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Gewollte Eskalation

Hintergrund. Syrien zwischen Reformen, Aufbegehren und westlicher Einmischung

Von Karin Leukefeld *

Syrische Revolution Nachrichtenübersicht, Tag 179, Freitag, 9. September 2011«. Drei, manchmal sogar vier Mal täglich sendet das »Strategische Forschungs- und Kommunikationszentrum« (SRCC, London, www.stresscom.org) seine »Nachrichtenzusammenfassungen« per E-Mail in alle Welt. »Sehen Sie sich diese Nachricht online an«, wird der Leser zu einem Link weitergeleitet. Und von da geht es zum nächsten Link. Es folgen Verweise zu Facebook und Twitter, schließlich erfährt man, daß die Demonstranten am »Freitag für den internationalen Schutz« eben eine solche UNO-Resolution gefordert hätten. »Überall in Syrien« habe es Demonstrationen gegeben, heißt es. Mindestens 13 Personen seien getötet worden in »Homs, Idlib, Deir Ezzor und Hama«.

Es folgen etliche Nachrichten in arabischer Sprache – immer versehen mit einer Fülle von Links. Dann kommt die aktuelle »Revolutionsstatistik: 3272 ermordete Syrer, 198 ermordete Kinder, 143 ermordete Frauen, 3059 Menschen vermißt. 89 Demonstranten wurden durch Folter getötet, etwa 20000 Demonstranten derzeit inhaftiert«. Mehr als 12577 Menschen seien geflohen, davon 10227 in die Türkei und 2300 in den Libanon. Anschließend folgt eine Liste bevorstehender Veranstaltungen: »Bahrain, Algier, Paris, Frankfurt, Limassol, Offenburg, Strasbourg, Los Angeles, Genf, Prag (…)«. Und schließlich weitere Links zu Videoaufnahmen aus verschiedenen syrischen Städten. Mit einer Einordnung, Quellenprüfung oder gar anderen Darstellungen von Ereignissen hält SRCC sich nicht auf. Praktisch und schnell liefert das Zentrum verwertbare »Nachrichtenübersichten«, viele finden sich später in westlichen Medien wieder oder als Schlagzeile zur besten Nachrichtenzeit.

Gegründet wurde das Kommunikationszentrum eigenen Angaben zufolge 2010, um »qualitativ hochwertige Recherchen und Dienste für Medien, Regierungsstellen, wissenschaftliche Einrichtungen und Forschungszentren zur Verfügung zu stellen«. Geführt wird es von seinem Gründer Osama Monajed, dem ehemaligen Direktor des Barada Fernsehsenders (London), das seit Jahren vom US-Außenministerium finanziert wird. Ein weiterer Mitarbeiter leitet das »Forschungsprogramm für die Übergangsphase« in Syrien, ein anderer ist verantwortlich für die Kommunikationsstrategie des Zentrums und die Vermarktung der Medienprodukte.

Die drei namentlich genannten Mitarbeiter von SRCC zeichnen sich neben ihrer Ausbildung vor allem dadurch aus, daß sie regelmäßig in englischsprachigen Leitmedien wie Wall Street Journal, New York Times, Al-Dschasira English oder Die Stimme Amerikas veröffentlichen. Syrien sei in der Berichterstattung der letzten Jahre weitgehend »verborgen« geblieben, der Weltöffentlichkeit lägen lediglich 114 Studien über das Land »in der Zeit zwischen 1919 und 2007« vor. Da dem Westen das Verständnis für die Region fehle, bringe SRCC Syrer mit der westlichen Intelligenz zusammen. Man werde das daraus entstandene Material »Entscheidungsträgern, Reportern, Journalisten und Akademikern« zur Verfügung stellen, die sich mit dem Land beschäftigen, eigene Forscher würden zudem hochwertige Berichte zu »Topthemen« anfertigen. Man werde Fakten über das Alltagsleben anbieten mit dem Ziel, daß »eine besser informierte öffentliche Diskussion über Syrien die Tagesordnung von Entscheidungsträgern beeinflussen kann«. Syrische Revolution made by SRCC.

