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Syrien: Veränderung kommt sicher, aber wie?

Bashar al-Asad riskiert den Sturz seines Regimes

Am 5. Oktober 2005 veröffentlichte die International Herald Tribune unter den Titel «Syria: It’s all over, but it could be messy» eine Analyse der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage in Syrien. Der Autor, der deutsche Politikwissenschaftler und Syrienexperte Volker Perthes, entwickelt in seinem Beitrag drei Szenarien für die unmittelbare Zukunft Syriens: Bashar al-Asad führt selbst Reformen durch um sich und sein Regime zu retten, oder er versucht die Probleme auszusitzen und riskiert die Desintegration der Gesellschaft und damit den Zerfall des Staates. Das dritte, wäre ein Militärputsch, der eine autoritäre Lichtgestalt für Syrien an die Macht bringen soll, um das Land in eine liberale und demokratische Zukunft zu führen. Auf diesen Beitrag hin folgte die Replik eines als Anonymus auf der Website www.syriacomment.com schreibenden syrischen Intellektuellen und Dissidenten sowie die Kritik von Joshua M. Landis, Professor of Middle Eastern Studies, University of Oklahoma.



Von Volker Perthes*

Das Regime Bashar al-Asads ist in seinem Endstadium angelangt, auch wenn es versuchen mag, den Exitus noch einige Monate oder Jahre hinauszuzögern. «Khalas kazoh», wie die Syrer sagen. Das Regime ist politisch und ideologisch ausgebrannt.

Daß es mittelfristig keine Überlebenschancen für das Regime gibt, ist dabei unabhängig von den Befunden, die die Ermittlungen von Detlev Mehlis zu den Umständen des Mordes am ehemaligen libanesischen Ministerpräsident Rafik Hariri erbringen werden. Sicherlich erhöhen Mehlis’ Zwischenbericht vom 20. Oktober 2005, der eine wahrscheinliche Beteiligung hoher syrischer Sicherheitsbeamter feststellt, und die darauffolgende einstimmig angenommene Resolution des UN-Sicherheitsrats, die im Falle mangelnder syrischer Kooperation mit den Ermittlern ‚weitere Aktionen‘ vorsieht, derzeit den Druck auf das syrische Regime. Mehlis’ Bericht löste bei den Syrern widersprüchliche Gefühle aus: So sahen viele die Untersuchung und die Verhandlung des Themas im UN-Sicherheitsrat als Teil eines internationalen Plans, wenn nicht einer Verschwörung, gegen ihr Land – ein Gefühl, das die syrische Führung nach Kräften zu unterstützen sucht. Andererseits war man durchaus überzeugt, daß der Bericht in der Sache wohl zutreffe. Furcht vor einem Zusammenbruch der Ordnung mischte sich mit Genugtuung darüber, daß einige jener Führungsgestalten, die in Syrien lange über jedem Gesetz gestanden haben, plötzlich zum Objekt einer internationalen Justizoperation wurden.

Selbst wenn der Abschlußbericht am 15. Dezember keinen Beweis einer direkten syrischen Beteiligung erbringen sollte, wird es für das Regime in seiner jetzigen Form nahezu unmöglich sein, seine gegenwärtige Isolation und den Legitimitätsverlust zu überwinden: Die Bush- Regierung bezichtigt es der aktiven Unterstützung des irakischen Aufstands und selbst die durchaus ernsthaften Bemühungen der syrischen Führung, die Friedensverhandlungen mit Israel wieder aufzunehmen, erhalten keinerlei Unterstützung aus Washington.

In Europa hat das syrische Regime seinen wichtigsten Fürsprecher Frankreich verärgert und die Geduld anderer Staaten, die lange versuchten, eine Form des konstruktiven Dialogs aufrechtzuerhalten, überstrapaziert. Das Verhältnis zu seinem wichtigsten regionalen Verbündeten Saudi-Arabien hat Syrien durch seine Libanon-Politik ruiniert. Syriens Isolation ist im Wesentlichen das Ergebnis eklatanter Fehleinschätzungen zentraler regionaler und internationaler Entwicklungen, wie sie erst kürzlich wieder durch die Aussage des syrischen Außenministers, Israel würde wohl niemals aus dem Gaza-Streifen abziehen, bestätigt wurden.

