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Auf Distanz zu Assad und den Aufständischen

Kurden in Syrien bemühen sich um »sensible Balance«. Bewaffnete Einheiten und Kontrollpunkte verhindern Übergreifen der Kämpfe

Von Karin Leukefeld *

Kurden in Syrien haben sich bisher mehrheitlich geweigert, sich auf die Seite der bewaffneten Aufständischen zu stellen. Der Versuch des einflußreichen Stammesführers Masud Barzani, in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak in Ergänzung zu dem in Istanbul gegründeten Syrischen Nationalrat (SNR) einen »Kurdischen Nationalrat« mit politischen Gremien und bewaffneten Einheiten für den Kampf in Syrien zu bilden, ist offenbar fehlgeschlagen. Ein militärisches Ausbildungslager bei Erbil, in dem die kurdischen Kämpfer einen monatlichen Salär von 400 US-Dollar (320 Euro) erhalten haben sollen, wurde wegen mangelnder politischer Einigkeit mittlerweile wieder aufgelöst.

Die trotz langjährigem Verbot in Syrien gut organisierte Kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) schlägt derweil einen selbstständigen Kurs ein, den offenbar viele Kurden in Syrien für richtig halten. Einerseits nimmt die PYD gegenüber der Regierung von Baschar Al-Assad eine deutlich oppositionelle Haltung ein, grenzt sich aber gleichzeitig klar von den bewaffneten Aufständischen der »Freien Syrischen Armee« und der Auslandsopposition ab. Als stärkste Kraft im kurdischen Block innerhalb des Nationalen Koordinationsbüros für demokratischen Wandel (NCB) schließt sich die PYD vielmehr den »drei Neins« an: Nein zur Gewalt. Nein zur ausländischen Intervention. Nein zum konfessionellen Bürgerkrieg.

Basis der PYD sind die traditionellen Siedlungsgebiete der syrischen Kurden im Norden des Landes. Zwischen Afrin (Provinz Aleppo) im Westen und Al Malikiyah (Derik) im Osten kontrolliert die Organisation entlang der rund 850 Kilometer langen Grenze zur Türkei die meisten Ortschaften. Im Sprachgebrauch der Kurden, die für ihr viergeteiltes Siedlungsgebiet in der Türkei, Iran, Irak und Syrien eine politische Lösung anstreben, heißt dieses Gebiet auch »Westkurdistan«. Aktion "„Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen. [...] Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat." (Brecht) Darum lese ich die junge Welt." Jaqueline Ulmert, Stuttgart/Bremen

In einem seltenen Hintergrundgespräch (Text in Englisch: www.al-monitor.com) gab kürzlich ein namentlich nicht genannter hochrangiger kurdischer Oppositioneller dem Korrespondenten der libanesischen Tageszeitung As Safir, Mohammad Ballout, ausführlich Einblick in Strategie und Taktik der PYD in Syrien. Politisch und militärisch organisiert die Partei demnach den Widerstand sowohl gegen einen möglichen Angriff der türkischen Armee als auch gegen Angriffe der »Freien syrischen Armee (FSA)« aus der Türkei.

Wichtiger Bestandteil der »kurdischen Verteidigungslinie« sind demnach einerseits bewaffnete Einheiten, die im Laufe des vergangenen Jahres um bis zu 4500 Kämpfer aus den Kandil-Bergen (Nordirak) aufgestockt worden seien. Dabei handele es sich um syrische Kurden, die in den Reihen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgebildet worden seien. Das zweite Standbein sei die politische Organisierung der Bevölkerung in »Volkskomitees«, berichtete die Quelle. In Afrin, an den Zufahrtsstraßen nach Aleppo, gebe es mehr als 200 PYD-Kontrollpunkte. Im April sei es dort zu Auseinandersetzungen mit Muslimbrüdern gekommen, die einmarschieren wollten. Seitdem würden konsequent alle Bewaffneten an den kurdischen Kontrollpunkten gestoppt. Mitte Juni sei es zu Zusammenstößen zwischen kurdischen Anhängern der bewaffneten Aufständischen und einer weiblichen PYD-Einheit gekommen, die schließlich elf Männer festnahmen.

Die PYD halte eine sensible Balance, analysiert Ballout. Sie stehe in klarer Opposition sowohl zur syrischen Regierung als auch zur »Freien Syrien Armee«, vermeide aber bewaffnete Auseinandersetzungen mit beiden Seiten. So sei es der PYD bisher gelungen, den kurdischen Gebieten blutige Kämpfe zu ersparen. Gleichzeitig unterbinde sie den Schmuggel von türkischen, katarischen oder saudischen Waffen aus der Türkei nach Syrien. Die Arbeit der frei gewählten »Volkskomitees Westkurdistans« würde von syrischen staatlichen Stellen nicht behindert. 640 gefangene Aktivisten der PYD, die im Laufe des vergangenen Jahres freigelassen worden waren, könnten sich heute in die Verteidigung und quasi Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in Syrien aktiv einbringen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Juni 2012


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