Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Fahren Sie, wohin Sie wollen"

Unübersichtliche Lage in Syrien. Diskussion über Rolle der Medien. Kaum Reisebeschränkungen für jW-Korrespondentin

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Am Sonntag (19. Juni) ist der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Jakob Kellenberger, zu zweitägigen Gesprächen in Damaskus eingetroffen. Kellenberger wird mit Ministerpräsident Adel Safar, Außenminister Walid Al-Muallim und Vertretern des Syrischen Roten Halbmondes darüber sprechen, wie das IKRK »der Bevölkerung helfen kann, die von der anhaltenden Gewalt betroffen ist«. Seit Wochen fordert das IKRK einen weitergehenden Zugang zu Brennpunkten der Unruhen und den Inhaftierten.

Längere Fahrten vermieden

Die Lage in Syrien bleibt unterdessen unübersichtlich, die Sicherheit ist in einigen Regionen des Landes nicht gewährleistet. Kämpfe zwischen bewaffneten Aufständischen und syrischem Militär werden auch von ausländischen Sendern nicht mehr geleugnet, nachdem der Nachrichtensender Al-Dschasira Bilder von bewaffneten Kämpfern der Muslimbruderschaft zeigte. Die Bevölkerung leidet am meisten. Aus Angst, bei Überlandfahrten mit Auto oder Bus in einen bewaffneten Hinterhalt zu geraten, wie es bereits einige Male in der Umgebung von Homs vorgekommen ist, vermeiden auch Syrer längere Fahrten oder nehmen das Flugzeug.

Unerwartet erhielt ich im Informationsministerium in Damaskus die Auskunft: »Sie können hingehen und hinfahren, wohin Sie wollen, aber passen Sie gut auf.« Anfang Mai waren mir noch »Straßeninterviews und fotografieren« ausdrücklich untersagt worden. Auf die Frage, ob die jetzige Erlaubnis für jede Stadt gelte, auch für Daraa und den Norden Syriens, lautete die Antwort: »Sie können fahren, wenn Sie möchten, aber wir raten Ihnen davon ab.« In Städten wie Dschisr Al-Schughur und Idlib, wo Militäroperationen stattfanden und teilweise noch anhalten, erhalten ausländische Fernseh- und Fotoreporter Zugang, wenn sie vom Verteidigungsministerium »eingebettet« sind.

Syrische Kollegen tun sich schwer, einem Gespräch zuzustimmen, selbst wenn es nur als Hintergrund für die eigene Lageeinschätzung dient. In englischsprachigen syrischen Medien wie Syria Today oder Forward Magazine werden die aktuellen Ereignisse, Proteste und Forderungen, die Unterbrechungen des Internets und die Berichterstattung aus dem Ausland offen erörtert. Die Sprache bleibt dabei sachlich und ohne unterschwellige Andeutungen.

Neues Mediengesetz

In Funk, Fernsehen und Zeitungen wird über die »veraltete Arbeitsweise« syrischer Medien debattiert, ein neues Mediengesetz soll ausgearbeitet werden, um Journalisten zukünftig den Zugang zu Informationen zu erleichtern. Besonders junge Leute fordern dabei die Zulassung neuer Medien. »Alles ist heute sowieso bekannt«, sagte eine junge Frau. »Informationen, die ich nicht im syrischen Fernsehen finde, finde ich bei ausländischen Satellitensendern oder im Internet.«

Bei Gesprächen mit der Bevölkerung werden verschiedene Meinungen über die aktuellen Ereignisse geäußert. Während manche die syrische offizielle Darstellung ausschließlich als »Propaganda« und unwahr ansehen, reagieren andere besorgt auf die Rolle, die bewaffnete Kräfte bei den Auseinandersetzungen spielen. Dialog und friedlicher Protest werden von allen Gesprächspartnern unterstützt, aber rasch solle es gehen, es habe schon zu viele Tote gegeben. An dem harten Vorgehen von Armee und Sicherheitskräften wird überwiegend Kritik geäußert, doch manche kritisieren auch, daß die Streitkräfte nicht schnell und hart genug gehandelt hätten. Präsident Assad, der sich täglich mit Delegationen aus verschiedenen Städten des Landes trifft, räumte Fehler beim Umgang mit den friedlichen Protesten ein. Eine Rede Assads, vermutlich an der Universität von Damaskus, wird für den heutigen Montag erwartet.

* Aus: junge Welt, 20. Juni 2011


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Medien-Seite

Zurück zur Homepage