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Suche nach Ausweg

Bei vielen Syrern lösen die bewaffneten Angriffe der Opposition Angst aus. Sie kritisieren aber auch die Sicherheitskräfte

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Seit 20 Jahren lebe ich hier mit meiner Familie in Damaskus, so etwas habe ich noch nie erlebt«. Der braungebrannte Mann beugt sich herüber und sagt: »Wenn die Sommerferien anfangen, werde ich meine Frau und die Kinder ins Dorf bringen«. Die nächtlichen Angriffe mit Granatwerfern im Zentrum von Damaskus sind am Montag das Thema der Leute. Der Mann, nennen wir ihn Khalid, lebt in einem kleinen, einfachen Haus auf dem Berg Qassioun. Von dort konnte er das Blaulicht der Rettungswagen und die Polizei beobachten, die unterhalb in Rukn Deen den Tatort sicherte. Vier Polizisten waren dort verletzt worden, als ihr Kontrollpunkt in der Nacht auf Montag von Unbekannten angegriffen worden war, mitten in einem dichtbesiedelten Wohngebiet. Ein weiterer Angriff galt der Zentralbank. Auch wenn der Schaden klein war, löst der Angriff bei Khalid doch Angst aus. »Meine drei Mädchen gehen ganz in der Nähe zur Schule«, sagt er. »Was, wenn so was am Tag geschieht, oder wenn sie auf dem Schulweg entführt werden?«

Bomben und Folter

Ziel der bewaffneten Angriffe und Anschläge seien die Infrastruktur und die Symbole des Systems Assad, sagt ein namentlich nicht genannter Mann der Nachrichtenagentur Reuters. Er gibz an, eine Kampfgruppe zu führen. Kontrollpunkte und Militärpatrouillen seien Ziele, Einrichtungen von Geheimdiensten, Militär und Sicherheitskräften. »Wir haben unsere Taktik verbessert und setzen jetzt Bomben ein, weil die Leute zu arm sind und wir nicht genug Waffen haben«, sagt der Mann. »Wir kämpfen mit den Mitteln, die wir haben.« Dazu gehört auch Einschüchterung, wie ein Gesprächspartner (der Autorin) aus Aleppo berichtet. Geschäftsleute, die sich weigerten, an Protesten teilzunehmen und ihre Läden zu schließen, würden gezwungen, eine »Revolutionssteuer« zu zahlen. Die Auseinandersetzung in Syrien sei alles andere als der Kampf einer »guten Opposition mit richtigen Zielen« und einer »bösen Regierung«, fährt der Gesprächspartner fort, der seinen Namen nicht nennen möchte. So sehr er die einseitige Kritik westlicher Staaten und vieler Medien an der syrischen Führung ablehnt, so deutlich kritisiert er das Vorgehen der Sicherheitskräfte. »Täglich kommen Männer aus den Gefängnissen frei, die nach der Behandlung dort nur noch einen Gedanken im Kopf haben«, sagt er nachdenklich. »Sie wollen sich bewaffnen, um Rache zu nehmen.« Folter sei noch nie ein Mittel gewesen, um Menschen von ihrer Meinung abzubringen, das Regime müsse das begreifen.

Der Himmel über Damaskus ist braun und dunkel von Sand, der seit Tagen aus dem Irak und vom Südosten der Arabischen Halbinsel über das Land geweht wird. Der 1. Mai sei zwar ein Feiertag, doch Arbeiterdemonstrationen oder Versammlungen fänden in diesem Jahr nicht statt, sagt der Taxifahrer, der seinen klapprigen Wagen in Richtung West-Damaskus lenkt. »Niemandem ist nach Feiern und Protesten zumute, alle wünschten, es würde eine Lösung gefunden, damit wir mit dem Leben wieder vorankommen.«

»Die Anschläge der letzten Tage sind ein letztes Aufbäumen«, ist der Historiker George Jabbour überzeugt. Die Regierung werde die Lage allmählich unter Kontrolle bekommen, die UN-Beobachtermission sei eine gute Sache und an den Annan-Plan müßten sich schließlich alle Seiten halten. Frau Jabbour serviert schwarzen Kaffee und Süßigkeiten und kritisiert dann die einseitige Parteinahme der Golfmonarchien, die sie direkt für die Gewalt verantwortlich macht. »Das Geld, das der Emir von Katar den Kämpfern gibt, soll er lieber an die armen und hungrigen Menschen verteilen«. Alle Araber seien stolz auf Al-Dschasira gewesen, den Nachrichtenkanal aus Katar, der von den USA in Afghanistan und Irak sogar bombardiert wurde, wirft ihr Mann ein. In Libyen und nun in Syrien habe Al-Dschasira seine Glaubwürdigkeit verloren.

