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Zweifel an Siegesmeldung

Syrien: Aufständische wollen die Stadt Rakka eingenommen haben

Von Karin Leukefeld *

Bei Kämpfen um die ostsyrische Stadt Rakka haben Aufständische am Dienstag nach eigenen Angaben den örtlichen Gouverneur Hassan Dschalili festgenommen. Verschiedene Medien strahlten von diesen verbreitete Aufnahmen aus, auf denen Dschalili und der örtliche Vorsitzende der regierenden Baath-Partei, Suleiman Suleiman, nebeneinander sitzen. Sie sind von einer Gruppe Aufständischer umgeben und blicken fragend auf eine oder mehrere Personen, die hinter der Kamera stehen. Unklar ist, wo die Aufnahme gemacht worden ist. Andere Videoaufnahmen zeigen, wie – angeblich auch in Rakka – eine Statue des Syrien von 1970 bis 2000 regierenden Hafiz Al-Assad gestürzt wird. Eine unabhängige Bestätigung der Angaben, die von der in London ansässigen »Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte« stammen, gibt es nicht.

Bis vor zwei Jahren lebten in der nordöstlichen Provinzhauptstadt Rakka etwa 240000 Menschen. Nach dem Überfall Aufständischer auf das rund 200 Kilometer nordwestlich gelegene Aleppo flohen ab Sommer 2012 zudem Hunderttausende Menschen in die jahrhundertealte Stadt am Euphrat.

Die Nachrichtenagentur Reuters, deren Reporter und Fotografen die Aufständischen seit Monaten begleiten, berichtete, daß die Einwohner von Rakka vergeblich versucht hätten, mit den Aufständischen zu verhandeln, ihre Stadt nicht zu betreten. Die Angreifer hätten zumindest zum Teil der Al-Nusra-Front angehört, die der Al-Qaida zugerechnet wird. Spiegel online zitierte am Dienstag einen Vertreter des Syrischen Nationalrates (SNR) aus London, der die verkündete Einnahme von Rakka als »entscheidenden Sieg« im Kampf gegen den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad feierte. Die Aufständischen hätten damit eine Verbindung zwischen bereits »eroberten Gebieten« im Osten des Landes mit den »ebenfalls gehaltenen Regionen im Norden der Provinzen Aleppo und Idlib« geschaffen, schreibt Spiegel online weiter.

Der SNR wird von der Muslimbruderschaft dominiert, die in den Provinzen Idlib und Aleppo offenbar mehrere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen konnte. Der ehemalige US-Botschafter in Syrien, Robert Ford, hatte kürzlich gegenüber einem arabischen Diplomaten zugegeben, daß in diesen Zonen Chaos und Rechtlosigkeit herrsche und sich die Lebensbedingungen dramatisch verschlechtert hätten. Ford habe auch deutlich gemacht, daß Washington die Aufständischen weiterhin anhalte, keine Gespräche mit der syrischen Regierung aufzunehmen, solange sie nicht ihre militärischen Positionen gestärkt hätten, berichtete am Montag die libanesische Tageszeitung Al-Akhbar. Entscheidend dafür sei die Einnahme von Damaskus, so Ford. Die Schlacht um die Hauptstadt sei nicht vorbei.

Die Muslimbruderschaft hatte sich im Dezember 2012 mit anderen Islamisten und Gotteskriegern in der »Syrischen Islamischen Front« zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist, im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei ein möglichst zusammenhängendes Gebiet als »befreit« vorzuweisen, um so mehr Waffen und Geld von westlichen und arabischen Staaten zu bekommen und eine Gegenregierung zu Damaskus aufzubauen. Jede angeblich erfolgreiche Besetzung, jeder Angriff auf staatliche und militärische Einrichtungen spüle Geld in die Kassen der Aufständischen und helfe, neue Kämpfer zu rekrutieren, erklärte ein arabischer Beobachter gegenüber jW. Da aber die »Eroberungen« in den meisten Fällen nicht gehalten werden konnten, verlören die Aufständischen viele Kämpfer und bei der Bevölkerung an Glaubwürdigkeit. Auch Haytham Manna, der das »Nationale Koordinationsbüro für demokratischen Wandel in Syrien« (NCC) in Paris vertritt, kritisierte gegenüber jW die »Erfolgsmeldungen« der Aufständischen: »Sie können töten, sie können vielleicht einen oder zwei Tage ein Dorf oder ein Stadtviertel besetzen. Aber sie haben keine politische Strategie, und ohne das gibt es immense Zerstörungen.«

»Die Herrschaft über die Bilder eines Krieges verschafft Einfluß auf politische Entscheidungen«, heißt es in der bemerkenswerten Dokumentation »Die Syrien-Falle« von Hubert Seipel, die die ARD am 13. Februar kurz vor Mitternacht ausstrahlte. »Falsche Informationen und psychologische Kriegsführung machen einen sehr großen Teil dieses Krieges aus«, sagt darin der frühere UN-Generalsekretär und ehemalige Syrienvermittler Kofi Annan. In Syrien sei es »bedeutend schlimmer als in früheren Kriegen, mit denen ich zu tun hatte«, so Annan weiter. »Egal ob Somalia, Ruanda, Bosnien oder der Kosovo. Das hier ist bei weitem das Schlimmste.«

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 6. März 2013


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