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Ein "richtiger Krieg"

Syrien: Bericht über Hula-Massaker vor UN-Menschenrechtsrat. Zwei Vertreter der Opposition als Mitglieder der neuen Regierung in Damaskus vorgestellt

Von Karin Leukefeld *

Der UN-Menschenrechtsrat hat sich am Mittwoch in Genf mit der Lage in Syrien befaßt. Der Leiter einer Sonderkommission zu der Arabischen Republik, Paulo Pinheiro, hatte vom 23. bis 25. Juni dort Informationen über Gewalttaten eingeholt. Pinheiro trug nun vor, daß die syrischen Regierungstruppen bei ihren militärischen Operationen in den letzten drei Monaten Menschenrechtsverletzungen »in alarmierendem Ausmaß« begangen hätten. Außerdem gebe es viele Berichte über die Tötung von Menschen durch bewaffnete Aufständische. Diese setzten in ihrem Kampf verstärkt Sprengsätze ein. Immer mehr Menschen würden wegen ihrer Religionszugehörigkeit angegriffen. Trotz des vereinbarten Waffenstillstands am 12. April habe die Gewalt deutlich zugenommen. Zum Massaker von Hula, bei dem am 25. Mai 108 Menschen getötet worden waren, sagte Pinheiro, man könne nicht ausschließen, daß Regierungsgegner versucht hätten, den Konflikt zu eskalieren, und Personen, die sich ihnen nicht anschließen wollten, bestraft hätten. Auch »ausländische Gruppen unbekannter Herkunft« könnten beteiligt gewesen sein. Das Gremium sei nicht in der Lage »die Identität der Täter festzustellen«, so Pinheiro weiter. »Dennoch ist die Kommission der Ansicht, daß regierungsloyale Truppen für viele der Toten verantwortlich sein könnten.«

Keine Dringlichkeit

Die syrische Delegation verließ die Tagung unter Protest. Man werde »nicht länger an dieser schamlos politisierten Sitzung teilnehmen«, zitierte die Nachrichtenagentur AFP den syrischen Botschafter Faisal Khabbaz Hamoui. Markus Löning, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, bezeichnete die Ergebnisse der Kommission als schockierend. Die Gewalt in Syrien müsse »restlos aufgeklärt werden«, man werde auf die Umsetzung der EU-Sanktionen drängen. Zu dem Angriff auf den Fernsehsender Al-Ikhbariya am Mittwoch morgen, bei dem drei Mitarbeiter getötet worden waren, äußerte sich Löning nicht. Die TV-Anstalt war von der EU am vergangenen Montag auf die Sank­tionsliste gesetzt worden.

Die Linke-Abgeordnete Sevim Dagdelen griff in einer Fragestunde im Bundestag am Mittwoch erneut den Abschuß eines türkischen Kampfjets durch die syrische Luftabwehr auf. Sie wollte von der Bundesregierung wissen, ob »das Eindringen eines niedrig und mit hoher Geschwindigkeit fliegenden türkischen Kampfflugzeuges in den syrischen Luftraum« nicht auch als »Angriffshandlung (hätte) wahrgenommen werden« können. Vor allem vor dem Hintergrund, daß die Türkei sich bereits »durch die Duldung von Waffenlieferungen und Bereitstellung von Rückzugsräumen für die Freie Syrische Armee« in den Konflikt in Syrien einmische. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) ließ die Frage der Abgeordneten »mangels Dringlichkeit« nicht zu.

