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Komplexe Krise

Hintergrund. Millionen Syrer fliehen vor dem Bürgerkrieg. Sie werden politisch instrumentalisiert und tragen zur Destabilisierung der Nachbarländer bei

Von Ulla Jelpke *

Mehr als zwei Jahre tobt der vom Westen und den Golfmonarchien mit Waffenlieferungen an die bewaffneten Rebellengruppen angeheizte Bürgerkrieg in Syrien. Inzwischen befindet sich ein Viertel der syrischen Bevölkerung auf der Flucht. Über 1,6 Millionen Syrer sind in die Nachbarstaaten Türkei, Libanon und Jordanien geflohen. Allein seit Jahresbeginn haben sich nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) über eine Millionen Syrer als Flüchtlinge registrieren lassen, über die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. Sollten die Kämpfe andauern, rechnet das UNHCR mit einem weiteren Anstieg der ins Ausland fliehenden Syrer bis zum Jahresende auf 3,45 Millionen und der Binnenflüchtlinge auf 6,8 Millionen. Fünf Milliarden US-Dollar will die UN für humanitäre Hilfe für die syrischen Flüchtlinge sammeln – noch nie zuvor gab es einen Aufruf in dieser Höhe. Der Generalsekretär der in Jordanien tätigen Hilfsorganisation CARE Deutschland-Luxemburg, Karl-Otto Zentel, spricht von der »komplexesten humanitären Krise unserer Zeit«. Die Fluchtwelle trägt auch zur Destabilisierung der ganzen Region mit ihrem spannungsreichen Mosaik ethnischer und religiöser Bevölkerungsgruppen bei.

Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Syrien beträgt derzeit 4,25 Millionen. Neben Flüchtlingen aus den schwer umkämpften Regionen des Landes sind darunter zahlreiche Angehörige religiöser Minderheiten, wie Alawiten und Christen, die vor mörderischen Gotteskriegern aus den Reihen der Freien Syrischen Armee (FSA) fliehen. Sowohl die Angriffe der Regierungstruppen als auch die bewaffnete Opposition stellen Fluchtgründe dar. In diesen Wanderungen agieren deutsche Hilfswerke ohne Deckung durch ein UN-Mandat und ohne Abstimmung mit der syrischen Regierung in den von solchen Oppositionskräften kontrollierten Gebieten. Dabei bekommen sie finanzielle und politische Rückendeckung von der Bundesregierung. »Wir unterstützen ausdrücklich grenzüberschreitende Direkthilfe. Die humanitäre Notlage erfordert unser Handeln, auch gegen den Willen des Assad-Regimes«, erklärte der Beauftragte der Bundesregierung für Humanitäre Hilfe, Markus Löning (FDP), Anfang Mai gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

So fördert die Hilfsorganisation Medico International, die im Rahmen der Kampagne »Adopt a Revolution« in Deutschland Spenden für die syrischen »Revolutionäre« eintreibt, ein Bürgerkomitee in der Provinz Hasaka sowie die Medical Commission of Syrian Revolution. Letzeres Projekt leistet Opfern staatlicher Verfolgung medizinische Hilfe, worunter wohl auch im Kampf mit Regierungstruppen verwundete Söldner der FSA fallen. Die deutsche Welthungerhilfe versorgt in den Provinzen Aleppo, Hama und Idlib über 100000 Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln. Medico und die Welthungerhilfe haben bis Anfang Mai rund eine Million Euro vom Auswärtigen Amt erhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt flossen zudem 22 Millionen Euro aus dem Nothilfeetat des Auswärtigen Amtes zur Unterstützung von Flüchtlingen und der bedürftigen Bevölkerung in Syrien mit Nahrungsmitteln und Medikamenten.

Diese »humanitäre Hilfe« zielt auf politische Einflußnahme. Ein vom Auswärtigen Amt finanziertes Projektbüro der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) arbeitet zu diesem Zweck im türkischen Gaziantep direkt mit dem Ausschuß für Wiederaufbau und Nothilfe der »Nationalen Koalition der syrischen Opposition« zusammen. »Die gemäßigte Opposition wird nur dann den Respekt der Bevölkerung gewinnen, wenn sie den Menschen sichtbar dabei hilft, die drängendsten Probleme in den befreiten Gebieten anzupacken«, rechtfertigte Bundesaußenminister Guido Westerwelle die Finanzierung der von den Moslembrüdern dominierten Oppositionskräfte, die von der Bundesregierung weitere zehn Millionen Euro für »Projekte in den befreiten Gebieten« erhielten.[1]

