Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rebellen in Bedrängnis

Neue Offensive syrischer Armee. Bei bewaffneten Assad-Gegnern übernehmen zunehmend Islamisten das Kommando. In Kampfgebieten bricht Infrastruktur zusammen

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der Krieg in Syrien scheint in eine entscheidende Phase zu treten. Auf Regierungsseite gibt es parallel zu einer militärischen Offensive von Armee und Luftwaffe eine politische Initiative und den erneuten Aufruf zum Dialog. Auf seiten der bewaffneten Aufständischen scheint die Ende 2012 erstmals aufgetretene Syrische Islamische Front zusammen mit der Al-Nusra-Front den Ton anzugeben. Syrische bewaffnete Gruppen müssen sich zwischen islamistischer Dominanz und dem zunehmenden Ruf nach einem Ende der Kämpfe entscheiden.

Die Militäroffensive hat ihre Schwerpunkte in und um Aleppo, in der Provinz Idlib und im nahe der jordanischen Grenze gelegenen Daraa. Die heftigen Kämpfe in der Umgebung von Damaskus haben am Montag nachgelassen. In den vorherigen Tagen waren heftige Detonationen zu hören und Angriffe der Luftwaffe zu beobachten. Die offiziellen Angaben stimmen weitgehend mit dem überein, was Bewohner berichten, die aus den umkämpften Gebieten geflohen sind. Fast täglich gibt es Explosionen in der Hauptstadt. An zwei aufeinander folgenden Abenden wurden im Gewürzmarkt der Damaszener Altstadt und nahe am historischen Hejaz-Bahnhof Sprengsätze gezündet. Während die Bombe im Gewürzmarkt lediglich Sachschaden anrichtete, explodierte die zweite unter einem Auto. Dem Fahrer wurden die Beine abgerissen. Am Sonntag wurde das Gebäude der staatlichen Druckerei von einer Mörsergranate getroffen. Das ausgebrochene Feuer richtete großen Sachschaden an. Zwei Arbeiter wurden verletzt.

Von den Kämpfen um Damaskus sind insbesondere die Orte Daraya, Maadamiya und Mleiha betroffen. In Daraya bekämpft die Armee seit mittlerweile drei Monaten möglicherweise mehr als 5000 bewaffnete Aufständische. Nach Einschätzung von Einwohnern, die fliehen mußten, bilden dabei ausländische Kämpfer mehr als die Hälfte der Bewaffneten. Derzeit versuchen sie offenbar, Entlastungsangriffe an anderen Orten zu starten, um durch den Belagerungsring, den die Armee um Daraya gezogen hat, entkommen zu können. Seit Oktober sind Zehntausende Einwohner aus der Satellitenstadt in die umliegenden Ortschaften oder nach Damaskus geflohen. Der Ort Jdeideh Artuz, in dem etwa 15000 Menschen leben, hat inzwischen rund 50000 Nachbarn aus Daraya aufgenommen. Die für den kleinen Ort zur Verfügung stehende Versorgung mit Strom, Wasser und Lebensmitteln ist völlig überlastet.

Die Lage in Daraya ist ein Beispiel für alle umkämpften Gebiete. Für dort verbliebene Einwohner fällt die gesamte Infrastruktur aus, was das Leben außerordentlich erschwert. Es fehlt an Strom und frischem Wasser, das mit Pumpen – die Strom oder Heizöl brauchen – in die Wassertanks auf den Dächern befördert werden muß. Benzin, Heizöl und Gas sind ohnehin knapp. Telefon- und Internetleitungen werden ebenso wie der Mobilfunk unterbrochen. Die verantwortlichen Ministerien – Elektrizität und Telekommunikation – sind deswegen zum Dauerthema in Internetblogs und bei Facebook geworden.

Wegen der unerträglichen Lebensbedingungen wurde im umkämpften Mleiha, südöstlich von Damaskus, vor wenigen Tagen auf Bitten der Einwohner der lokale Ältestenrat aktiv. Auch diese Entwicklung ist repräsentativ für viele Kampfgebiete in Syrien. Der Rat, der aus Scheichs der Moscheen, Richtern, Ärzten und anderen, allgemein respektierten, zumeist älteren Einwohnern besteht, versucht, den Abzug der bewaffneten Gruppen, aber auch der Armee zu erreichen. Während ähnliche Verhandlungen in anderen Orten erfolgreich waren, steht das Ergebnis in Mleiha noch aus. Eine ähnliche Vereinbarung in Daraya war im Oktober gescheitert.