Kritik zurückweisen

Frau Jabbour legt weitere Süßigkeiten auf die Teller und zwinkert der Autorin zu: »Essen Sie doch, greifen Sie zu. Und schreiben Sie, wie ich versuche, Sie zu bestechen, damit Sie gute Sachen über Syrien schreiben.«

Der militärische Leiter der UN-Beobachter, General Mood aus Norwegen, »hat eine gute und ausbalancierte Stellungnahme abgegeben«, sagt George Jabbour. »Er ist ein kultivierter Mann, wählt bedächtig seine Worte, und ich bin mir sicher, daß er seinen Auftrag gewissenhaft ausführen wird. Dennoch muß ich sagen, daß ich es überhaupt nicht gern sehe, daß ein ausländischer General nun hier in Syrien das Sagen haben soll.« Die USA müßten auf die Türkei, Saudi-Arabien und Katar einwirken, damit die wiederum ihre Hilfe mit Geld und Waffen für bewaffnete Gruppen in Syrien einstellten. Eigentlich seien doch alle »müde und suchen einen Ausweg, um irgendwie die Lage wieder zu beruhigen«. Deutlich kritisiert Jabbour Äußerungen von Kritikern des Sechs-Punkte-Plans, wie dem Scheich von Kuwait. Der habe dem Annan-Plan und der Beobachtermission kürzlich eine Chance von drei Prozent eingeräumt. »Solche Äußerungen schüren das Blutvergießen, den Bürgerkrieg und müssen ganz klar zurückgewiesen werden.«

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 2. Mai 2012

Drohszenarien: Kalkül mit Krieg

Der Sprecher des syrischen Außenministeriums, Dschihad Mekdissi, hat am Sonnabend Äußerungen der türkischen Regierung mit scharfen Worten zurückgewiesen. Der türkische Ministerpräsident Tayyib Erdogan hatte in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al-Dschasira (Katar) erklärt, sollte Syrien erneut die Grenze der Türkei angreifen, werde man die NATO um Hilfe bitten. Kapitel fünf des NATO-Vertrages sehe vor, einen Mitgliedsland zu Hilfe zu kommen, sollte dieses gefährdet sein. Solche Äußerungen seien eine Provokation, die die Lage in Syrien verschlimmern würde, erklärte Mekdissi. Sie verschlechterten zudem die bilateralen Beziehungen beider Staaten und widersprächen dem Sechs-Punkte-Plan des früheren UN-Generalsekretärs Kofi Annan. Syrien habe »zu keinem Zeitpunkt die türkische Grenze bedroht«, stellte Mekdissi klar. Man wolle mit der Türkei weiterhin gute nachbarschaftliche Beziehungen. Diese würden allerdings von der Türkei auf eine harte Probe gestellt Sie dulde bewaffnete Gruppen auf ihrem Territorium, die von dort Angriffe auf Syrien starteten und nicht vorhätten, sich an einem politischen Prozeß in Syrien zu beteiligen.

In Paris wurde derweil Ende vergangener Woche die Bildung einer »Übergangsregierung« für Syrien bekanntgegeben. Aus Sicherheitsgründen sollten die Namen der Regierungsmitglieder für die »Nach-Assad-Ära« aber erst später bekanntgegeben werden, erklärte der im Exil lebende syrische Geschäftsmann Nofal Dawalibi. Dessen Vater Marouf Dawalibi (1909-2004) war nach der Unabhängigkeit Syriens 1946 Wirtschaftsminister, später Ministerpräsident und wurde nach der Machtübernahme der Baath-Partei 1963 verhaftet. Später ging Dawalibi über Libanon ins Exil nach Saudi-Arabien, wo er als Berater des saudischen Königshauses tätig war. Nofal Dawalibi grenzte sich bei seiner Pressekonferenz in Paris vom Syrischen Nationalrat (SNR) ab und sagte, dieser repräsentiere »weder das syrische Volk noch die Revolu­tion«. Ziel der Übergangsregierung sei es, die »regimekritischen Kämpfer zu bewaffnen« und eine »direkte internationale Militärintervention« umzusetzen. Das werde Sicherheit und Stabilität nach Syrien zurückbringen. (kl)

(junge Welt, 02.05.2012)




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