Eine Freundin berichtet

»Revolution?« fragt eine Freundin in Damaskus in einem ihrer regelmäßigen Berichte per E-Mail. »Wenn man die Nachrichten in den internationalen Medien über Syrien verfolgt, könnte man glauben, daß sich die gesamte Bevölkerung friedlich gegen das Regime erhoben hat und die Sicherheitskräfte (Militär, Geheimdienste und Schabiha) diesen Aufstand brutal niederschlagen.« Mangels Journalisten vor Ort würden solche »Meldungen untermauert von Gerüchten aus dem Internet und ominösen Menschenrechtlern, die gut informiert in London oder anderswo im Ausland sitzen«. Es sei schon zynisch, ein Eingreifen der NATO in Syrien zu fordern, »wenn man in Sicherheit im Ausland lebt und keine Gefahr läuft, zum ›Kollateralschaden‹ zu werden«.

Sie schreibt über ihren täglichen Nachhauseweg von der Arbeit in einem Büro in der Damaszener Innenstadt: »Zwischen 15 Uhr und 15.30 Uhr strömen die Beamten aus den Ministerien, viele werden mit einer Art Werksverkehr nach Hause gebracht. Das führt zu Staus auf den Straßen vor den Amtsgebäuden, da die Busse in der zweiten Spur auf ihre Fahrgäste warten. An Brennpunkten wie der Präsidentenbrücke oder (dem Busbahnhof) Baramkeh geht es nur im Schritttempo, begleitet von Hupkonzerten, weiter.« Auf der Ausfahrt in Richtung Süden werde die breite, mehr als dreispurige Fahrbahn gut ausgenutzt, schreibt sie weiter. Bis zu sieben Fahrzeuge drängelten sich nebeneinander, wenn die Straße sich auf zwei Spuren verenge. »Normalerweise hat der Vorfahrt, der die Schnauze vorne hat, doch wenn ein Bus oder gar ein Lkw drängt, tritt das Gesetz des Stärkeren in Kraft.« Es folgt ein Stau mit Hupen, Drängeln, kleinen Blechschäden und wild gestikulierenden Verkehrspolizisten, die versuchen den Verkehr anzutreiben. Im Stau habe man Zeit, die Umgebung zu betrachten, berichtet sie und beschreibt das T-Shirt eines Mitreisenden in ihrem Bus, auf dessen Schultern in großen Buchstaben »Sniper« (Scharfschütze) zu lesen sei.

»Ich wünsche mir weiterhin kein Eingreifen der NATO, sondern Entwicklungshilfe in Form von Fahrlehrern«, so die Freundin aus Damaskus. Auch das wäre ein Gewinn für die Revolutionäre, die bisher nur mit den Losungen »Gott ist groß« und »Freiheit« auf die Straßen stürmten, was kein Programm für die Zukunft sei. Es gebe viele Möglichkeiten, sich im Alltag gegen Korruption und Ungerechtigkeit zu wehren, dafür brauche es aber »Solidarität und Engagement«.

Heterogene Opposition

Für einen außenstehenden, aber mitten im Geschehen lebenden Beobachter splitten sich die Aufständischen in viele Gruppen. Da sind zunächst die jungen Menschen, die, angeregt durch die Fernsehbilder von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, eine ähnliche Party veranstalten wollen. Auf Nachfrage nach ihren Zielen hört man meist nur: »Sturz des Regimes, Assad muß gehen.« Kaum einer hat eine Vorstellung davon, was danach kommen sollte und welcher »Guru« ihnen Arbeitsplätze und genügend Geld für die Erfüllung ihrer Konsumwünsche geben könnte. Daß Dürre, Überbevölkerung oder internationale Verteuerung von Lebensmitteln und Rohstoffen schier unlösbare Probleme sind, haben sie nicht einmal angedacht.

Von den westlichen Medien wird oft die kleine Gruppe an intellektuellen Oppositionellen zitiert, die zwar dem Namen nach in der Bevölkerung bekannt sind, aber kaum Rückhalt haben. Die meisten saßen schon jahrelang im Gefängnis, was niemanden, auch nicht im Westen, zu einer Reaktion veranlaßt hatte. Zudem handelt es sich um eine ehrenwerte, aber ältere Generation, die wenig Kontakt zur Jugend auf der Straße hat.