Etliche bewaffnete Gruppen sind offenbar bereit, die Waffen niederzulegen, werden aber von den Islamisten unter Druck gesetzt, weiterzukämpfen oder selber zum Ziel von Angriffen zu werden. Syrische Aufständische, die zu den Waffen gegriffen hatten, werden zunehmend von den Islamisten beiseite gedrängt. Nach Angaben von Informationsbüros, die den Aufständischen nahestehen, soll die Syrische Islamische Front das Gefängnis von Idlib angegriffen und 300 Gefangene befreit haben. Nach offiziellen Angaben sollen »in der Nähe des Gefängnisses von Idlib (…) eine große Zahl von Terroristen getötet und Fahrzeuge mit aufmontierten Maschinengewehren zerstört« worden sein.

Der Ton verschärfte sich indes am Wochenende auch in Teheran und Tel Aviv. Der iranische Sicherheitsberater Ali Akhbar Velajati warnte, ein Angriff auf Syrien sei ein Angriff auf den Iran. Israel stationierte ein Raketenabwehrsystem im Norden des Landes. Der stellvertretende Ministerpräsident Israels, Silvan Shalom, bestätigte im Rundfunksender der Armee am Sonntag ein geheimes Treffen von Armee und Geheimdienst, das am Morgen nach den Parlamentswahlen stattgefunden habe. Dabei sei man zu der Entscheidung gekommen, einen präventiven Angriff auf Syrien zu starten, falls die Armee den Eindruck habe, daß die libanesische Hisbollah oder Al-Qaida-Gruppen in Syrien Zugriff auf die chemischen Waffen Syriens bekommen könnten.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Januar 2013


Damaskus startet Dialogoffensive

Syriens Regierung ruft Oppositionelle zu Gesprächen auf. Roter Halbmond soll Sicherheit garantieren. Assad-Gegner reagieren verhalten

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Parallel zur militärischen Eskalation hat die syrische Regierung eine neue Dialogoffensive gestartet. Der Aufruf richtet sich an die »syrischen Bürger, die zu den Waffen gegriffen haben«, wie auch an die Opposition im Ausland. Der Minister für Versöhnung, Ali Haidar, rief kürzlich bei einem Treffen zwischen der Bevölkerung und staatlichen Vertretern in Daraa alle bewaffneten Syrer auf, die Waffen niederzulegen und sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen. Die Bevölkerung selbst müsse ein Sicherheitsnetz knüpfen, so Haidar. Die schwierige Lage der Inlandsvertriebenen, die Frage von Gefangenen und Entführten müsse vorrangig gelöst werden.

Oppositionelle im Ausland, die an dem Dialog teilnehmen wollten, sollten nach Syrien zurückkehren können, beschloß der Ministerrat, der wie eine Art Krisenstab fungiert. Das Innenministerium nannte mittlerweile fünf Grenzübergänge, über die Betroffene einreisen könnten. Niemand müsse Repressionen befürchten, der Syrische Arabische Rote Halbmond (SARC) sei beauftragt, die sichere Einreise und den Aufenthalt zu gewährleisten. Der Oberste Gerichtshof erklärte am Sonntag, sollten Strafanträge der staatlichen Verfolgungsbehörden gegen Oppositionelle vorliegen, würden diese ausgesetzt, sollten die Personen nach Syrien einreisen. Justizminister Najm Al-Ahmad bestätigte die Anordnung. Wer immer an dem Dialog teilnehmen wolle, ob Einzelperson oder Partei, könne das dem beim Ministerrat angesiedelten Vorbereitungskomitee mitteilen.

Die Nachrichtenagentur dpa zitierte ein »Koordinierungskomitee für die Syrische Revolution« aus Hama mit der Bemerkung »Bei Gott, lacht nicht. Das ist kein Witz« auf einer Facebookseite. Der Vorsitzende des Demokratischen Forums, Michel Kilo, sagte dpa, er werde auf keinen Fall zurückkehren. Der Vorschlag sei nicht ernst gemeint, zumal es keine Garantien gebe. »Im Gegenteil, jedes Mal, wenn das Regime zu einem Dialog aufruft, werden noch mehr Intellektuelle festgenommen«, so Kilo. Eine nicht organisierte Oppositionelle in Damaskus reagierte mit dem arabischen Sprichwort »Gehe mit dem Lügner durch die Tür, dann siehst Du die Wahrheit«. Man könne nicht immer alles ablehnen, sondern müsse die Vorschläge der Regierung testen.

