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Human Rights Watch: Tausende Foltergefängnisse in Syrien

Dem Assad-Regime werden schwerste Menschenrechtsverstöße vorgeworfen. UN-Sicherheitsrat zum Handeln aufgerufen - Report steht auf wackligen Füßen

Von Peter Strutynski

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) vermutet, dass es in Syrien möglicherweise Tausende Foltergefängnisse gibt, berichten am 3. Juli die Nachrichtenagenturen. Sie berufen sich auf einen Bericht, den HRW am Dienstag, den 3. Juli, in New York der Presse vorgelegt hat: "Torture Archipelago" (auf Deutsch: das Folter-Archipel). HRW listet in dem Bericht 27 Foltergefängnisse auf, glaubt aber, dass in Wirklichkeit Tausende solcher Einrichtungen im Land vorhanden seien. "Wir haben nur die Aussagen verwendet, die uns als 100 Prozent glaubwürdig erscheinen, auf die anderen haben wir verzichtet", begründet HRW-Deutschland-Direktor Wenzel Michalski gegenüber dem Audiodienst der dpa in Berlin diesen Widerspruch. Man müsse eine sehr hohe Dunkelziffer ansetzen. Michalski: "Wir gehen von Tausenden (Foltergefängnissen) aus."

Die 200 Interviews, die HRW mit ehemaligen Häftlingen gemacht hat, belegten auch Folter und Missbrauch von Kindern. "Das jüngste Folteropfer, mit dem wir gesprochen haben, war ein elfjähriger Junge", wird Michalski zitiert. Er spricht von "schlimmster Folter": Die Menschen seien mit Kabeln geschlagen und mit Elektroschocks misshandelt worden, einigen hätten die Folterer die Fingernägel herausgerissen.

Weiter heißt es, HRW habe die Glaubwürdigkeit der Befragten genau überprüft: "Wir haben sie zum Teil auch die Zellen aufmalen lassen, damit wir genau überprüfen konnten, ob die Aussagen stimmen." Außerdem seien Satellitenfotos vorgelegt worden.

Der Süddeutschen Zeitung (04.07.) ist der Horrorbericht von HRW nur eine kurze Meldung auf Seite 7 wert. Auch anderswo hält man sich eher bedeckt, als dass man die Neuigkeit aus New York, die immerhin über sämtliche Nachrichtenkanäle tickerte, in großer Aufmachung in die Welt posaunen würde. Das heißt nun nicht, dass der Sachverhalt falsch sein muss. Dass in Syrien gefoltert wird - und zwar nicht nur von Regierungsseite - und unermessliches menschliches Leid zu beklagen ist, wissen wir nicht erst heute. Es zeugt nur von einer gewissen Scheu, allzu problematische Aussagen für bare Münze zu halten und eins zu eins weiterzugeben.

Und die mediale Zurückhaltung scheint uns durchaus berechtigt zu sein. Aus vier Gründen ist dem vorgelegten Report mit größter Skepsis zu begegnen:
  1. Die verwendete Datenbasis ist sehr dürftig. Bei einer angenommenen Zahl von "Zehntausenden" Folteropfern, von denen sich Tausende ins Ausland absetzen konnten, wurden 200 befragt - zum Teil in Syrien, zum Teil im Ausland. Von den 200 wurden lediglich diejenigen verwertet, die "hundertprozentig glaubwürdig erscheinen" (nicht "sind"!). Kriterien dafür, welcher Art die Aussagen sein mussten, um sie als "glaubwürdig" oder eben nicht glaubwürdig einzustufen, werden nicht genannt. Auch wird nicht mitgeteilt, wie groß der Anteil der "glaubwürdigen" Aussagen unter den 200 Interviews gewesen ist. Lediglich in "einigen Fällen" (in some cases) war es möglich, Aussagen von Gefolterten durch zusätzlich herangezogene Zeugenaussagen zu erhärten.
  2. Der Report enthält (von einer Ausnahme abgesehen, siehe unter Punkt 3) keinerlei fotografisches Bildmaterial. Gewiss, in den Folterkellern wird kein Opfer die Möglichkeit gehabt haben, Bilder zu machen und nach außen zu transportieren. Möglich aber wären Fotos von körperlichen Schädigungen, die manche Opfer erlitten haben und auch noch nach Wochen oder Monaten sichtbar sind (z.B. Ausreißen von Fingernägeln). Solche Fotos hätten die Identität der Opfer nicht preisgeben müssen.
  3. Die Aussagekraft des Berichts leidet auch darunter, dass sie die Autoren entschlossen haben, die Opfer ausschließlich anonym (unter Verwendung von Pseudonymen) aussagen zu lassen. Bei Zeugen, die sich (noch) in Syrien befinden, ist das selbstverständlich angebracht, hätten sie doch sonst neuerliche Verfolgung und vielleicht den Tod zu befürchten. Bei Folteropfern im Ausland (befragt wurde in Libanon, Jordanien, Irak und Türkei) hätte man unter bestimmten Umständen von dieser Praxis absehen können. Dieser Vorsicht widerspricht im Übrigen das auf dem Rückumschlag des Berichts abgebildete Konterfei eines Syrers, der anlässlich einer Demonstration in Homs ein Porträt eines "verschwundenen Verwandten" in die Luft hält, dieser Vorsicht.
  4. Schließlich verwundert die Kühnheit der HRW-Autoren, die Dunkelziffer der in Syrien vorhandenen dauerhaften oder temporären Foltergefängnisse auf "Tausende" hochzurechnen. und das von einer gesicherten Basis von 27 Einrichtungen dieser Art. Dem entspricht die Hochrechnung der Anzahl der Folteropfer, Verschwundenen und Verhafteten auf mehrere Zehntausend.
Nun dürfen diese kritischen Anmerkungen zur wissenschaftlichen Validität (Aussagekraft) des HRW-Reports nicht so verstanden werden, also seien die Vorwürfe gegenüber dem syrischen Regime alle aus der Luft gegriffen oder gar konstruiert. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass das Regime in Damaskus und seine zahlreichen Geheimdienste willkürliche Verhaftungen, Körperverletzungen bis zur Folter, Verschwinden-Lassen und Mord zu verantworten haben. Die Aussagen des HRW-Berichts über Foltergefängnisse und -praktiken von vier ausgewählten Geheimdiensten gehören zu den Stärken der Untersuchung. Sie belegen außerdem die relative Eigenständigkeit solcher "Dienste", von denen man nicht so genau weiß, für wen und gegen wen sie arbeiten und ob sie alle auf Anweisung der politischen Führung in Damaskus handeln.

Die Präsentation findet statt in einer außerordentlich kritischen Phase des syrischen Bürgerkriegs, die gekennzeichnet ist durch ein Anschwellen der bewaffneten Kämpfe auf der einen und verstärkte diplomatische Aktivitäten auf der anderen Seite (Genfer Konferenz, Zusammenkunft der Opposition in Kairo). Der internationale Druck vor allem auf Russland und China (eine Zusammenfassung mit Empfehlungen wurde auch in russischer Sprache veröffentlicht!), sich einer scharfen Verurteilung des syrischen Regimes im UN-Sicherheitsrat anzuschließen, hat in den letzten Wochen enorm zugenommen. Menschenrechtsorganisationen und der UN-Menschenrechtsrat spielen dabei eine wichtige Rolle. Mit Bedacht charakterisiert der HRW-Bericht die vermutete Folter auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ("a crime against humanity"). Dieser Begriff wird gern verwandt, um ein Eingreifen der "internationalen Gemeinschaft" (eine euphemistische Bezeichnung für den UN-Sicherheitsrat) begründen. Der Begriff zählt zu den Tatbeständen, die laut Römischem Statut der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag verfolgen soll und findet sich auch als Grund für militärische Interventionen gemäß dem Konzept der "Responsibility to Protect" ("Schutzverantwortung").

So bleibt am Ende der Verdacht, hier habe wieder mal eine Großorganisation in Sachen Menschenrechten ihre Autorität in die Waagschale geworfen, um der Sanktions- und Interventionsschraube eine weitere Drehung hinzuzufügen. Dem Geschehen in Syrien, den von allen am Bürgerkrieg beteiligten Akteuren und vor allem den Opfern wird man damit nicht gerecht. Wer in dieser Situation eine internationale Intervention herbeiredet, spielt bewusst mit dem Risiko eines regionalen Großbrandes im Nahen und Mittleren Ostens.

Hier geht es zum HRW-Bericht (englisch): www.hrw.org [externer Link!]