Die dritte, wahrscheinlich am besten organisierte und zahlenmäßig stärkste Gruppe sind die Religiösen. Nicht alle davon sind Islamisten, doch eine Radikalisierung ist bei den meisten zu bemerken. Abgesehen davon, daß das neue Parteiengesetz religiöse oder ethnische Ausrichtung verbietet, würde so eine Partei wahrscheinlich dasselbe Schicksal wie die Hamas ereilen: zuerst als demokratische Partei hochgejubelt, um sie bei einem möglichen Wahlsieg international zu boykottieren.

Letztendlich bleibt die schweigende Mehrheit. Ein Großteil der Syrer begrüßt die Forderung nach Reformen, doch sie gehen nicht auf die Straße. Sei es aus Angst, sei es, daß ihnen diese Art der Auseinandersetzung zuwider ist. Und die meisten Beamten stehen hinter der Regierung, da ihnen durch eine weitere Lohn­erhöhung von zirka 25 Prozent im Mai eine finanzielle Grundlage geboten wird, die sie ruhigstellt.

Klar ist auch, daß die Zukunftsaussichten nicht rosig sind. Die Regierung macht Ernst mit ihrer Behauptung, ausländische und terroristische Gruppen bekämpfen zu wollen. Die mittlerweile begonnenen Reformen werden kaum, mit Skepsis oder mit Schulterzucken von der Bevölkerung registriert. Können die Inhaftierten vom Gefängnis aus das neue Mediengesetz nutzen? Können sie sich dort organisieren, diskutieren und eine Partei gründen?

Der Glaube an freie Wahlen zerrinnt, wenn man die beflaggten Pfeiler in den Hallen des Flughafens sieht: syrische Fahnen mit dem Konterfei des Präsidenten. Militärfahrzeuge haben die Landeskennung »Al-Assad«, wodurch gezeigt werden soll, daß es ein Syrien ohne Assad nicht geben könne.

Nach sechs Monaten versuchter Revolution fühlt man, daß alle Seiten müde werden, aber keiner weiß, wie man ohne Gesichtsverlust zu einer Lösung kommen könnte. Die Regierung verlautbart täglich die Verabschiedung neuer Gesetze, die Menschen auf der Straße beharren auf ihrer Forderung nach dem Sturz der Regierung.

Der Begriff Freiheit hat viele Facetten, doch einen Teil davon haben alle Syrer schon verloren: die Sicherheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit überall herumzuspazieren; die Freiheit, alle Landesteile ohne Einschränkung bereisen zu können. Nun bereitet man jede Fahrt außerhalb seines Wohnbezirks vor, fragt Freunde, ob es angeraten oder möglich ist, streicht den Freitag von seinen Reiseplänen. Abgesehen davon ist es vielen aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr möglich, mit Kind und Kegel aufs Land oder an die Küste zu fahren. Die Ökonomie liegt darnieder, viele verloren ihren Job und wissen kaum, wie sie in den nächsten Wochen über die Runden kommen sollen.

Aber es besteht noch Hoffnung, beendet die Freundin ihren Bericht, »wenn Uniformierte, ohne angefeindet zu werden, im Mikrobus fahren und an den Checkpoints bei der Ausweiskontrolle höfliche Floskeln ausgetauscht werden«.

Westliche Berichterstattung

Die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung ist nicht zu übersehen. Syrien durchlebt eine schreckliche Phase der Gewalt, doch anstatt Hintergründe zu recherchieren, alle Seiten zu Wort kommen und ihre Vorschläge erläutern zu lassen, gießen westliche Medien Öl ins Feuer. Zweifelsohne gibt es Schattenseiten in Syrien: Gefängnisse, Folter, behördlicher Hochmut, Korruption und Einschüchterung durch Geheimdienste – es gibt kaum jemanden, der dazu keine Geschichte erzählen kann. Oder die blutige Niederschlagung der bewaffneten Revolte der Muslimbruderschaft 1982, die vielen Menschen das Leben kostete, haben deren Angehörige auch in der zweiten und dritten Generation nicht vergessen. Auf den Damaszener Frühling 2002/03 reagierte das Regime mit Repression und Verhaftungen. Es gibt bittere Armut bei vielen und unverschämten Reichtum bei einigen. Privates Land wird für staatliche Projekte beschlagnahmt – selbst Land von Kleinbauern. Und seit Monaten werden Menschen erschossen und drangsaliert, nur selten kennt man die wahren Täter. Während westliche Medien meist Angaben von – häufig anonymen – Oppositionellen folgen und die Täter in den Reihen des syrischen Militärs und der Sicherheitskräfte ausmachen, berichten andere Medien auch von »bewaffneten terroristischen Gruppen«. Der Syrische Rote Halbmond und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bemühen sich um unabhängige Untersuchungen der Ereignisse, Ergebnisse sind nicht bekannt.

