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"Das Regime muß in einen Dialog einbezogen werden"

Gespräch mit Ali Haidar. Über die Schwierigkeiten einer nationalen Versöhnung in Syrien, die Verweigerungshaltung von Oppositionsgruppen, ausländische Dschihadisten und schlechte Erfahrungen mit den Medien *


Seit zwei Monaten sind Sie Staatsminister für Nationale Versöhnung in Syrien. Widerspricht dieses Amt nicht der Position Ihrer Partei, die sich ja der innersyrischen Opposition zurechnet?

Wie Sie wissen, hat unsere Partei sich 1957 gespalten, heute gibt es zwei Parteien unter dem gleichen Namen und sogar mit dem gleichen Symbol. Unser Standpunkt hinsichtlich der Krise in Syrien, entspricht im Wesentlichen dem Standpunkt der innersyrischen Opposition. Allerdings stimmen wir nicht in jedem Punkt überein, wie wir diese Krise lösen können. Die SSNP hat von Anfang darauf bestanden, daß der einzige Ausweg politisch gefunden werden muß. Nur so können wir Syrien politisch umstrukturieren. Vor diesem Hintergrund haben wir auch zugestimmt, als Oppositionspartei Teil der Regierung zu werden. Wir wollen unsere Vorstellungen in die Politik der syrischen Regierung einbringen. Die Regierung wiederum hat das akzeptiert, was die Basis für dieses neue Ministe¬rium geschaffen hat, das Ministerium für Versöhnung.

Als Minister müssen Sie natürlich eine andere Position vertreten, als der Vorsitzende einer Oppositionspartei.

Nun, als Opposition und als Teil der Regierung stimmen wir darin überein, daß die Krise politisch gelöst werden muß und daß wir dafür einen nationalen Dialog brauchen. Das setzt natürlich ein bestimmtes Klima voraus und bestimmte Eckpunkte. Diese Eckpunkte sind erstens die Ablehnung von jeder ausländischen Einmischung, denn diese Krise ist eine syrische Krise, die eine syrische Lösung erfordert. Zweitens müssen alle Seiten Gewaltanwendung und den Einsatz von Waffen ablehnen, verurteilen und einstellen. Drittens darf niemand vom Dialog ausgeschlossen werden, jeder muß die Meinung des anderen respektieren. Niemand darf den anderen als Verräter beschimpfen, weil er eine andere Meinung vertritt. Auf der Basis dieser drei Eckpunkte haben wir unsere Arbeit als Ministerium begonnen.

Das ist eine Herkulesaufgabe, wie kommen Sie voran?

Wir sind ein neues Ministerium und müssen natürlich von Null anfangen. Wir müssen eine Struktur schaffen, Mitarbeiter einstellen, Büroräume einrichten. Wir stecken mitten in diesem Prozeß. Bis alles startbereit ist, arbeite ich mit Freiwilligen vor Ort, wir haben keine Zeit zu verlieren.

Sie waren an vielen Brennpunkten in Syrien …

Homs, Hama, Haffa, Zabadani, Deraa …

Und wie gehen Sie vor, was sind Ihre Ziele, worauf konzentrieren Sie sich?

Wir konzentrieren uns einmal auf die lokalen Konflikte, zweitens auf die politischen und internationalen Faktoren. Bei den lokalen Konflikten geht es vor allem um die Frage der Gefangenen. Um Festnahmen und Haft transparenter zu gestalten, haben wir einen Mechanismus ausgearbeitet, nach dem verfahren werden soll. Es muß klar sein, wie und warum jemand festgenommen wird. Es muß klar sein, ob und wenn ja, warum jemand angeklagt wird und auch, wenn jemand entlassen wird. Dann geht es um die Vertriebenen, die Menschen, die gezwungen waren, aufgrund der Kämpfe ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen. Wir arbeiten ein Rückkehrprogramm für sie aus. Dazu gehören die Voraussetzungen für die Rückkehr – also Sicherheit und ein Ende der Gewalt. Und ihre Rückkehr muß organisiert werden. Wer Eigentum verloren hat, muß entschädigt werden. Der dritte Aufgabenbereich auf lokaler Ebene sind die Männer, die Waffen tragen. Letztendlich sind diese syrische Staatsbürger. Daher suchen wir nach einem Weg, wie sie ihre Waffen in ehrenwerter Weise abgeben können, um dann als normaler Bürger zu leben und sich dem politischen Prozeß anzuschließen, auf den wir hinarbeiten.