Während in einigen dieser »befreiten Gebieten« Gotteskrieger eine blutige Schariaherrschaft etabliert haben und religiöse Minderheiten vertreiben, gibt es in den Rojava genannten kurdischen Siedlungsgebieten Syriens tatsächlich befreite Gebiete, in denen Volksräte seit rund einem Jahr die Kontrolle ausüben. Doch an diese Rätebewegung fließen keine deutschen Hilfsgelder, obwohl sich in den bislang vom Bürgerkrieg noch nicht so stark betroffenen Gebieten eine halbe Million Bewohner anderer Landesteile, insbesondere aus Damaskus und Aleppo, geflüchtet haben. Darunter sind viele Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten wie christliche Assyro-Aramäer und Armenier, aber auch arabische Sunniten. Hilfe für die Menschen in Rojava kommt vor allem durch Spenden von Kurden aus der Türkei und dem Irak. Doch während die türkische Armee dschihadistischen Kämpfern der FSA Feuerschutz bei deren Angriffen auf kurdische Stellungen gibt, verhindert die kurdische Regionalregierung im Nordirak mit Grenzblockaden die Lieferung von Hilfsgütern. So soll die Selbstverwaltungsbewegung in Rojava, deren linkes politisches Profil weder der Regierung in Ankara noch dem kurdischen Präsidenten Massoud Barzani gefällt, destabilisiert und ausgehungert werden.

Tickende Zeitbombe

Die im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung größte Flüchtlingsmenge hat der Libanon zu bewältigen. Nach UNHCR-Angaben sind dort rund 530000 Syrer – darunter auch 55000 zuvor in Syrien lebende Palästinenser – registriert. Dazu kommt eine Masse nichtregistrierter Flüchtlinge. Und täglich treffen 3000 weitere ein. Das libanesische Innenministerium geht inzwischen von einer Million Syrer im Libanon aus, von denen allerdings einige hunderttausend schon vor dem Krieg als Arbeitsmigranten im Land lebten. Damit machen Syrer inzwischen fast ein Viertel der Bevölkerung aus.

Lager wurden aufgrund der politischen Zerstrittenheit der libanesischen Regierung bislang nicht gebaut. Viele Flüchtlinge müssen in Zelten, Rohbauten oder Garagen wohnen, in völlig überfüllten Quartieren in Schichten hintereinander schlafen und dafür auch noch hohe Mieten zahlen. Wer registriert ist, bekommt zumindest Essensgutscheine aus dem Welternährungsprogramm. Doch erschwert wird die Hilfe dadurch, daß diese auf über 1000 Orte im ganzen Land verstreut leben.

Zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 hießen die meisten Libanesen Flüchtlinge aus dem Land willkommen. Die Erinnerung war noch wach, wie Syrien zahlreichen Libanesen während der israelischen Luftangriffe auf den Libanon im Jahr 2006 aufgenommen hatte. Doch inzwischen ist die libanesische Gesellschaft überfordert. Arme Libanesen beschuldigen Syrer, ihnen als Schwarzarbeiter die Jobs wegzunehmen. In Tripoli gab es bereits Demonstrationen gegen sie, einige Gemeinden haben Ausgangssperren über die Neuankömmlinge verhängt. Durch die zumeist sunnitischen Flüchtlinge droht das fragile und hochexplosive Gleichgewicht zwischen den 18 verschiedenen Konfessionsgruppen zu kippen. Viele schiitische Libanesen stehen hinter dem syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, die schiitische Partei Hizbollah unterstützt die syrischen Regierungstruppen auch militärisch in grenznahen Gebieten. Dagegen sympathisieren viele Sunniten mit den gegen Al-Assad kämpfenden Rebellen. In der nur 30 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt gelegenen Küstenstadt Tripoli, die 42000 syrische Flüchtlinge beherbergt, kam es im Mai zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und alawitischen Gruppen in den Stadtvierteln Jabal Mohsen und Bab Al-Tabbaneh mit über 100 Verletzten.

Angesichts dieser Überlastung seines Landes sprach sich der libanesische Präsident Michel Suleiman bereits im April für die Errichtung UN-geschützter Lager in Syrien aus. Neu ankommende Flüchtlinge sollten »auf verbrüderte und befreundete Staaten« aufgeteilt werden. Geschehen ist bislang nichts dergleichen, so daß die Flüchtlingsfrage das Land zur tickenden Zeitbombe werden läßt. »Wir machen eine schwere politische und wirtschaftliche Krise durch«, meint der Direktor der libanesischen Hilfsorganisation Amel, Kamel Mohanna, der sein Land auf eine Katastrophe zusteuern sieht, gegenüber dem Sender Deutsche Welle. »Trotzdem nehmen wir Hunderttausende Flüchtlinge auf. Die internationale Gemeinschaft hat uns im Stich gelassen.«[2]