Sozialer Ausgleich

Bei der ersten Sitzung der neuen Regierung in Damaskus am Dienstag äußerte sich der syrische Präsident Baschar Al-Assad zur aktuellen Lage und zu den Schwerpunkten der zukünftigen Politik. Mit Kadri Jamil als neuem Vizeministerpräsidenten für Wirtschaft und Ali Haidar als Minister für nationale Versöhnung wurden erstmals Vertreter der Opposition in die Regierung berufen. Haidar saß viele Jahre in politischer Gefangenschaft. Assad betonte, die Notwendigkeit einer transparenten Regierungsarbeit und sagte, daß die Bedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere der weniger privilegierten Menschen, Vorrang haben müßten. Sozialer Ausgleich sei die Grundlage für politische Stabilität und Sicherheit. Das Land durchlebe einen »richtigen Krieg«, sagte Assad weiter. Alle Politik müsse darauf ausgerichtet sein, diesen Krieg zu gewinnen. Die Regierung solle Syriens Beziehungen zum Osten und zum Süden ausbauen, sagte Assad. Von Rußland bis China, Lateinamerika bis Südafrika sollten Staat und Privatsektor die internationalen Verbindungen vertiefen. »Jahrzehntelang haben wir uns darum bemüht, unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit denjenigen auszubauen, die uns direkt oder indirekt kolonialisiert haben. Wir wollen mit allen Staaten der Welt gute Beziehungen, aber wir müssen wissen, wo unsere wirklichen Interessen sind.«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Juni 2012


Auf Distanz zu Assad und den Aufständischen

Kurden in Syrien bemühen sich um »sensible Balance«. Bewaffnete Einheiten und Kontrollpunkte verhindern Übergreifen der Kämpfe

Von Karin Leukefeld **


Kurden in Syrien haben sich bisher mehrheitlich geweigert, sich auf die Seite der bewaffneten Aufständischen zu stellen. Der Versuch des einflußreichen Stammesführers Masud Barzani, in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak in Ergänzung zu dem in Istanbul gegründeten Syrischen Nationalrat (SNR) einen »Kurdischen Nationalrat« mit politischen Gremien und bewaffneten Einheiten für den Kampf in Syrien zu bilden, ist offenbar fehlgeschlagen. Ein militärisches Ausbildungslager bei Erbil, in dem die kurdischen Kämpfer einen monatlichen Salär von 400 US-Dollar (320 Euro) erhalten haben sollen, wurde wegen mangelnder politischer Einigkeit mittlerweile wieder aufgelöst.

Die trotz langjährigem Verbot in Syrien gut organisierte Kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) schlägt derweil einen selbstständigen Kurs ein, den offenbar viele Kurden in Syrien für richtig halten. Einerseits nimmt die PYD gegenüber der Regierung von Baschar Al-Assad eine deutlich oppositionelle Haltung ein, grenzt sich aber gleichzeitig klar von den bewaffneten Aufständischen der »Freien Syrischen Armee« und der Auslandsopposition ab. Als stärkste Kraft im kurdischen Block innerhalb des Nationalen Koordinationsbüros für demokratischen Wandel (NCB) schließt sich die PYD vielmehr den »drei Neins« an: Nein zur Gewalt. Nein zur ausländischen Intervention. Nein zum konfessionellen Bürgerkrieg.

Basis der PYD sind die traditionellen Siedlungsgebiete der syrischen Kurden im Norden des Landes. Zwischen Afrin (Provinz Aleppo) im Westen und Al Malikiyah (Derik) im Osten kontrolliert die Organisation entlang der rund 850 Kilometer langen Grenze zur Türkei die meisten Ortschaften. Im Sprachgebrauch der Kurden, die für ihr viergeteiltes Siedlungsgebiet in der Türkei, Iran, Irak und Syrien eine politische Lösung anstreben, heißt dieses Gebiet auch »Westkurdistan«.

In einem seltenen Hintergrundgespräch (Text in Englisch: www.al-monitor.com) gab kürzlich ein namentlich nicht genannter hochrangiger kurdischer Oppositioneller dem Korrespondenten der libanesischen Tageszeitung As Safir, Mohammad Ballout, ausführlich Einblick in Strategie und Taktik der PYD in Syrien. Politisch und militärisch organisiert die Partei demnach den Widerstand sowohl gegen einen möglichen Angriff der türkischen Armee als auch gegen Angriffe der »Freien syrischen Armee (FSA)« aus der Türkei.