Nun gibt es unter den bewaffneten Gruppen aber viele, die ihre Waffen nicht abgeben und auch keinen Dialog wollen.

Wir müssen unterscheiden zwischen den syrischen Bürgern, die zur Waffe gegriffen haben, und denjenigen, die aus aller Herren Länder nach Syrien kommen, um sich dem Dschihad, dem »Heiligen Krieg« anzuschließen. Sie kamen aus Afghanistan bis Marokko, sie gehören Organisationen des Dschihad oder Salafisten an. Mit diesen Gruppen müssen Armee und die Sicherheitskräfte fertig werden, unser Ministerium ist für sie nicht zuständig. Tatsächlich sind diese Leute nicht nur für Syrien eine Gefahr, sondern für die ganze Welt.

Sie sind für diese Leute nicht zuständig, dennoch bestimmen sie offenbar Erfolg und Mißerfolg Ihrer Arbeit. Und nicht zuletzt das Ausland, das ja auch keine kleine Rolle hier in Syrien spielt.

Der Erfolg unserer Arbeit hängt tatsächlich davon ab, daß die Armee mit diesen ausländischen Dschihadisten fertig wird. Sie blockieren den Weg zur nationalen Versöhnung in Syrien. Ein weiteres großes Hindernis ist die ausländische Einmischung, mit der wir konfrontiert sind, auch auf politischer Ebene. Die Staaten, die sich einmischen, haben ihre eigenen Interessen, da sind uns als Ministerium für Versöhnung die Hände gebunden. Wir sind für die Probleme im Land zuständig, aber was die internationale Politik betrifft, liegt die Verantwortung bei den beteiligten Staaten oder bei den Vereinten Nationen.

Im Falle, daß es einen neuen UN-Sonderbeauftragten für Syrien gibt, wären Sie dessen Ansprechperson?

Ja. Schon bevor ich Minister wurde, habe ich mich um ein Treffen mit Herrn Kofi Annan bemüht. Ich bin überzeugt, daß der Sechs-Punkte-Plan eine internationale Zustimmung hat und für unsere Krise in Syrien eine Lösung bietet. Als Minister habe ich den Leiter der UN-Delegation, General Mood getroffen, seinen Vertreter Martin Griffith und ich traf Hervé Ladsous, den Mitarbeiter von Herrn Annan. Ich habe ihm die Unterstützung von Freiwilligen vor Ort vorgeschlagen und gemeinsame Projekte zwischen dem Ministerium und UNSMIS. Als die UNO überlegte, die Mission auf 3000 Personen aufzustocken, habe ich vorgeschlagen, 10000 Freiwillige zu finden. Hochschulabsolventen von allen religiösen und ethnischen Gruppen hier in Syrien, die unter der Aufsicht von UNSMIS arbeiten sollten. Leider war es so, daß während wir hier nach Lösungen suchten, der UN-Sicherheitsrat damit beschäftigt war, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Noch einmal zurück zu den Oppositionsgruppen, die den nationalen Dialog ablehnen: Diese beschreiben den Versuch der Versöhnung als Farce, als Augenwischerei des Regimes.

Einige Gruppen der Opposition, insbesondere der im Ausland, stellen Bedingungen, um sich an einem Dialog- und Versöhnungsprozeß zu beteiligen. Ich meine, was sie fordern, kann ein Ergebnis von Dialog und Versöhnung sein, keine Vorbedingung. Der politische Prozeß, den wir anstreben, ist offen für alle Syrer, ohne Ausnahme, niemand, keine politische Gruppe wird zurückgewiesen. Nur in einem Klima ohne Gewalt können wir den politischen Prozeß beginnen, den wir uns alle schon seit Jahren wünschen. Ein modernes, demokratisches Syrien, ein Rechtsstaat mit Mehrparteiensystem, das wir durch einen friedlichen Machtwechsel erreichen wollen.

Stehen Sie im Kontakt mit der Opposition im Ausland?