Der ursprüngliche Protest der Einwohner von Deraa Mitte März gegen den Hochmut von Gouverneur und Polizeichef, der in der Mißhandlung von Jugendlichen und ihrer Eltern gipfelte, spielt in der Berichterstattung lange keine Rolle mehr.

Westliche Leitmedien wie CNN, National Public Radio und der britische Sender Sky news sind so wenig an Aufklärung interessiert, daß sie eine vom syrischen Informationsministerium vorbereitete Fahrt nach Deraa und Treffen mit Angehörigen von Getöteten ausschlugen. So verwundert es nicht, daß kaum über die vielen Reformschritte berichtet wurde, die Präsident Baschar Al-Assad fast im Wochentakt verkündete: Gouverneur und Polizeichef in Deraa wurden immerhin entlassen, auch wenn die Bevölkerung eher eine Anklage und ein gerechtes Urteil erwartet hatten. Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben, der politische und soziale Bewegungen seit fast 40 Jahren eingeschüchtert hatte. Das Demonstrationsrecht wurde reformiert, Sondergerichte und -gefängnisse abgeschafft. Ende Juni fand erstmals offiziell ein Treffen der syrischen Opposition in Damaskus statt, beobachtet von mehr als 100 internationalen Medienvertretern. Ein zweites Treffen wurde am vergangenen Wochenende nahe Damaskus durchgeführt (siehe jW vom 20.9.2011). Ein Komitee unter Vorsitz von Vizepräsident Faruk Sha’ra soll derweil den nationalen Dialog organisieren, der mit einem Treffen am 10. Juli begann und seit Mitte September landesweit fortgeführt wird. Präsident Assad trifft sich fast täglich mit Gruppen aus der Bevölkerung aus allen Teilen des Landes, um sich ihre Kritik, Fragen und Vorschläge anzuhören. Ein Parteiengesetz erlaubt fortan die Bildung von unabhängigen Parteien, die allerdings kein religiöses oder ethnisches Programm haben dürfen. Ein neues Wahlgesetz wurde erlassen, ebenso ein neues Mediengesetz.

Hunderte Syrer bringen bei Dialogtreffen ihre Vorstellungen über die Zukunft des Landes ein. Sie diskutieren über die wirtschaftliche, soziale und politische Zukunft und darüber, welche Punkte der Verfassung sie ändern oder ob sie diese neu schreiben sollen. Der Kampf gegen Korruption steht auf der Tagesordnung und die Frage, wie Chancengleichheit für alle umgesetzt werden kann. Es gibt Neugründungen von Parteien und Medien, auch die Opposition, die am nationalen Dialogtreffen erst teilnehmen will, wenn die Waffen schweigen, diskutiert über Organisation und Vorgehen.

Doch jedes Mal, wenn die Regierung einen weiteren Reformschritt gemacht hat, habe sich der Druck des westlichen Auslands auf die internen syrischen Angelegenheiten erhöht, bemerkte Präsident Assad vor wenigen Tagen im Gespräch mit einer Delegation des russischen Parlaments. »Verantwortungslose« Medien hätten »gefälschte Nachrichten« in aller Welt verbreitet, gefolgt von neuen Androhungen und Strafmaßnahmen gegen Syrien. Jeder Reformschritt habe auch neue Aktivitäten »bewaffneter Terrorgruppen gegen Zivilisten, Polizisten, Armee- und Sicherheitskräfte« ausgelöst, so Assad gegenüber der Duma-Delegation. Das Land werde destabilisiert, man habe es mit einem Aufstand zu tun, nicht mit friedlichen Protesten.