Wichtiger Bestandteil der »kurdischen Verteidigungslinie« sind demnach einerseits bewaffnete Einheiten, die im Laufe des vergangenen Jahres um bis zu 4500 Kämpfer aus den Kandil-Bergen (Nordirak) aufgestockt worden seien. Dabei handele es sich um syrische Kurden, die in den Reihen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgebildet worden seien. Das zweite Standbein sei die politische Organisierung der Bevölkerung in »Volkskomitees«, berichtete die Quelle. In Afrin, an den Zufahrtsstraßen nach Aleppo, gebe es mehr als 200 PYD-Kontrollpunkte. Im April sei es dort zu Auseinandersetzungen mit Muslimbrüdern gekommen, die einmarschieren wollten. Seitdem würden konsequent alle Bewaffneten an den kurdischen Kontrollpunkten gestoppt. Mitte Juni sei es zu Zusammenstößen zwischen kurdischen Anhängern der bewaffneten Aufständischen und einer weiblichen PYD-Einheit gekommen, die schließlich elf Männer festnahmen.

Die PYD halte eine sensible Balance, analysiert Ballout. Sie stehe in klarer Opposition sowohl zur syrischen Regierung als auch zur »Freien Syrien Armee«, vermeide aber bewaffnete Auseinandersetzungen mit beiden Seiten. So sei es der PYD bisher gelungen, den kurdischen Gebieten blutige Kämpfe zu ersparen. Gleichzeitig unterbinde sie den Schmuggel von türkischen, katarischen oder saudischen Waffen aus der Türkei nach Syrien. Die Arbeit der frei gewählten »Volkskomitees Westkurdistans« würde von syrischen staatlichen Stellen nicht behindert. 640 gefangene Aktivisten der PYD, die im Laufe des vergangenen Jahres freigelassen worden waren, könnten sich heute in die Verteidigung und quasi Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in Syrien aktiv einbringen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Juni 2012


Angriff auf TV-Sender

Erst EU-Sanktionen, dann Sprengsätze ***

Bewaffnete Aufständische überfielen am Mittwoch den syrischen Fernsehsender Al-Ikhbariya. Ersten Meldungen zufolge waren die Bewaffneten am frühen Morgen auf das Gelände des Senders eingedrungen, der etwa 20 Kilometer südlich von Damaskus in dem Ort Drousha liegt. Die Angreifer erschossen sieben Mitarbeiter und entführten mehrere, brachten Sprengsätze zur Explosion und zerstörten große Teile des Senders.

In einem Notprogramm zeigte Al-Ikhbariya Bilder von der Verwüstung in dem zweigeschossigen Sendegebäude. Zerschossene Wände, zerborstene Scheiben, brennende Geräte, eingestürzte Metallkonstruktionen, Blutlachen auf dem Boden.

Nadim Houry von der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verurteilte den Angriff und sagte, Medien dürften in einem Konflikt nicht zur Zielscheibe werden.

Wegen seiner angeblichen »Regimenähe« war der private Sender am vergangenen Montag von den EU-Außenministern auf die Sanktionsliste gesetzt worden. Auch andere syrische Medien, wie die private Tageszeitung Al-Watan und das Internetportal Cham Press waren bereits Ende 2011 von der EU mit Sanktionen bestraft worden. Der Ministerrat der Arabischen Liga hatte Anfang Juni beschlossen, die Ausstrahlung sämtlicher syrischer Fernsehsender über die Satellitenanbieter Arabsat und Nilesat zu verbieten. Arabsat gehört den 21 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga, Nilesat ist ein privates ägyptisches Unternehmen. Weil die arabischen Staaten sich offenbar über einen so massiven Angriff auf die Pressefreiheit nicht einig sind, wurde das Verbot von den Satellitenanbietern bisher nicht umgesetzt.

Bei einem Besuch des zerstörten Senders machte der neu ernannte Informationsminister Syriens, Omran Al-Zoubi, »die EU und arabische und internationale Organisationen für das Massaker« verantwortlich, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur SANA. »Mit diesem Verbrechen haben die Täter nur die Entscheidung der Arabischen Liga umgesetzt, die die syrische Stimme zum Schweigen bringen will.« (kl)

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. Juni 2012


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