Als das kritischste Problem für das syrische Regime mag sich jedoch letztlich der Verlust an Vertrauen und Unterstützung großer Teile der Bevölkerung und der Eliten herausstellen: am Ende einer langjährigen – und langjährig zugunsten privater Interessen ausgenutzten – Dominanz über den Libanon stehen nun ein erniedrigender Rückzug und die erzwungene Kooperation mit einer internationalen Untersuchungskommission, die tief in die Souveränität des eigenen Landes eingreift. Vollkommen versagt hat das syrische Regime auch bei politischen Reformen. Wirtschaftlich sieht es dank des Ölgeschäfts etwas besser aus. Vor kurzem autorisierte die Regierung sogar den Verkauf von Devisen durch die lokalen Banken. Dies war zwar ein willkommener Schritt, kann aber nicht aufwiegen, daß die Syrer nicht mehr wie bislang auf den Libanon als ihre wirtschaftliche Brücke zur Welt bauen können.

Wandel durch Liberalisierung?

Der Wandel wird also kommen, doch in welcher Form? Eine starke und organisierte Oppositionsbewegung fehlt bislang [...] Drei vorstellbare Szenarien bleiben. Erstens könnte Bashar al-Asad eine gesteuerte politische Liberalisierung anstreben: Die Fehler der letzten fünf Jahre würden einigen seiner Mitarbeiter zugeschoben und diese dann abgesetzt werden. Er könnte politische Gefangene freilassen, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ankündigen. Diese würden in einem oder zwei Jahren stattfinden, um Parteien und politischen Kräften ausreichend Zeit zur Vorbereitung zu geben. Gleichzeitig müßte sich die Einsicht durchsetzen, daß die Abwendung eines Bürgerkriegs im Irak und des Zerfalls des Nachbarstaats wichtiger für die Wahrung syrischer nationaler Interessen ist als die Befriedigung, die viele in Syrien daraus ziehen mögen, die Amerikaner im Irak scheitern zu sehen. Allerdings würde dieses Szenario eine Führungsstärke voraussetzen, die Asad fehlt. Die geringe Plausibilität dieses Szenarios liegt aber nicht daran, daß Bashar al-Asad von der alten Garde umringt und durch sie beschränkt ist, wie viele ausländische Kommentatoren immer wieder vermutet haben.

Tatsächlich hat sich Asad – hier durchaus strategisch handelnd – darum bemüht, seine eigenen Leute in wichtige Positionen zu bringen und die alte Garde Schritt für Schritt auszubooten. Schon in den ersten zwei Jahren nach seiner Amtsübernahme hatte er gut zwei Drittel der wichtigsten Mitglieder der politischen Elite durch eigene Gefolgsleute ersetzt.[1] Die letzten einflußreichen Repräsentanten der Führungsriege seines Vaters pensionierte er nach dem Parteikongreß im Sommer 2005. Manche der älteren, erfahrenen Führungsmitglieder hatten von bestimmten Entscheidungen abgeraten. Der langjährige Vizepräsident Abd al-Halim Khaddam etwa soll gegen die Verlängerung der Amtszeit des libanesischen Präsidenten Lahoud gewesen sein, die Asad gegen Rafik Hariri und die große Mehrheit der libanesischen Öffentlichkeit erzwang. Das gleiche galt für Ghazi Kanaan, den kürzlich durch Selbstmord ums Leben gekommenen Innenminister. Kanaan, der von 1982 bis 2002 als Syriens Prokonsul im Libanon wirkte, wurde durch Mehlis’ Bericht nicht inkriminiert. Die alte Garde hatte Asad nicht daran gehindert, das Richtige zu tun. Im Gegenteil hätte sie ihn vor mancher Fehlentscheidung, insbesondere der Eskalationsstrategie im Libanon, dank derer Syrien nun alle seine Partner gleichzeitig vor den Kopf gestoßen hat, bewahren können. Die traurige Wahrheit ist, daß der Realitätssinn Asads und seiner Gefolgsleute nicht sehr ausgeprägt ist. Daß Asad von seinem ererbten Amt überfordert ist, merken immer mehr Syrer, hochrangige Militärs und Sicherheitsbeamte eingeschlossen. Chaos statt Wandel?