Gefahr NATO-Intervention

Ideologisch und praktisch verfolgen syrische Oppositionsgruppen sehr unterschiedliche Ziele. Weit auseinander liegen zudem die Opposition in Syrien selbst und jene im Exil. Daß es bewaffnete Gruppen gibt, wird auch von den Regimegegnern nicht bestritten, wie die lebhafte Debatte über die Frage der Bewaffnung innerhalb der syrischen Oppositionsgruppen zeigt. Einige bewaffnen sich demnach mit Hilfe des Auslands, um gegen das Regime zu kämpfen. Wenn sie nicht der Muslimbruderschaft oder den noch dogmatischeren Salafisten angehören, können sie als Söldner bezeichnet werden, die – finanziert und ausgerüstet vermutlich vom saudischen Geheimdienst und dessen Partnern – schon in Afghanistan, Irak, Libanon und anderswo mit Anschlägen und Überfällen einen Krieg niedriger Intensität zur Destabilisierung des jeweiligen Landes geführt haben. Andere Gruppen bewaffnen sich zum Schutz gegen Angriffe und um zwischen den Fronten nicht wehrlos zu bleiben. Wieder andere greifen zu den Waffen, um getötete Familienangehörige zu rächen. Außerdem gibt es diejenigen, die nach libyschem Vorbild vom Westen ausgerüstet werden wollen; sie fordern zusätzlich die Intervention von NATO-Truppen. Der in den USA lebende syrische oppositionelle Menschenrechtsaktivist Radwan Ziadeh meinte zum Beispiel, der Erfolg der Rebellen in Libyen beschleunige auch in Syrien den Ruf nach Bewaffnung der Opposition gegen Präsident Assad. Das wiederum wird kategorisch von säkularen und fortschrittlichen Oppositionellen abgelehnt, wie sie zuletzt auf ihrer Konferenz Mitte September bei Damaskus bestätigten.

Michel Chossudovsky vom kanadischen Zentrum für Globalisierungsforschung ist überzeugt, daß einige Staaten versuchen, Syrien zu destabilisieren und dafür den bewaffneten Aufstand islamistischer Kräfte unterstützen. Diese wiederum repräsentieren nicht die Mehrheit der syrischen Gesellschaft, die für Reformen und demokratischen Wandel in ihrem Land einträten, so Chossudovsky vor wenigen Tagen im russischen Nachrichtensender Russia Today (RT).

Der Aufstand »soll destabilisieren und einen Vorwand für die ›Schutzverantwortung‹ schaffen«, unter dem die NATO in Syrien eingreifen könne, meinte er. Eine Untersuchung des Aufstandes, seiner Ursachen und Folgen sei dringend erforderlich, eine ausländische Intervention nach dem Beispiel Libyens dagegen »in keiner Weise gerechtfertigt«. Seinem Zentrum lägen Informationen vor, »daß das NATO-Hauptquartier in Brüssel und der türkische Oberste Kommandorat bereits Pläne für einen Militärintervention gegen Syrien ausgearbeitet haben«, so Chossudovsky. Es gebe Fakten, wonach »die NATO Mudschahedin-Kämpfer und Dschihadisten rekrutiert«, die die NATO bei einem Eingreifen unterstützen sollen. Sollte die Allianz militärisch intervenieren, werde das umgehend zu einer regionalen Eskalation führen, warnte Chossu­dovsky. Sowohl Israel als auch der Libanon und möglicherweise der Iran könnten betroffen sein.

In diese Richtung gehen tatsächlich Überlegungen neokonservativer Kreise in den USA, wie Joshua Landis, Professor an der Universität von Oklahoma und Leiter des Zentrums für Studien des Mittleren Ostens, recherchiert hat. Landis ist einer der aufmerksamsten und umsichtigsten Beobachter der Entwicklungen in Syrien. Auf seinem Blog (www.syriacomment.com) werden widersprüchliche Aussagen und Beobachtungen einander gegenübergestellt, was es ermöglicht, sich jenseits des antisyrischen Medienhypes zu informieren.

Befürworter und Gegner eines militärischen Eingreifens in Syrien würden sich einen medialen Schlagabtausch liefern, so Landis. Zu den Befürwortern gehöre u.a. der neokonservative Politiker und frühere UNO-Botschafter John Bolton, der Direktor des Nationalen Sicherheitsrates, Michael Doran, sowie Elliott Abrams, bekannt durch seine Verwicklung in die Iran-Contra-Affäre (1986, unter US-Präsident Ronald Reagan), in Menschenrechtsverletzungen der früheren Regierungen in El Salvador sowie Nicaragua und Sonderberater des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush in Sachen Mittlerer Osten und Nordafrika.

