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Syrien: Die gefälschte Weltmeinung?

Die FAZ meldet: In Hula mordeten oppositionelle Milizen *

Das Motto der ARD-Talkshow „Anne Will“: „Assad lässt Kinder töten – wie lange wollen wir noch zuschauen?“ ließ am 6. Juni keinen Zweifel aufkommen: das bestialische Massaker in der syrischen Kleinstadt Hula unweit der Rebellenhochburg Homs hat die syrische Regierung zu verantworten. Am 25. Juni waren dort 108 Zivilisten getötet worden, davon 49 Kinder, von denen einige noch im Säuglingsalter waren. Die Umstände dieser Morde schienen klar und unumstößlich: verantwortlich für die Gräuel war die staatliche syrische Armee und die mit ihr verbundenen „Schabiha“-Milizen, die wahllos in Hula gemordet hätten. So berichteten es nicht nur die ARD, sondern bis auf wenige Ausnahmen nahezu einhellig alle westlichen Medien. Jetzt aber mehren sich die Zweifel an dieser Version einer Bluttat, die die Welt zurecht empörte und nicht nur zur Ausweisung syrischer Botschafter führte, sondern in der Öffentlichkeit neue Forderungen nach einem offenen Militäreinsatzes in Syrien nach sich zog.

Regierungsfeindliche Kämpfer als Täter?

Heute, am 14. Juni, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) erneut unter dem Titel „Eine Auslöschung“ von Tatumständen in Hula, die die bisherige Version des Massakers nicht nur erschüttern, sondern die Täterschaft komplett umkehren: Nach dem FAZ-Bericht hat nicht die reguläre syrische Armee oder alawitische Killerkommandos der „Schabiha“-Milizen, sondern Freischärler der oppositionellen "Freien Syrischen Armee" (FSA) in Hula gezielt regimetreue und vom sunnitischen zum schiitischen Glauben konvertierte Familien ermordet. Unmittelbar nach dem Morden hätten die Täter ihre Opfer gefilmt und die Aufnahmen per Youtube als "sunnitische Opfer" eines barbarischen Armeeeinsatzes ausgegeben. Der renommierte Nahost-Journalist Rainer Hermann stellt in seinem Artikel vier Fragen: „Weshalb folgt die Weltmeinung bislang einer anderen Version? Weshalb macht der Kontext des Bürgerkriegs die bezweifelte Version plausibel? Weshalb sind die Zeugen glaubwürdig? Welche weiteren Fakten stützen die Version?“

Detailliert schreibt Rainer Hermann aus Damaskus (!), wie sich die Bluttat tatsächlich abgespielt habe und ein grausamer Höhepunkt einer immer brutaleren Konfessionalisierung des syrischen Konfliktes sei. Er bezieht sich dabei neben Aussagen von Menschenrechtsaktivist_innen, die ungenannt bleiben wollen, auch auf die Berichte der Ordensfrau Agnès-Maryam vom Kloster des Heiligen Jakob in Qara, unweit von Homs. Die Nonne schreibt auf der Webseite des Klosters, wie in der Region gezielt christliche Minderheiten von sunnitischen Freischärlern getötet würden: „Die Familie Al Amoura aus dem Dorf Al Durdak im Raum Homs wurde von wahabitischen Terroristen ausgelöscht. 41 Mitgliedern dieser Familie wurde an einem einzigen Tag die Kehle durchgeschnitten.“ Darüber hinaus berichtet die Ordensfrau von zahlreichen religiös motivierten Angriffen, bei denen Menschen verstümmelt und ihnen die Kehlen durchgeschnitten worden seien. „Die Täter hatten keine Hemmungen, Kinder aus nächster Nähe zu erschießen, um Unruhe und Verzweiflung zu schüren. So geschah es dem jungen Sari, dem Neffen unseres Steinmetzes. Solche schrecklichen Taten werden dann in den Medien ausgeschlachtet, indem die Schuld den Regierungstruppen gegeben wird.“ Unparteiische Augenzeugen?