Deshalb befürchten viele Syrer ein ganz anderes Szenario: die allmähliche Desintegration des syrischen Staates. Auf dieses Szenario muß man sich tatsächlich einstellen, wenn sich nichts ändert. Sollte sich das syrische Regime im Aussitzen versuchen, werden sich seine regionale und internationale Isolation verstärken. Seine Legimitationsbasis wird weiter erodieren. Die lokale «Mafia» – jene Gruppe einflußreicher Geschäftsleute, die ihren wirtschaftlichen Erfolg der Nähe zu oder ihrer Verwandtschaft mit Repräsentanten des Regimes verdankt – bliebe unangetastet und die politische Entwicklung blockiert. Unabhängig von Konfession und Klasse werden die Syrer kein Regime akzeptieren, das das Land in eine Abschottung weißrussischen Stils manövriert. Da der Raum für die Artikulation politischer Alternativen fehlt, könnte Widerstand gegen das Regime unschöne Formen annehmen. Bereits in den letzten Monaten entstanden aus kleineren lokalen Streitigkeiten ethnisch-konfessionelle Unruhen zwischen Alawiten und Ismailiten in Zentralsyrien sowie zwischen Arabern und Kurden im Nordosten. Der Staat verliert an Autorität.

Sturz statt Chaos

Angesichts des Risikos der Desintegration ist für eine wachsende Zahl von Syrern ein drittes Szenario fast unausweichlich: der Sturz des Regimes durch einen Militärcoup. Aussicht auf Erfolg hätte ein Putsch unter zwei Bedingungen: Um Befürchtungen von Alawiten und den Fußsoldaten des Regimes vor konfessionellen Konflikten und Racheakten einzudämmen, müßte ein solcher Coup von hochrangigen Militärs angeführt werden, die wie Asad der konfessionellen Minderheit der Alawiten angehören. Eine Chance internationaler Akzeptanz haben Militärcoups im heutigen Nahen Osten wohl nur dann noch, wenn sie an ein glaubwürdiges Versprechen von Demokratisierung gekoppelt werden.

Welcher Offizier auch immer Asad und seine Entourage absetzte, müßte deshalb den vorher beschrieben Weg einschlagen: eine politische Öffnung, die eine Formierung der politischen Kräfte und tatsächliche Wahlen erlauben würde. Ein solches Programm politischer Liberalisierung würde ebenso die unentbehrliche Unterstützung der Bourgeoisie in Damaskus und Aleppo, der Beamten und Intellektuellen und wohl auch eines großen Teiles der Mitglieder der Baath-Partei gewinnen. Die Machtübernahme durch einen syrischen Musharraf ist nicht der optimale Ausweg, aber vielleicht die beste aller schlechten Lösungen [...]

Daß die Syrer einen Regimewechsel von außen begrüßen würden, ist eine Illusion. Solche Wunschvorstellungen einiger schlecht informierter Kräfte würden den syrischen Nationalismus mindestens so unterschätzen wie zuvor den irakischen. Ebenso irrsinnig wäre es, auf Vertreter jener selbsternannten Opposition zu setzen, die sich in den Washingtoner Korridoren besser auskennen als in den Straßen von Damaskus, oder auf Asads exilierten Onkel Rifaat, an dessen repressive Politik sich die Syrer aus seiner Zeit als Vertrauter Hafez al-Asads nur zu gut erinnern können.

Aus der Perspektive einer friedlichen Transformation des syrischen Regimes wäre das erste Szenario das beste für Syrien und die internationale Gemeinschaft. [...] Allerdings gab die Rede, die der Präsident am 10. November 2005 in der Universität Damaskus hielt, keinen Hinweis auf eine Kursänderung. Asad sprach vielmehr von einer Verschwörung gegen sein Land und gegen die arabische Nation, sowie von der Standhaftigkeit Syriens. Ebenso erklärte er ausländische Forderungen nach politischen Reformen für unberechtigt.[2] Wenn die Syrer erwartet hatten, daß er innenpolitische Liberalisierungsschritte ankündigen würde, sahen sie sich getäuscht. Bleibt Bashar al-Asad weiterhin auf dieser Linie, sollte der Westen sein Regime isolieren – nicht aber die Bevölkerung strafen – und seine Bereitschaft signalisieren, mit Asads Nachfolgern zusammenzuarbeiten.

Fußnoten
  1. Vgl. Volker Perthes: «Syria: Difficult Inheritance», in ders. (Hrsg.): Arab Elites. Negotiating the Politics of Change. Boulder Co., Lynne Riener, 2004, S. 87-114.
  2. Der vollständige Text der Rede findet sich in Al-Hayat, 11.11.2005.
* Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Der hier wiedergegebene Artikel von Volker Perthes ist eine erweiterte Fassung des Herald Tribune-Artikels, wie er als Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Internationale Politik IP vom Dezember 2005 erschien.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 45/Frühjahr 2006, 12. Jahrg., Seiten 4-8

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