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Libyen ist kein Vorbild

Weder militärisch noch "humanitär": Oppositionelle in Syrien kämpfen für Veränderungen, lehnen aber jede ausländische Einmischung ab

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Freitag morgen in Damaskus. Die Straßen sind ruhig, nach dem Regen des Vortages sind sie ungewöhnlich sauber gewaschen. In der wärmenden Morgensonne holen die Straßenhändler ihre Waren aus Kartons oder schwarzen Plastiksäcken und sortieren sie ordentlich auf einer Decke auf dem Boden oder auf einem provisorischen Tisch. Zigaretten, zur Feier des Tages auch einige Zigarren, Feuerzeuge verkauft der eine, Strümpfe, Unterwäsche, Schals und Mützen der andere. Angesichts des unsicheren Herbstwetters sind Taschenschirme gefragt, erzählt einer der Straßenhändler, der in Rukn’Deen zu Hause ist. Für nur 100 Syrische Lira (etwa 1,30 Euro) habe er am Vortag gleich drei Stück verkauft, sie seien so billig, weil sie in China hergestellt seien. 18 Jahre habe er in einem Hotel gearbeitet, erzählt der Mann weiter. Das habe nun alle Mitarbeiter auf Teilzeit gesetzt und den Lohn auf 7000 Syrische Pfund (100 Euro) halbiert, seit keine ausländischen Gäste mehr kämen. Alles, was er mit dem Straßenverkauf einnehme, brauche er für die Familie. Geschenke zum Opferfest für die Kinder seien gestrichen.

Zwei Tage vor dem Opferfest, Eid Al-Adha, hoffen auch die Händler in den Einkaufsvierteln Schalan oder auf der Hamrastraße noch auf gute Geschäfte. Schon früh haben sie ihre Läden geöffnet und tauschen mit den Nachbarn letzte Neuigkeiten aus, während die auf Kunden warten. Was früher unmöglich war, ist heute in Syrien Alltag: Man spricht über Politik. »Nicht jeder natürlich«, meint Abu Feras, der Vater von Feras, der mit seinen fast 80 Jahren schon vieles erlebt hat. »Leider informieren sich zu wenige Leute gewissenhaft über das, was geschieht.« Die Einseitigkeit der großen ausländischen Medien, vor allem von Al-Arabiya und Al-Dschasira, sei mindestens ebenso schlimm wie die der staatlichen syrischen Medien.

Protestbewegung und Anhänger eines Reformweges mit Präsident Baschar Al-Assad halten sich ungefähr die Waage, sagt der Geschichtsprofessor George Jabbour. Unmöglich zu sagen, wer mehr Menschen mobilisiert, das würden hoffentlich eines Tages Wahlen in Syrien zeigen. Die Protestbewegung in Syrien vergleicht er mit der Bewegung »Occupy Wallstreet«, die weltweit von sich reden mache. Es sei ein Konflikt zwischen arm und reich, sagt Jabbour, der auch Vorsitzender der Syrischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen ist. Eine ausländische Einmischung lehnt er ausdrücklich ab, egal ob sie militärisch oder »humanitär« begründet wäre. Als säkularer Staat hätten gerade die vielen verschiedenen Religionsgruppen in Syrien viel zu verlieren. »Sehen Sie sich Libyen an, wo die neuen Machthaber als erstes die Scharia eingeführt haben, damit Männer wieder vier Frauen heiraten können. Ist das die Freiheit, die der Westen uns wünscht?«

