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Was geschieht wirklich in Syrien?

Sind Appelle für Spendengelder, Telefone und Computer das, was die Menschen brauchen?

Von Karin Leukefeld

Die Friedensbewegung in Deutschland ist verunsichert. Mit dem Aufruf „Freiheit braucht Beistand“, der von der Gruppe „Adopt a Revolution“ und medico international initiiert wurde und in einem Offenen Brief von Preisträgern des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels haben in den letzten Tagen Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Bewegungsaktivisten zur „Unterstützung des zivilen Widerstandes“ einer „neuen Generation Syriens“ aufgerufen.

Doch wie stellt sich die Lage in Syrien dar? Wie kann sich „ziviler Widerstand“ zwischen einer eskalierenden Rolle des türkischen und anderer Geheimdienste und ausländischen Kämpfern auf der einen und den syrischen Armee- und Sicherheitskräften auf der anderen Seite entwickeln? Sind Appelle für Spendengelder, Telefone und Computer das was die Menschen brauchen?

Syrien sei „das Vietnam unserer Zeit“, zitiert die Frankfurter Rundschau (Oktober 2012) Rupert Neudeck, den Leiter der Hilfsorganisation „Grünhelme“. Neudeck und seine Leute bauen im nordsyrischen Azaz Schulen und ein Krankenhaus wieder auf, wo „Revolution und Befreiungsstimmung“ herrscht, wie Neudeck in seinem Beitrag über „Das Leben im Neuen Syrien“ im Internetportal islam.de (11.9.2012) schreibt. Es sei „eine Revolution der jungen Leute in einer Gesellschaft, in der immer noch die Alten das Sagen“ hätten, „die Großväter“, so Neudeck weiter. „Acht Leute aus dem syrischen Widerstand“ hätten eine „Kommandostruktur der FSA Einheiten (…) gebildet“, die „die Operation in und von Aleppo aus leitet“. Die Opposition baue „einen zivilen Widerstand und eine Transitadministration“ auf. Es seien „ausdrücklich zivile Personen“, die das „politische Büro der FSA in Azaz und den Zoll- und Pass-Übergang nach Kilis in der Türkei“ leiteten. Nie seien er und seine Leute von der „Freien Syrischen Armee“ behindert worden, berichtet Neudeck in einem Interview mit Deutschlandfunk (9.10.2012). Es gebe nichts, „was mich eigentlich daran hindern könnte zu sagen, auch andere Hilfsorganisationen sollten dort hinkommen, weil es ist für Syrien und für die syrische Bewegung jetzt wichtig, dass sie wissen, dass das Ausland nicht nur quatscht, sondern dass wir auch was tun.“

Tatsächlich wird Azaz seit Monaten von Dschihadisten und anderen islamistischen Bewaffneten kontrolliert. Der Ort dient als Durchgangsstation für Bewaffnete aus vielen Ländern, die in Syrien den „Heiligen Krieg“ gegen die Ungläubigen kämpfen wollen. Herrschsüchtig und aggressiv gehen sie gegen Kurden und anders Gläubige, wie Jesiden, vor, die im benachbarten Afrin und den umliegenden Dörfern wohnen. Sie sperren die Durchgangsstraße von Aleppo, verschleppen Busweise Passagiere, die von oder nach Afrin reisen, mehrmals wurde Heizöl, Benzin und Mehl gestohlen, das von Aleppo nach Afrin transportiert werden sollte. Darüber erfährt man in den Berichten von Neudeck nichts, was vermutlich daran liegt, dass er diese Realität in der Region nicht kennt. Möglicherweise ist er über die wahre Identität derjenigen, die Azaz unter der Flagge der Freiheit eingenommen haben, auch nicht ausreichend informiert?

Ähnlich ist die Situation in dem Grenzort Ras al-Ain (kurdisch: Sere Kaniyeh), wo Berichten von kurdischen Anwohnern zufolge islamistische Gruppen gegen kurdische Volksverteidigungskräfte der Partei für Demokratische Einheit (PYD) kämpfen, die aus der Türkei über die Grenze kommen und, im Falle einer Verletzung, in die Türkei zurück transportiert werden.

Tatsächlich organisieren sich inzwischen immer mehr Syrer, jung und alt in oppositionellen Gruppen, die sich im Laufe der letzten Monate neu gegründet haben. Sie vertrauen allerdings auf ihre eigene Kraft und eine politische Unterstützung, die den Zufluss von Waffen nach Syrien stoppt und einen Waffenstillstand durchsetzt. Frauen haben sich zu einem Netzwerk „Frauen für Frieden in Syrien“ zusammengeschlossen, Aktivisten der Bewegung „Den syrischen Staat aufbauen“ helfen Inlandsvertriebenen und organisieren öffentliche Diskussionen. Er spreche in Rundfunk und Fernsehen, sagt Mohammad Scheikhan, der für sein Engagement schon zwei Wochen im Gefängnis war. Es sei wichtig öffentlich zu arbeiten, damit den Menschen die Angst genommen und eine Alternative aufgezeigt werde. Auf seinem Handy gingen Drohungen ein, sagt Mohammad Scheikhan. „Scheint als seiest Du ein Dickkopf, wir werden ihn abschneiden“, ist auf einer zu lesen. Unterzeichnet ist die Botschaft mit „F.S.A.“, das Kürzel für „Freie Syrische Armee“. Er wisse nicht, wo die Nachricht herkomme, auch vom syrischen Geheimdienst bekomme er Drohungen.

Ein junger Arzt, der sich Ali Ghannam nennt, wohnt in einem Vorort von Damaskus. Seit einiger Zeit engagiert er sich beim Nationalen Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (NCC) für einen Waffenstillstand und einen friedlichen politischen Übergang. Vor einem Jahr etwa habe er Kontakt zu Leuten aus der Protestbewegung bekommen, erzählt der junge Mann, der an einigen Demonstrationen teilgenommen und diese auch fotografiert habe. Dann habe man ihn gebeten, die Fotos an bestimmte Adressen zu schicken, wo sie veröffentlicht werden sollten. Als man ihm Anweisungen gab, wo und wie er die Fotos zu machen habe, sei er misstrauisch geworden und habe sich zurückgezogen. Man habe ihm einen Computer, ein Telefon und Geld angeboten, was er zurückgewiesen habe.

Einige Zeit vor diesen Begegnungen mit oppositionellen Aktivisten hatte Mitte Oktober 2012 eine Email-Nachricht über Rukn’Eddin die Autorin in Damaskus erreicht. Rukn’Eddin ist ein Stadtteil der syrischen Hauptstadt, der sich am Steilhang des Damaszener Hausbergs Qassioun entlang zieht. Im alten Teil von Rukn’Eddin leben ärmere Familien, darunter viele Kurden, in kleinen, dicht aneinander gedrängten Häusern. Im östlichen Teil des Viertels deuten ansehnliche Wohnblöcke und Einzelhäuser auf Bewohner aus dem Mittelstand hin, darunter auch Angehörige der Streitkräfte. Seit Monaten werden in diesem Teil von Rukn’Eddin Ärzte oder Offiziere ermordet, die Aufständischen erschießen ihre Gegner in ihren Wohnungen oder auf dem Weg zur Arbeit.

In der Email hieß es, die Situation in Damaskus spitze sich zu. Die „Schabiha“, Milizen der staatlichen Sicherheitskräfte, seien in Rukn’Eddin eingedrungen und hätten „alle Straßen gesperrt“. Keiner dürfe die Wohnung verlassen, die Bevölkerung werde „terrorisiert“, die Häuser durchsucht, es habe Verhaftungen gegeben. Im Anhang wurden „Bilder von dieser Aktion“ mitgeschickt. Auf Nachfrage bei drei verschiedenen Bewohnern von Rukn’Eddin, war zu erfahren, dass das Militär eine Operation durchgeführt hatte, um Waffenlager und Aufständische aufzuspüren. Mehrmals hatte der Ältestenrat von Rukn’Eddin sich gegen das Anwerben von Jugendlichen aus dem Viertel durch die Aufständischen verwahrt, dennoch drangen immer wieder Emissäre der „Freien Syrien Armee“ in das Viertel ein und versuchten, junge arbeitslose Männer mit Geld und Waffen anzulocken, berichteten die drei Personen übereinstimmend. Das Viertel sei vom Militär und dem Geheimdienst der Luftwaffe umstellt worden, erzählte der kurdische Arbeiter Hannan. Die Wohnungen wurden durchsucht, bei ihm sei das Militär höflich gewesen. Wohnungen die verschlossen waren oder nicht geöffnet wurden, seien allerdings gewaltsam aufgebrochen und dann durchsucht worden. Auf die Frage, ob die Fotos, die der Email angehängt waren, in ihrem Viertel gemacht worden sein könnten, schüttelten alle drei den Kopf. Das sei vielleicht auf einer Umgehungsstraße fotografiert worden, sagten sie. „Die Straßen bei uns sind nicht so breit.“


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