Aus Kreisen der organisierten Opposition in Damaskus waren bis Montag nachmittag keine Stellungnahmen zu bekommen. Etliche führende Oppositionsvertreter wie Abdulaziz Al-Khair vom Nationalen Koordinationsbüro für Demokratischen Wandel (NCC) sind inhaftiert. Andere führende Vertreter sind in die Schweiz gereist, um an der zweitägigen Konferenz »Für ein demokratisches Syrien und einen zivilen Staat« teilzunehmen. Gemeinsam mit im Ausland lebenden syrischen Oppositionellen und zivilgesellschaftlichen Aktivisten aus verschiedenen Ländern wollen sie Ansätze finden, um weiteres Blutvergießen zu stoppen. Prominente Redner sind der Auslandssprecher des NCC, Haytham Manna, der Vorsitzende der Organisation »Den Syrischen Staat aufbauen«, Louay Hussein, und Scheich Riad Drar von der Demokratischen Islamischen Bewegung. Die Konferenz geht zurück auf eine Vereinbarung von zehn syrischen Oppositionsgruppen, die erstmals gemeinsam im Juli 2012 mit der Zehn-Punkte-Erklärung von Sant’ Egidio (Rom) zu einem gewaltfreien Wandel in Syrien aufriefen.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Januar 2013

Moskau ruft alle zu Gesprächen auf

In einem Interview mit dem US-Sender CNN hat der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew die Position Moskaus zu Syrien bekräftigt und zu Verhandlungen zwischen der Opposition und der Regierung in Damaskus aufgerufen. Es sei nicht Aufgabe des Auslands, den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad zum Rücktritt aufzufordern, sagte Medwedew. »Ich wiederhole es noch einmal: Es ist Sache des syrischen Volkes, das zu entscheiden, nicht Sache Rußlands, nicht Sache der USA oder irgendeines anderen Landes.« Alle Staaten der »internationalen Gemeinschaft«, auch »die USA, Europa, Saudi Arabien, Katar und andere Staaten« müßten beide Seiten, auch die Opposition an den Verhandlungstisch drängen, »und nicht immer nur fordern, daß Assad gehen soll«, sagte der russische Ministerpräsident am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Bei der Umsetzung der politischen Reformen seien Assad »schwerwiegende, vielleicht tödliche Fehler« unterlaufen, sagte Medwedew weiter. »Er hätte schneller handeln müssen, um die moderate Seite der Opposition, die zu Gesprächen bereit war, für sich zu gewinnen.«

Die Leiterin der Humanitären Nothilfekoordination der Vereinten Nationen (OCHA), Valerie Amos, ist am Sonntag zu zweitägigen Gesprächen in Damaskus eingetroffen. Sie wird mit verschiedenen UN-Hilfsorganisationen im Land sowie mit Regierungsvertretern beraten. OCHA hatte die Lage in Syrien kürzlich auf Dringlichkeitsstufe drei angehoben, die höchste Stufe, die ein volles Engagement von allen UN-Hilfsorganisationen erfordert. Für die vom Krieg betroffenen bis zu vier Millionen Menschen verlangt die UNO 1,4 Milliarden US-Dollar Hilfe für die ersten sechs Monate 2013. Darüber soll am Mittwoch in Kuwait auf einer Geberkonferenz beraten werden.

Etwa die Hälfte des Geldes ist für die Inlandsvertriebenen in Syrien vorgesehen. Das wiederum will die Nationale Koalition verhindern. In einem Brief an den UN-Sicherheitsrat forderte das in Doha gegründete Gremium, das Geld nicht an Organisationen in Syrien, sondern an die Opposition zu zahlen. OCHA-Direktor John Ging zufolge flössen die Hilfsgelder in Programme, die in Syrien mit Partnerorganisationen umgesetzt würden. Frankreich drängt die Geberländer, die Gelder ausschließlich an die syrische Opposition zu zahlen.
(kl)




Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage