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Keine "Auflösung des Regimes" in Sicht

In Damaskus wird die Flucht des Premiers nüchtern diskutiert / Weiter schwere Kämpfe in Aleppo

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die Flucht des Regierungschefs Syriens, Riad Hidschab, ist in Damaskus Tagesgespräch. Nachahmer werden erwartet, doch eine »Auflösung des Regimes« sehen darin in der Hauptstadt nur wenige.

»Den Mann kenne ich, der hat doch früher sein Büro hier um die Ecke gehabt«, sagt der 18-jährige Ali. Er hilft seinem Vater beim Verkauf an einem Straßenstand hinter der Sulaiman Takiye Moschee in Damaskus. Auf dem Fernseher in einem nahe gelegenen Geschäft flimmert immer wieder das Gesicht von Riad Hidschab über den Bildschirm. Damals, stimmt sein Vater zu, sei der Mann Gouverneur von Qunaitra gewesen, ob Ali denn wisse, was er zuletzt gemacht habe? »Keine Ahnung«, gibt Ali verlegen zu. Politik interessiere ihn doch nicht.

Wenige Schritte weiter diskutieren einige Männer in einem Büro miteinander über Riad Fares Hidschab, der am Wochenende mit seiner Großfamilie aus Syrien floh. »Jeder, der Syrien in Richtung Türkei oder Katar verlässt, meint, das Regime wird stürzen«, sagt Hisham [1] zu seinem Onkel Mahmud*. »Diese Leute wollen sich in Sicherheit bringen und werden gut dafür bezahlt.« »Vergiss aber nicht das Hidschab Ministerpräsident, also der zweite Mann im Staat war«, wirft der Onkel ein. »Viele werden es ihm gleich tun, immerhin war er ein einflussreicher Mann.« Ein dritter Mann stimmt zu, dass der Nachahmeffekt erheblich sein könnte. Die Flucht des Ministerpräsidenten werde »psychologische Folgen« haben, sagt er. Wirklich mächtig aber sei Hidschab nicht gewesen. »Wäre das in einem westlichen Land oder im Libanon geschehen, wäre die Regierung zusammengebrochen«, ist der Mann überzeugt, der seinen Namen nicht nennen möchte. Hidschab sei weniger ein Ministerpräsident im politischen Sinne, als vielmehr der Vorsitzende des Ministerrates gewesen, ein politisch wenig einflussreicher, eher repräsentativer Posten. »Möglicherweise hat er gar nicht vor, eine herausragende Position in der Opposition einzunehmen«, meint Hisham, schließlich habe er sich nicht persönlich zu Wort gemeldet. »Vielleicht gab es Probleme bei seinem Clan in Deir Ezzor und er wollte nur sich und seine Familie in Sicherheit bringen?«

Anders als westliche Medien und Politiker es verkünden, sei das Regime durch die Flucht Hidschabs indes nicht maßgeblich geschwächt worden, sagt ein weiterer Gesprächspartner in Damaskus. Von einer »Auflösung des Regimes« könne nicht die Rede sein. Armee und Sicherheitskräfte seien den Aufständischen militärisch überlegen, das Regime werde seine Machtposition mit der Sicherung Aleppos wieder einnehmen, ist der Mann überzeugt. Letztlich gebe es zu einer politischen Lösung, wie sie in der Genfer Vereinbarung vorgesehen ist, keine Alternative. »Das Regime hat dieser Übergangsregierung zugestimmt, aber es will aus einer starken Position heraus verhandeln.«