In Jordanien wird damit gerechnet, daß die Zahl der hilfebedürftigen Syrer im Land bis zum Jahresende auf 450000 ansteigen wird. Hier leben 80 Prozent von ihnen außerhalb der entsprechenden Lager. »Die Flüchtlinge leben häufig zu zehn, fünfzehn Personen in einem Raum. Die Mietpreise steigen, es gibt kaum Arbeit. Sie können sich weder Medizin noch Schulmaterial für ihre Kinder leisten«, berichtet Generalsekretär Zentel von der Hilfsorganisation CARE Deutschland-Luxemburg aus der jordanischen Hauptstadt Amman.[3]

Fünf-Sterne-Lager mit Wachturm

Ein Hauptzufluchtsland für Flüchtlinge aus Syrien war von Anfang an die Türkei, deren islamisch-konservative AKP-Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich offen hinter die Oppositionskräfte zum Sturz von Präsident Al-Assad gestellt hat. Laut einer UNHCR-Studie vom Juni 2013 ist die Türkei innerhalb eines Jahres von Platz 59 auf Platz zehn der Länder mit den meisten Flüchtlingen vorgerückt.

»Aktuell bietet die Türkei Zuflucht für 200091 Syrer, die aufgrund des anhaltenden Bürgerkrieges aus ihrer Heimat geflohen sind«, gab das türkische Katastrophenschutzministerium Anfang Juni bekannt. Gemeint sind nur diejenigen, die sich offiziell als Flüchtlinge eintragen ließen. Dazu kommen zahlreiche Nichtregistrierte, so daß das deutsche Auswärtige Amt ihre gegenwärtige Gesamtzahl in der Türkei auf 300000 schätzt. Bis Ende des Jahres könnte diese Zahl auf eine Million anwachsen, warnt unterdessen UNHCR-Vertreterin Carol Batchelor.

Die registrierten Flüchtlinge werden derzeit in 14 Zeltlagern in Hatay, Urfa, Antep, Maras, Osmaniye, Adiyaman und Adana und fünf Containerlagern in Kilis, Urfa, Malatya und Antep untergebracht. Einige der Lager sind inzwischen kleine Städte geworden. So verfügt das in einem Papier des Auswärtigen Amtes als »Fünf-Sterne-Lager« bezeichnete Camp in Kilis mit Containerwohnungen für rund 14000 Menschen über eine eigene Kanalisation, gepflasterte Straßen und Telefonleitungen, Spielplätze, Schulen und Moscheen. Doch dieses Lager wird wie die anderen Camps mit Wachtürmen und Kameras observiert. »Viele Flüchtlinge meiden die Lager, weil sie dort nicht frei leben können. Andere haben Angst, sich registrieren zu lassen, weil sie Repressalien von syrischer Seite fürchten. Zudem sind die Camps schon jetzt völlig überfüllt«, berichtet Martin Kessler, der Leiter des Hilfswerks Diakonie Katastrophenhilfe,[4] das in Hatay Flüchtlinge ohne Zugang zu den staatlichen Hilfen unterstützt. In diesen Lagern sind sie zudem dem Druck der syrischen Oppositionsgruppen ausgesetzt, die hier ihre Propaganda betreiben und Kämpfer rekrutieren. Syrer, die einfach nur sich und ihre Familien in Sicherheit bringen wollten, ohne Partei in dem Bürgerkrieg ergreifen zu wollen, suchen sich daher eine Bleibe bei Verwandten oder sie mieten sich Zimmer. Um die stark angestiegene Miete von bis zu 200 Euro für ein kleines Zimmer zahlen zu können, verdingen sie sich illegal als Tagelöhner, oder sie werden von Verwandten unterstützt.

Druckmittel für Krieg

Die Flüchtlinge dienen Ankara als Druckmittel, um ein aktiveres Eingreifen der NATO-Verbündeten in den syrischen Bürgerkrieg zu fordern. So hatte Außenminister Ahmet Davutoglu im vergangenen Jahr die Belastbarkeitsgrenze der Türkei mit 100000 Menschen aus Syrien angegeben. Sollte diese Zahl überstiegen werden, müßten sie auf syrischem Gebiet versorgt werden, forderte Davutoglu die Schaffung einer militärisch gesicherten Schutzzone in Nordsyrien.