Rainer Hermann zweifelt nicht an der Glaubwürdigkeit der palästinensisch-libanesischen Nonne, die seit Jahrzehnten im Jakobskloster lebt und seelsorgerisch tätig ist. Agnès-Maryam gehört für ihn zu jenen syrischen Augenzeugen, die „keiner Konfliktpartei angehören, sondern zwischen den Fronten stehen und kein anderes Interesse haben, als eine weitere Eskalation der Gewalt vielleicht doch noch aufzuhalten“. Im Februar dieses Jahres rief das Kloster auf seiner Webseite in einem Appell dazu auf, für jene Menschen zu spenden, die „in den gefährlichen Städten Syriens leiden“. Als Verantwortliche für die um sich greifende Brutalität und den täglichen Terror in Homs wurden aber lediglich „freie bewaffnete Gruppen“ der Opposition genannt, es fehlt jeder Hinweis auf die Gewalt der syrischen Armee. Auf einem kleinen Foto auf einer Unterseite der Website ist ein mit Assad-Plakaten geschmücktes Auto zu sehen, dass vermutlich an einer Pro-Regime-Demonstration teilnimmt. Aber sind diese erschütternden Berichte der Ordensfrau bereits dadurch diskreditiert und nur erfundene Schreckensgeschichten der staatlichen syrischen Propagandamaschine? Trotz der offenkundigen Einseitigkeit schildert sie sehr detailliert, wie oppositionelle Milizen in der Region um Homs entlang religiöser Zuschreibungen systematisch töten würden - offenbar hat die „Libanonisierung“ in den militärisch umkämpften Zonen Syriens längst begonnen. Der libanesische Bürgerkrieg dauerte 15 Jahre und forderte 90.000 Todesopfer, 20.000 Menschen gelten noch immer als „vermisst“. Der Libanon hat ca. vier Millionen Einwohner, in Syrien leben jedoch 20 Millionen Menschen. Der Zahlenvergleich gibt einen Hinweis auf die mögliche Schreckensdimension einer Konfessionalisierung der syrischen Rebellion.

Hoffnung und Gefahr

medico wird versuchen weiterhin an der Seite all jener in Syrien zu stehen, die sich der militärischen Eskalation und gegenseitigen Vernichtung verweigern und noch immer wöchentlich für ein demokratisches und säkulares Syrien demonstrieren. Es gibt noch immer Student_innen und die Aktivist_innen lokaler Komitees, die trotz aller Gefahren für eine freie und offene Gesellschaft auf die Straße gehen. Der staatliche Terror des Assad-Regimes ist ursächlich für die Konfessionalisierung der Auseinandersetzung verantwortlich, der oppositionelle Gegenterror religiöser Milizen aber verspricht keine tatsächliche Freiheit, sondern in seiner Konsequenz droht die Zerstörung der religiösen und kulturellen Diversität des modernen Syriens.

Einige radikalreligiösen Gruppen der oppositionellen Freischärler in Syrien beziehen ihre Waffen und ihr Geld aus Saudi-Arabien und den Golfsstaaten. Auf saudischen Nachrichtensendern fordern salafistische Prediger seit langem nicht nur den Sturz von Präsident Baschar al-Assad, sondern legitimieren offen die Tötung von Mitgliedern der alawischen Religionsgemeinschaft als "Ungläubige“. Saudi-Arabien ist seit 2011 der wichtigste Handelspartner der deutschen Wirtschaft im arabischen Raum. Am 5. Juni bedankte sich Wirtschaftsminister Rösler (FDP) beim Besuch in saudischen Riad ausdrücklich dafür, dass das Königshaus seine Einlagen im Weltwährungsfonds (IWF) um 15 Milliarden Dollar aufstockt, um die aktuelle Euro-Krise zu stabilisieren. Auch hier zeigt sich wieder: In Syrien geht es erwiesenermaßen nicht nur um Syrien.

* Quelle: Blog von medico international, veröffentlicht am 14.06.201; http://www.medico.de/blogs


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