Reporter, die mit den bewaffneten Aufständischen seit Monaten illegal nach Syrien einsickern und deren Aufmarschgebiete in Nordlibanon und der Türkei kennen, berichten, dass die Führung in den diffusen Gruppen der »Freien Syrischen Armee« immer mehr von kampferprobten Dschihadisten und Al-Qaida-Kämpfern übernommen werden. Viele jugendliche Bewaffnete fühlten sich von dem Auftreten der Söldner und Gotteskrieger angezogen, die mit ihren Kriegsgeschichten aus Afghanistan, Irak und Libyen auftrumpfen. Über Webseiten, Moscheen und andere Kanäle der Dschihadisten seien Kämpfer aus Frankreich, Irland, Deutschland, aus Jordanien, Irak, Palästinenser, aus Kuwait, Tunesien, Libyen, Saudi Arabien, Jemen, aus Pakistan und Afghanistan, selbst aus China rekrutiert worden. Sie folgen dem Aufruf, Bilad al-Sham, das Große Syrien (Syrien, Palästina, Libanon, Teile der Türkei) von »Ungläubigen« (Schiiten, Christen) zu »befreien« und dort einen »Wahren Islamischen Staat« zu errichten.

Unterdessen wurden aus der seit Wochen heftig umkämpften nördlichen Millionenstadt Aleppo Gefechte aus den Vierteln Bab Antakia, Asisija, Bab Dschenin und Sabah Bahrat im Zentrum sowie in der Nähe des Justizpalastes im Westen gemeldet. Erstmals gab es den Angaben zufolge Gefechte im nordwestlichen Stadtteil Aschrafijeh, nachdem Rebellen dort einen Armeeposten angriffen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London mitteilte.

Angesichts der zunehmenden Gewalt in Aleppo zogen die Vereinten Nationen ihre Beobachter aus der Stadt ab. Die rund 20 unbewaffneten Beobachter seien am Wochenende in ihr Hauptquartier in der Hauptstadt Damaskus zurückverlegt worden, sagte eine UNO-Sprecherin in New York.

[1] Namen von der Redaktion geändert

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 8. August 2012


Iran fordert Dialog in Syrien

Assad empfängt Diplomaten aus Teheran. Kämpfe in Aleppo. WHO meldet Medikamentenmangel **

Am Dienstag hat Syriens Staatschef Baschar Al-Assad einen Spitzenvertreter des Iran empfangen. Das Staatsfernsehen zeigte erstmals seit über zwei Wochen Bilder von Assad, der den iranischen Gesandten Said Dschalili traf. Dschalili kam in Damaskus mit Assad und Mitgliedern der syrischen Führung zusammen. Laut iranischen Medienberichten sagte er bei seiner Ankunft: »Die Lösung für den Syrien-Konflikt muß aus Syrien selbst und auf dem Weg des nationalen Dialogs kommen, nicht durch die Intervention äußerer Kräfte.« Dschalili ist der Beauftragte des geistlichen Oberhaupts des Iran, Ayatollah Ali Chamenei. Im Libanon hatte er zuvor erklärt, der Konflikt müsse »nach demokratischen Regeln« und »nicht mit Waffenlieferungen und Blutvergießen« beigelegt werden. Den USA warf er vor, die Region durch Waffenlieferungen an die syrischen Aufständischen zu destabilisieren.

Aus Aleppo wurden erneut Kämpfe in mehreren Stadtvierteln gemeldet. Aufgrund der Gefechte zog die UNO ihre 20 unbewaffneten Beobachter am Wochenende aus der Stadt ab, sagte eine UN-Sprecherin in New York.

Unterdessen leidet die syrische Bevölkerung unter einem zunehmenden Medikamentenmangel. Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Dienstag in Genf mitteilte, wurden die Pharma-Fabriken bei Aleppo, Homs und Damaskus bei den jüngsten Kämpfen schwer beschädigt. Vor dem Aufstand gegen Assad habe sich Syrien zu 90 Prozent selbst mit Medikamenten versorgt, sagte WHO-Sprecher Tarik Jasarevic. Infolge von Versorgungsengpässen, Sanktionen und Zerstörungen sei die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zunehmend bedroht.

Das Welternährungsprogramm (WFP) machte unterdessen darauf aufmerksam, daß sich auch die Lebensmittelversorgung in Syrien verschlechtere. Rund 1,5 Millionen Menschen, besonders in ländlichen Gebieten, benötigen laut WFP im nächsten halben Jahr Lebensmittelhilfe. (AFP/jW)

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. August 2012


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