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Das oberste Ziel heißt: Assad stürzen

In Istanbul formierte sich erstmals eine Oppositionsplattform gegen die syrische Regierung

Von Karin Leukefeld *

Der Westen dringt auf eine rasche Abstimmung über eine UN-Resolution zu Syrien, in der das gewaltsame Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten verurteilt werden soll. Die entsprechende Vorlage sollte noch am Dienstag im Sicherheitsrat zur Abstimmung gestellt werden. Die syrische Opposition traf sich derweil in Istanbul.

Im fünften Anlauf scheint es Vertretern der syrischen Exilopposition gelungen zu sein, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Am Sonntag wurde in Istanbul ein Syrischer Nationalrat mit 140 Mitgliedern gebildet, der sich als Dachorganisation von sieben verschiedenen Oppositionsgruppen versteht. 70 der Mitglieder, die außerhalb Syriens leben, wurden bei einer anschließenden Pressekonferenz namentlich vorgestellt. Die anderen 70 Mitglieder, die demzufolge in Syrien leben, wurden »aus Sicherheitsgründen« nicht genannt.

Im November soll eine Generalversammlung von 190 Personen gewählt werden. Die Versammlung werde vermutlich wieder in der Türkei stattfinden, sagte Sprecherin Basma Kodmani, die in Paris lebende Vorsitzende der Arabischen Reforminitiative. Der Nationalrat soll einen Präsidenten, ein siebenköpfiges Exekutivkomitee und ein Generalsekretariat mit 29 Mitgliedern haben. Bisher gehören dem Nationalrat die Gruppe der Damaskus-Erklärung, die Muslim- Bruderschaft, eine islamische Partei, kurdische Fraktionen und die lokalen Koordinationskomitees an. Letztere nehmen für sich in Anspruch, die Protestaktivitäten in Syrien zu koordinieren und darüber zu berichten. Außerdem gehören dem neuen Gremium namentlich Unabhängige und Stammesvertreter an.

Der ebenfalls in Frankreich lebende Soziologieprofessor Burhan Ghalioun trat als vorläufiger Vorsitzender des Gremiums auf. Oberstes Ziel sei es, »das Regime zu stürzen«, hieß es in einer vorgetragenen Erklärung. Man fühle sich sowohl der »Einheit Syriens« als auch der »Friedfertigkeit der Revolution« verpflichtet. Der Nationalrat stehe allen Syrern offen, sagte Ghalioun, der internationale Organisationen aufrief, sich für ein Ende der Verletzung der Menschenrechte im Lande einzusetzen. Zugleich betonte er, der Nationalrat lehne jede auswärtige Intervention ab, welche »die Souveränität des syrischen Volkes« untergrabe. Berichten von Teilnehmern zufolge habe es Uneinigkeit über die Forderung nach einer Flugverbotszone nach libyschem Vorbild gegeben. Auch die Frage des bewaffneten Kampfes sei unterschiedlich bewertet worden.

Neben einer politischen Willenserklärung ging es um die Verteilung von Sitzen in den neu gegründeten Gremien. Nach Auskunft des Nationalratsmitglieds Hassan Haschimi sollen dem Generalsekretariat sechs Vertreter der lokalen Koordinierungskomitees angehören. Zudem sollen die Muslimbruderschaft mit fünf und die Gruppe der Damaskus-Deklaration sowie die liberale Gruppe unter Führung Ghaliouns mit jeweils vier Abgesandten vertreten sein. Die anderen Mitglieder sollten vier Kurden, ein Christ und vier Unabhängige sein.

Der nächste Schritt sei es, »internationale Anerkennung« zu bekommen, um den diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf die Regierung zu verstärken, hieß es bei der Pressekonferenz. Verschiedene Staaten, darunter Japan, Kanada und die Niederlande, hatten bereits diplomatische Vertreter entsandt, um sich zu informieren. Das französische Außenministerium begrüßte die Bildung des Nationalrates.

Fraglich ist derweil, wie sehr die Veranstaltung die vielschichtige Opposition widerspiegelt, die in Syrien versucht, sich unter immer schwierigeren Bedingungen Gehör zu verschaffen. Der Oppositionelle Louay Hussein stellte infrage, ob die Personen, die auf Namenslisten stehen, tatsächlich gefragt worden seien. Man frage sich auch, warum syrische oppositionelle Parteien nicht konsultiert oder eingeladen worden seien. Hussein hatte mit anderen Oppositionellen erst kürzlich in Damaskus die Gründung einer neuen Partei »Strömung zum Aufbau des Syrischen Staates« bekannt gegeben. Die innersyrische Opposition hatte sich vor wenigen Wochen getroffen, um sich besser zu organisieren und Forderungen zu koordinieren.

Der bekannte Oppositionelle Michel Kilo sagte gegenüber AFP, die Oppositionsgruppen innerhalb des neu gegründeten Nationalrates »favorisierten eine ausländische Intervention«, um die Krise in Syriens zu lösen. Die Opposition innerhalb Syrien lehne das aber ab. Im Falle einer ausländischen Intervention »werden wir zu einem pro-amerikanischen Syrien und nicht ein freier und souveräner Staat«, so Kilo.

Der syrische Abgeordnete Khaled Aboud bezeichnete gegenüber der Nachrichtenagentur AP die Gründung eines syrischen Nationalrates im Ausland als »Selbsttäuschung«. Bei der Trauerfeier für seinen am Wochenende getöteten Sohn rief der syrische Großmufti Ahmed Badreddin Hassoun die Oppositionsbewegung auf, nicht aus dem Ausland gegen Syrien zu agieren. »Kommt und sagt eure Meinung hier in Syrien«, sagte der Geistliche vor einer großen Trauergemeinde. »Und wenn jemand euch zurückweist, werde ich mich euch in der Opposition anschließen.«

* Aus: neues deutschland, 5. Oktober 2011

Fakten: Syrischer Nationalrat

Die wichtigsten Gruppen
  1. Die Damaskus-Erklärung für Demokratischen Wandel wurde in Folge des »Damaszener Frühlings« 2005 gegründet. Sie besteht aus Intellektuellen in Syrien und dem Ausland und fordert breite demokratische Reformen sowie volle Rechte für die Kurden in Syrien.
  2. Die Muslim-Bruderschaft ist Teil der panarabischen Bewegung der sunnitischen Muslime. In Syrien ist sie verboten, eine Mitgliedschaft kann mit dem Tode bestraft werden. Zwischen 1979 und 1982 lieferte die Bruderschaft der Regierung einen bewaffneten Aufstand in Hama, Homs und Idlib. Er endete mit der blutigen Niederschlagung.
  3. Die Lokalen Koordinationskomitees sind Teil einer Basisbewegung, die sich in Syrien auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene gebildet hat. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Proteste zu koordinieren und zu dokumentieren. In Syrien arbeiten sie im Geheimen.
  4. Die Generalkommission der Syrischen Revolution ist nach eigenen Angaben eine Koalition aus 40 oppositionellen Zusammenschlüssen, ihre Zentrale ist in Washington. Die Gruppe fordert wirtschaftliche Sanktionen gegen Syrien und plädiert für eine internationale Intervention mit einer Flugverbotszone oder mit einer UNO-Friedensmission.



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