In dem Abkommen mit dem Außenministerkomitee der Arabischen Liga in Kairo hat Syrien sich in dieser Woche zu weitgehenden Zusagen verpflichtet. Die Gewalt soll eingestellt, Soldaten sollen in die Kasernen zurückgezogen werden. Beginnend mit diesem Samstag vor dem Opferfest sollen alle Gefangenen der vergangenen Monate freigelassen werden, die nicht zu den Waffen gegriffen haben. In zwei Wochen sollen Opposition und Regierung zu einem ersten Dialog zusammenkommen und daran werde man sich beteiligen, sagt Kadri Jamil von der »Volksfront für Veränderung und Befreiung« in Damaskus. Wichtiger aber sei, daß Vertreter der Volksbewegung einbezogen würden, die obwohl von den syrischen Sicherheitskräften verfolgt, von Medien ignoriert würden. Als die Volksfront kürzlich für die Komitees der Volksbewegung eine Pressekonferenz organisierte, seien zwar auch ausländische Medien da gewesen, doch kaum jemand hätte berichtet, sagt Jamil. »Sie berichten nur, was in ihren Plan paßt«, klagt er. »Die westlichen Medien ebenso wie die hiesigen.« Immerhin habe das staatliche Fernsehen die Pressekonferenz und die wichtigsten Forderungen erwähnt, fügt er hinzu. Das sei schon ein Fortschritt.

Diese Volksbewegung organisiere mindestens ein Viertel der Proteste in Syrien, so Jamil weiter. Sie besteht aus Basiskomitees in allen Teilen des Landes. Diese Bewegung agiere ausschließlich friedlich, habe legitime Forderungen und habe Tote und Gefangene zu beklagen. Dennoch sei es gelungen, auf der Pressekonferenz deren Forderungen bekanntzumachen: die Freilassung aller Gefangenen und Wiedergutmachung, Rückzug von Soldaten und Sicherheitskräften, Aufhebung aller Absperrungen um Dörfer oder Städte, Einsetzung einer Untersuchungskommission für alle Gewalttaten. Und: Alle korrupten Strukturen müßten aufgelöst werden. Friedliche Demonstrationen sollten von der syrischen Armee beschützt werden. Eine neue Verfassung müsse die Rechte aller Syrer garantieren, egal, welche Religion, welche ethnische Zugehörigkeit oder welches Geschlecht sie haben. Schließlich weist die Bewegung »jede ausländische Einmischung zurück« und ruft alle Syrer auf, sich für die umfassende nationale Veränderung zu engagieren.

* Aus: junge Welt, 5. November 2011


Libysche Rebellen werden nicht entwaffnet, bevor sie einen Arbeitsplatz erhalten **

Zwei Wochen nach dem Tod des libyschen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi besteht wenig Hoffnung, daß die früheren Rebellen bald ihre Waffen abgeben. Dies könnte Monate dauern und werde auch nicht gewaltsam erfolgen, sagte der neue Ministerpräsident Abdel Rahim Al-Kib am Freitag. Gleichzeitig gestand er ein, daß der Nationale Übergangsrat noch nicht die volle Kontrolle über das Land erlangt habe.

Die wachsende Zahl von bewaffneten Milizen aus ehemaligen Rebellenverbänden und die wacklige Position des Übergangsrates tragen zur Instabilität des Landes während der achtmonatigen Übergangsperiode bei, die mit der Wahl einer Nationalversammlung im Juni enden soll. Al-Kib, der die Übergangsregierung bis dahin führen soll, sagte dem französischen Rundfunksender France24, die Entwaffnung der Kämpfer werde Zeit in Anspruch nehmen.

»Wir werden die Menschen nicht zu schnellen und hastigen Entscheidungen und Taten zwingen und Gesetze einführen, die den Waffenbesitz verbieten«, erklärte Al-Kib. Statt dessen wolle seine Übergangsregierung Kämpfern Alternativen anbieten, wie etwa Ausbildungen und Arbeitsplätze. Die früheren Rebellen würden dann hoffentlich bis zum Ende der Übergangsfrist ihre Waffen abgeben, so Al-Kib weiter.

Der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, Mustafa Abdul Dschalil, hatte zuvor erklärt, die Übergangsregierung brauche Zugang zu den eingefrorenen Milliarden des Ghaddafi-Regimes, um die Entwaffnung zu organisieren. Libysche Grenzbeamte haben zuletzt von massivem Waffenschmuggel über die Grenze nach Ägypten berichtet. Nach israelischen Angaben sollen einige dieser Waffen daraufhin auch den Gazastreifen erreicht haben. (dapd/jW)

** Aus: junge Welt, 5. November 2011


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