Gerade in der türkischen Grenzprovinz Hatay, die bis 1938 zu Syrien gehörte, kommt es zu Spannungen zwischen Flüchtlingen und der einheimischen Bevölkerung. Ein Viertel der 1,5 Millionen Einwohner sind arabischsprachige Alawiten, die häufig mit dem ebenfalls dieser Religionsgemeinschaft angehörenden syrischen Präsidenten Al-Assad sympathisieren. Die türkischen Alawiten sehen nun den ethnisch-religiösen Proporz durch den Zuzug sunnitischer Flüchtlinge zu ihren Ungunsten beeinflußt. Mit Sorge sehen Bewohner der Grenzprovinzen, daß sich zwischen den Flüchtlingen Kämpfer der FSA und dschihadistischer Gruppierungen wie des Al-Qaida-Ablegers Al-Nusra-Front bewegen. Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP), die die stärkste Oppositionsfraktion im Parlament stellt, beschuldigt die AKP-Regierung, daß einige der Lager militärische Ausbildungscamps beherbergen. So diente zumindest im vergangenen Jahr das nur zwei Kilometer von der syrischen Grenze in Hatay entfernt liegende Lager Apaydin, in dem 300 Deserteure der syrischen Armee, darunter 30 Generäle und der FSA-Oberkommandierende Riad Al-Asaad zusammen mit 2500 Familienangehörigen untergebracht sind, als faktisches Hauptquartier der FSA. Nach Angaben des CHP-Abgeordneten für Hatay, Mehmet Ali Ediboglu, verfügt die FSA neben Apaydin über ein halbes Dutzend weiterer Camps in Hatay, von wo aus sie Angriffe nach Syrien starten.

Am 11. Mai explodierten zwei Autobomben im Zentrum der 60000-Einwohner-Stadt Reyhanli in Hatay nahe der syrischen Grenze. Mindestens 52 Menschen wurden bei den Anschlägen getötet und über 140 verletzt. Die türkische Regierung beschuldigte den syrischen Geheimdienst, hinter den Anschläge zu stecken. Dagegen legen Dokumente des Geheimdienstes der Militärpolizei nahe, daß die Al-Nusra-Front die Anschläge begangen hatte, um auf diese Weise die Türkei zu einem aktiveren militärischen Engagement in Syrien zu bewegen. Reyhanli gilt als Umschlagplatz für Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen, die hier Büros unterhalten und verwundete Kämpfer im Krankenhaus versorgen lassen. Viele Einwohner von Reyhanli, die zuvor mehrheitlich die AKP gewählt hatten, gaben daraufhin der Kriegspolitik der AKP-Regierung mit ihrer Unterstützung der Gotteskrieger die Schuld an den Anschlägen. Obwohl in Reyhanli auch 30000 Flüchtlinge leben, waren unter den Toten fast ausschließlich Einheimische. Dies nährte Gerüchte, die Flüchtlinge seien zuvor gewarnt worden. Nach den Anschlägen griffen Jugendliche – darunter Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe – Autos mit syrischen Kennzeichen an und machten Jagd auf Flüchtlinge. Zehn Tage später nahm die Polizei in Hatay sechs Männer fest, die Bombenanschläge auf Flüchtlingscamps geplant haben sollen. »Das Volk von Hatay möchte, daß es den Flüchtlingen gutgeht«, erklärte eine Sprecherin der linken »Volkshäuser«, Eylem Mansuroglu, auf einer Demonstration gegen die Syrien-Politik der AKP kurz nach den Anschlägen in Hatay. »Doch wir sind dagegen, daß die Flüchtlingscamps als Militärlager genutzt werden.«[5]

Europas Versagen

Auch die Türkei bietet syrischen Flüchtlingen keinen dauerhaften Schutz, sie verbleiben offiziell im Transit, bis sich ein anderes Aufnahmeland gefunden hat. Angesichts desaströser Zustände in den Anrainerstaaten bemühen sich einige syrische Flüchtlinge, nach Europa zu gelangen. Bei einem Großteil der 35000 Syrer, die seit Ausbruch des Bürgerkrieges in der EU Asyl beantragt haben, handelt es sich um Angehörige der Mittelklassen, die sich die Kosten der Fluchthelfer in Höhe von 3000 bis 10000 US-Dollar für Transport und falsche Ausweispapiere leisten können. Schon der Transit ist lebensgefährlich. Im September letzten Jahres ertranken so 61 mehrheitlich syrische Minderjährige, als ihr Boot bei Izmir an der türkischen Ägäisküste sank.

