem Bab Salam«, erklärt er Ahmed Mohammed und seiner Familie. »Dort habt ihr ein Dach über dem Kopf, einen Raum für euch und ihr werdet medizinisch versorgt.« Sollten sie Anfang September noch immer nicht in ihre Wohnungen zurückkehren können, würden Sportstätten und Freizeitzentren geöffnet, um sie aufzunehmen.

Herr H. und sein Schwager Herr S. diskutieren mit Frauen und Kindern fast jeden Abend über die Lage im Land. Beide Familien helfen, wo sie können, doch scheint die Zukunft den Syrern längst aus den Händen genommen zu sein. Die Bevölkerung sei für die friedliche Bewegung, für Wandel und Reformen gewesen, sagen sie, »schrittweise wollten wir vorangehen.« Rasch hätten alte Feinde Syriens – die USA, Saudi-Arabien und andere – die Gelegenheit der Unruhen ergriffen und diese angefeuert. Jetzt sei die Lage sehr kritisch, »zumal auch die syrischen Sicherheitskräfte große Fehler gemacht haben«. Die Welt sei wieder gespalten in zwei Machtblöcke, die »in Syrien ihre ökonomischen Widersprüche austragen«, ist Herr H. überzeugt. »Die USA, Europa und die Golfmonarchien sprechen nicht mehr mit uns, also sprechen die Waffen.« Mit Zorn in der Stimme verweist Herr S. auf die Sanktionen, die von den USA und der EU über Syrien verhängt wurden. Sie sollen das Land in die Knie zwingen. »Die Preise steigen täglich, manches können wir nicht mehr bekommen. Durch die Kämpfe um Aleppo liegt unsere Pharmaindustrie fast brach«, sagt er. Die Arbeitslosigkeit steige, und damit würden junge Männer geradezu in die Arme der bewaffneten Gruppen getrieben, die mit Geld aus den Golfstaaten Kämpfer bezahlten und Haß schürten. »Ein zerstörtes Haus können wir bald wieder aufbauen, aber Menschen brauchen Generationen, um wieder Vertrauen zu haben.«

Internationale Medien behaupten, die Regierung kontrolliere nur noch 30 Prozent des Landes. »Selbst wenn es stimmen sollte, heißt das aber nicht, daß die anderen 70 Prozent von den bewaffneten Aufständischen kontrolliert werden«, sagt ein Gesprächspartner. Tatsächlich setzt die Armee sich mit harten Angriffen immer mehr gegen die bewaffneten Gruppen durch, die über Waffen- und Munitionsmangel klagen und eine militärisch geschützte »Flugverbotszone« fordern.

Balkanisierung des Landes

Während dieses Kampfes »scheint es, als hätten die Syrer ihre Unschuld verloren«, sagt ein Kollege vom syrischen Fernsehen. Er sei von seinen Eltern so erzogen worden, daß er Nachbarn und Klassenkameraden nie nach ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit unterschied: »Für uns sind alle Syrer.« Heute würden junge Leute sich einer Religion oder ethnischen Gruppe zugehörig fühlen und dabei vom Ausland unterstützt. Politiker und Kommentatoren spekulieren in westlichen Medien ungebremst darüber, wie Syrien zerteilt und zerstückelt werden soll.

Nach dem Motto »teile Syrien, teile den Rest« solle das Sykes-Picot-Abkommen umgesetzt werden, mit dem Großbritannien und Frankreich 1916 die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches schon einmal aufteilten, sagt George Jabbour von der Syrischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Die britische Firma Maplecroft, die für Politik und Wirtschaft weltweit Risikoanalysen erstellt, spricht von einer »Balkanisierung« Syriens: »Kurden im Norden, Drusen im Süden, Alawiten an der Küste im Nordwesten und alles andere für die Sunniten.«

Als das Taxi am frühen Morgen in Richtung Beirut startet, liegt Ruhe über Damaskus. Die nächtlichen Kämpfe in den Randbezirken und Satellitenstädten sind verstummt, Kontrollpunkte der Armee sind verschwunden. Die Autobahn ist dichter befahren als sonst. Wer es sich leisten kann, will das Eid-Fest im Libanon verbringen. Der Aufruf syrischer Oppositionsgruppen an Aufständische und Armee, die Waffen zum Eid-Fest schweigen zu lassen, blieb erfolglos …

* Aus: junge Welt, Montag, 20. August 2012


Hintergrund: Folgen der Sanktionen

Die syrische Wirtschaft hat nach 17 Monaten Unruhen und einer Reihe von EU- und US-Sanktionen schweren Schaden genommen. Die Wirtschaft sei »außer Atem und verfalle langsam, aber sicher«, sagte Dschihad Jazigi vom wirtschaftlichen Nachrichtendienst Syria Report. Das Bruttoinlandsprodukt sei demnach 2012 um acht Prozent gesunken. Besonders der Agrarsektor hat gelitten. Mangelnde Investitionen, weniger Umsatz auf dem Binnenmarkt und die Abnahme des Exports setzen die Wirtschaft unter Druck. Wurden im Exportsektor 2010 noch zwölf Milliarden US-Dollar erwirtschaftet, sind es im Vergleichszeitraum 2012 nur noch vier Milliarden US-Dollar.

Seit Mai 2011 sind die Preise um 32,5 Prozent gestiegen, heißt es in einer Studie des offiziellen syrischen Instituts für Statistik. Die Kämpfe um die Großstädte Homs, Aleppo und Damaskus beeinträchtigen wichtige Produktionszentren. Die Schulden Syriens, die 2010 bei 22,6 Prozent (vom Bruttoinlandsprodukt) lagen, könnten Jazigi zufolge für 2012 auf bis zu 50 Prozent steigen. Die staatlichen Einnahmen sanken um 40 Prozent, während die Ausgaben um 20 Prozent gestiegen sind. Die Verluste aus dem Tourismus- und Ölsektor dürften bei fünf Milliarden US-Dollar liegen, die Kosten für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur werden auf zehn Milliarden US-Dollar geschätzt. Die syrische Wirtschaftskraft liege den Angaben zufolge nur noch bei etwa 30 Prozent, das Bankenwesen sei durch die internationalen Sanktionen quasi außer Kraft gesetzt, wird ein namentlich nicht genannter europäischer Ökonom von der Nachrichtenagentur AFP zitiert.

Die private Tageszeitung Al-Watan, die von der EU wegen angeblicher Unterstützung von Präsident Baschar Al-Assad auf die Sanktionsliste gesetzt wurde, berichtete, daß nach Angaben der syrischen Wirtschaftskammer 30 Prozent der kleinen und mittleren Betriebe schließen mußten. Die Arbeitslosigkeit sei dadurch auf 25 Prozent gestiegen. Der Ölsektor produziert wegen der Sanktionen mit 182000 Barrel pro Tag nur noch etwa die Hälfte dessen, was noch 2010 gefördert wurde.

Die syrische Ökonomie wird sich mehr gen Osten orientieren. Unterstützung komme von Iran, Rußland und China, sagen Ökonomen in Syrien. Irak dürfte zu einem der größten Abnehmer syrischer Produkte werden und umgekehrt den Transfer für Ölprodukte aus Iran und Rußland nach Syrien sichern.

(junge Welt, Montag, 20. August 2012)




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