Dokumentiert: Presseerklärung zum Bericht von Human Rights Watch

Syria: Torture Centers Revealed

For 27 Detention Sites: Locations, Commanders’ Names, Torture Methods

(New York) – Former detainees and defectors have identified the locations, agencies responsible, torture methods used, and, in many cases, the commanders in charge of 27 detention facilities run by Syrian intelligence agencies, Human Rights Watch said in a multimedia report released today. The systematic patterns of ill-treatment and torture that Human Rights Watch documented clearly point to a state policy of torture and ill-treatment and therefore constitute a crime against humanity.

The 81-page report, “Torture Archipelago: Arbitrary Arrests, Torture and Enforced Disappearances in Syria’s Underground Prisons since March 2011” is based on more than 200 interviews conducted by Human Rights Watch since the beginning of anti-government demonstrations in Syria in March 2011. The report includes maps locating the detention facilities, video accounts from former detainees, and sketches of torture techniques described by numerous people who witnessed or experienced torture in these facilities.

“The intelligence agencies are running an archipelago of torture centers scattered across the country,” said Ole Solvang, emergencies researcher at Human Rights Watch. “By publishing their locations, describing the torture methods, and identifying those in charge we are putting those responsible on notice that they will have to answer for these horrific crimes.”

Human Rights Watch called on the United Nations Security Council to refer the situation in Syria to the International Criminal Court (ICC) and to adopt targeted sanctions against officials credibly implicated in the abuses.

The facilities cited in the report are those for which multiple witnesses have indicated the same location and provided detailed descriptions of torture. The actual number of detention facilities used by intelligence agencies is probably much higher.

Almost all the former detainees interviewed by Human Rights Watch said they had been subjected to torture or witnessed the torture of others during their detention. Interrogators, guards, and officers used a broad range of torture methods, including prolonged beatings, often with objects such as batons and cables, holding the detainees in painful stress positions for prolonged periods of time, the use of electricity, burning with acid, sexual assault and humiliation, the pulling of fingernails, and mock execution. Altogether Human Rights Watch documented more than 20 distinct torture methods used by the security and intelligence services.

In most cases former detainees were subjected to a range of these torture methods. A 31-year-old detainee who was detained in Idlib governorate in June described to Human Rights Watch how the intelligence agencies tortured him in the Idlib Central Prison:

They forced me to undress. Then they started squeezing my fingers with pliers. They put staples in my fingers, chest and ears. I was only allowed to take them out if I spoke. The staples in the ears were the most painful. They used two wires hooked up to a car battery to give me electric shocks. They used electric stun-guns on my genitals twice. I thought I would never see my family again. They tortured me like this three times over three days.

While most of the torture victims interviewed by Human Rights Watch were young men between 18 and 35, the victims interviewed also included children, women, and the elderly.

Human Rights Watch research shows that the worst torture has taken place in detention facilities run by the country’s four main intelligence agencies, commonly referred to collectively as the mukhabarat:
  • The Department of Military Intelligence (Shu`bat al-Mukhabarat al-`Askariyya);
  • The Political Security Directorate (Idarat al-Amn al-Siyasi);
  • The General Intelligence Directorate (Idarat al-Mukhabarat al-`Amma); and
  • The Air Force Intelligence Directorate (Idarat al-Mukhabarat al-Jawiyya).
Each of these four agencies maintains central branches in Damascus as well as regional, city, and local branches across the country. In virtually all of these branches there are detention facilities of varying size.

All of the witnesses interviewed by Human Rights Watch described detention conditions that would by themselves amount to ill-treatment and, in some cases, torture – extreme overcrowding, inadequate food, and routine denial of necessary medical assistance. A graphic model depicting an overcrowded cell described by one former detainee illustrates how the conditions fall short of international legal standards.

The individuals who carried out or ordered crimes against humanity bear individual criminal responsibility under international law, as do those in a position of command whose subordinates committed crimes that they were aware of or should have been aware of and failed to prevent or punish. This command responsibility would apply not only to the officials overseeing detention facilities, but also to the heads of intelligence agencies, members of government, and the head of state, President Bashar al-Assad.

Because Syria has not ratified the Rome Statute, which created the ICC, the court will only have jurisdiction if the UN Security Council adopts a resolution referring the situation in Syria to the court. Russia and China have previously blocked Security Council efforts to push for accountability.

“The reach and inhumanity of this network of torture centers are truly horrific,” Solvang said. “Russia should not be holding its protective hand over the people who are responsible for this.”

Human Rights Watch, press release, July 3, 2012; www.hrw.org/




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