Die Hilfsorganisation Pro Asyl beklagt ein »völliges Versagen Europas angesichts der Not der syrischen Flüchtlinge«.[6] Während in den Nachbarstaaten Syriens bemerkenswerte Anstrengungen zur Aufnahme und Erstversorgung der Flüchtlinge unternommen würden, agiere die EU nach bekanntem Muster: »Statt in den Flüchtlingsschutz investiert sie in die Abschottung der Grenzen; statt gemeinsam solidarisch zu handeln, wälzen die EU-Regierungen die Verantwortung für die Flüchtlinge an einige EU-Randstaaten ab.« Die Folge dieser Politik seien schwere Menschenrechtsverletzungen. Syrer, die auf eigene Faust in Richtung Europa fliehen, würden in zahlreichen Fällen an den EU-Außengrenzen etwa in Griechenland Opfer von illegalen Zurückweisungen, Inhaftierungen, von Polizeigewalt und rassistischen Attacken, warnt Pro Asyl. Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges wurden mindestens 11000 Syrer in Griechenland inhaftiert, weil sie »illegal« eingereist waren. Bis zu 18 Monate bleiben sie im Gefängnis – oft gemeinsam mit gewöhnlichen Kriminellen. Ein funktionierendes Asylsystem gibt es in Griechenland nicht (siehe jW-Thema vom 13.6.2013). »Menschen kommen in Europa an und sie werden schlimmer behandelt, als in ihren schlimmsten Alpträumen«, zitiert die Washington Post den Mitarbeiter des Athener UNHCR-Büros Petros Mastakas. »Du wirst in eine Zelle gesteckt, in die du gesund rein kommst und krank wieder verläßt.«[7] Doch auch die Flüchtlinge, die sich in Freiheit befinden, haben Angst vor Übergriffen der Faschisten der »Goldenen Morgenröte«, die unter den Augen der Polizei Jagd auf Migranten machten.

Beim G-8-Gipfel im irischen Enniskillen kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Verdoppelung der bisherigen deutschen Hilfsgelder für syrische Flüchtlinge um 200 Millionen Euro an. Als einziges EU-Land neben Schweden, das 200 Plätze für deren Übersiedlung zur Verfügung gestellt hat, erklärte sich Deutschland nach einem Beschluß der Innenminister von Bund und Ländern vom 20. März dazu bereit, wenigstens ein Kontingent von 5000 Syrern aufzunehmen. Bis zu 1000 werden über die Botschaften in den Anrainerstaaten aufgenommen, die restlichen 4000 mußten bis zum 31. März im Libanon beim UNHCR oder der Caritas registriert worden sein. Besonders berücksichtigt werden sollen solche Flüchtlinge, die etwa als Schwerstkranke einen besonderen Schutzbedarf haben, die familiäre Bindungen nach Deutschland aufweisen oder von denen erwartet wird, daß sie »einen besonderen Beitrag für den Wiederaufbau des Landes nach dem Konflikt« leisten können. Gemeint sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums Akademiker, Kulturschaffende, Journalisten und »politische Aktivisten«.[8] Mit anderen Worten: nur bei rund 1300 Flüchtlingen erfolgt die Aufnahme aufgrund ihres humanitären Schutzbedarfs, über die anderen versucht die Bundesrepublik, sich einen Einfluß auf das Syrien nach Assad zu sichern. Der Flüchtlingsschutz wird so für das außenpolitische Kalkül instrumentalisiert.

Anmerkungen
  1. www.faz.net/aktuell/politik/humanitaerer-einsatz-deutsche-hilfswerke-intervenieren-in-syrien-12172135.html
  2. Siehe www.dw.de/syrische-fluechtlinge-libanon-vor-dem-kollaps/a-16893917
  3. Presseerklärung von CARE zum Weltflüchtlingstag, 19.6.2013
  4. www.welt.de/politik/ausland/article116630126/Die-Camps-sind-schon-jetzt-voellig-ueberfuellt.html
  5. www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2013/05/475669/nach-bombenanschlaege-5000-demonstranten-fordern-erdogans-ruecktritt/
  6. www.proasyl.de/de/presse/detail/news/weltfluechtlingstag_am_20_juni_2013_eu_versagt_in_der_syrischen_fluechtlingskrise/
  7. js.washingtonpost.com/world/europe/syrian-refugees-find-little-help-in-greece/2013/06/17/1b727bfc-c58c-11e2-8c3b-0b5e9247e8ca_story.html
  8. www.tagesspiegel.de/politik/syrische-buergerkriegsopfer-bundesregierung-will-fluechtlings-elite-aus-syrien/8390430.html
* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. Zuletzt erschien von ihr auf diesen Seiten am 13.6.2013 ein Beitrag zu Lage von Flüchtlingen in Griechenland.

Aus: junge Welt, Dienstag, 2. Juli 2013



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