Nach Ansicht von Landis lieferten die zahlreichen Schwächen und Fehler des syrischen Regimes die Grundlage für die US-Debatte. Die Konzentration der Macht auf die Familie Assad werde genutzt, um religiösen Zwist zwischen der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung und der alawitischen Minderheit (der Assad angehört) zu schüren.

Diejenigen, die nicht für eine sofortige, direkte militärische Einmischung der USA seien, wollen alles tun, um diese in Zukunft »auf einem noch höheren Level« möglich zu machen, so Landis. Die syrische Opposition solle bewaffnet und »zu einer umfassenden militärischen Option« ausgebildet werden. Dafür sei Unterstützung der USA und der NATO gefragt. Bis dahin sei die Strategie, das Land durch Wirtschaftssanktionen zu schwächen. »Wenn die Syrer anfangen zu hungern, was sie mit Sicherheit tun werden, wenn wirkliche Sanktionen greifen, wird das moralische Argument für Intervention und militärische Eskalation auf fruchtbaren Boden fallen«, schlußfolgert Landis und verweist auf den Irak als Vorbild, wo Saddam für den Hunger seines Volkes verantwortlich gemacht wurde. Irak hatte von 1990 bis 2003 unter UNO-Sanktionen gestanden. Für das Leid der ärmsten und verletzlichsten Syrer werde weiter das syrische Regime verantwortlich gemacht, und so werde die öffentliche Meinung schließlich einer militärischen Intervention zustimmen.

»Realisten« für Nichteinmischung

Eine liberalere Haltung nehmen in der aktuellen Debatte die sogenannten Realisten ein, die für »Nichteinmischung« plädieren. Die Sprecherin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, erklärte, man erwäge alle Maßnahmen gegen Syrien, nur keine militärische Intervention. Auch ­Anthony Cordesman vom Zentrum für Strategische und Internationale Studien geht davon aus, daß weder die USA noch ihre Verbündeten große militärische Möglichkeiten in Syrien hätten. Cordesman sieht demnach nicht wirklich einen Aufstand, den man unterstützen könne, zudem habe Syrien »anders als Libyen« einen Militärapparat, mit dem man rechnen müsse. Die Realisten warnen vor einem schmutzigen Bürgerkrieg, Assad genieße zudem noch immer viel Unterstützung im Land. Sollten sich die USA einmischen, bedeute das nicht nur hohe Ausgaben, sondern es sei auch mehr als fraglich, ob es »im Interesse der USA« sei. Man solle sich nicht zu eng an Israel und Saudi-Arabien binden, so die Meinung der »Realisten«, auch sei es nicht ratsam, sich in einen Religionskrieg in der Region ziehen zu lassen.

Für die Neokonservativen sei der Sturz von Assad und seinem Regime ein »lebensnotwendiges strategisches Ziel« in der Region, analysiert Joshua Landis weiter. Es ginge darum, »seinen Freunden zu helfen und dem Feind zu schaden«; Israel und Saudi-Arabien seien die wichtigsten Freunde der USA in der Region, diese gelte es zu stärken. Dafür müßten Syrien und dessen Verbündete Iran, Hisbollah und Hamas zerstört werden. Schließlich ginge es im Mittleren Osten um einen »Kampf zwischen Gut und Böse, um Freiheit gegen Tyrannei«.

Mit Blick auf die EU-Regierungen meint Landis: Sollten diese ebenso wie die USA verheerende Handelssanktionen gegen Syrien verhängen, dürfe man getrost davon ausgehen, daß man auch in Europa ein militärisches Engagement akzeptiere, »um die humanitären Probleme zu lösen, die durch die Sanktionen erzeugt werden«. Auch wenn sie möglicherweise keine Bodentruppen befürworteten, wie im Irak, könnten sie einer Flugverbotszone zustimmen und einen »ordentlichen syrischen Aufstand« bewaffnen und ausbilden, wie in Libyen. Zu bedenken wäre dabei allerdings, daß die syrische Armee stärker ist als die in Libyen. Außerdem habe Syrien – anders als Libyen – keine großen Vermögen auf westlichen Banken liegen, die man für die Finanzierung der Opposition ausgeben könnte.

* Karin Leukefeld ist freie Journalistin und berichtet regelmäßig für junge Welt aus dem Nahen und Mittleren Osten.

Aus: junge Welt, 22. September 2011



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