Wir müssen definieren, wer die Opposition im Ausland ist. Nicht jeden, der im Fernsehen auftritt und das syrische Regime angreift, kann man als Oppositionellen bezeichnen. Manche sprechen nur für sich, sie haben keine Basis in Syrien. Andere waren Teil des Regimes und haben vor Jahren das Land verlassen, weil gegen sie wegen Korruption oder anderer Vergehen ermittelt wurde. Und wieder andere leben seit Jahrzehnten im Ausland und wissen eigentlich gar nichts mehr über die Verhältnisse in Syrien. Manche fordern eine ausländische Intervention, andere sind von Rache getrieben. Dennoch, es gibt eine ansehnliche Zahl von Oppositionellen die unseren Respekt verdienen und mit denen wir im Gespräch sind oder das Gespräch suchen. Mit einigen haben wir viel gemeinsam, besonders mit den Gruppen, die kürzlich in Rom waren.

Sie meinen das Treffen in der Friedensgemeinde von Sant’Egidio Ende Juli, bei dem eine Elf-Punkte-Erklärung verabschiedet wurde. Haben sie Kontakt zu den Leuten von Sant’Egidio?

Ja, als Oppositionspartei haben wir sie getroffen. Wir waren auch zu dem Treffen in Rom eingeladen. Als ich dann dieses Ministeramt übernahm, hieß es leider, es wäre nicht angebracht, als Regierungsvertreter dort teilzunehmen. Ich bedauere das, denn wir haben als Partei unsere Haltung nicht aufgegeben, nur weil wir Teil der Regierung geworden sind.

Die Initiative von Sant’Egidio ist sehr wichtig, vielleicht könnte es so gelingen, aus einem lokalen Dialog zu einem formellen, nationalen Dialog zu gelangen?

Das sehe ich auch so, und wir unterstützen vollkommen den Elf-Punkte-Plan, der in Rom verabschiedet wurde. Insbesondere die Forderung, daß die Waffen schweigen sollen, die Gewalt aufhört und ein nationaler Dialog aufgenommen werden soll, halte ich für richtig und wichtig. Die einzige Kritik, die ich habe, ist, daß sie – ob absichtlich oder unabsichtlich – zum Beispiel das Regime aus dem Dialogprozeß ausgenommen haben, den sie vorschlagen. Immerhin ist das Regime ein Teil des syrischen Volkes, es repräsentiert nicht wenige syrische Bürger. Es muß in einen wie auch immer gearteten Dialog und politischen Prozeß eingeschlossen werden.

Wird die Arbeit Ihres Ministeriums von anderen Ministerien unterstützt?

Wir arbeiten mit anderen Ministerien bei der humanitären Versorgung, der Freilassung von Gefangenen, der Amnestie für polizeilich Gesuche und bei der Abgabe von Waffen zusammen. Auf der lokalen Ebene richten wir Dialogkreise ein, um Menschen davon abzuhalten, zur Waffe zu greifen. Oder um Streitigkeit untereinander zu schlichten. Es gibt in dieser Regierung einen neuen politischen Willen, das hat auch Präsident Assad ganz deutlich gemacht. Die Einrichtung unseres Ministeriums ist ein Beleg dafür, dass wir es ernst meinen. Alle Ministerien, alle Behörden sind angewiesen, mit uns zusammenzuarbeiten und unsere Arbeit zu unterstützen.

Das hört sich ja sehr positiv an, als funktioniere alles problemlos.

Nun, so ist der politische Wille und so sind die Anordnungen. Aber es gibt natürlich jede Menge Hindernisse. Die liegen vor allem in dem Mechanismus, nach dem die Regierung bisher immer funktioniert hat und den wir noch nicht überwunden haben. Aber wir werden das überwinden. Und wie ist es mit der Bevölkerung, haben die Menschen Vertrauen in Ihre Arbeit? Werden Sie auch von den Menschen unterstützt?

Vertrauen muß immer erworben werden. Es gibt bei der Bevölkerung Zweifel an dieser Regierung, auch an diesem Ministerium. Wir werden uns das Vertrauen der Syrer nur erwerben können, wenn wir gute Ergebnisse liefern. Vertrauen zwischen der Regierung und dem Volk entsteht durch gute Regierungsarbeit.

[Das Handy von Ali Haidar klingelt, eine Familie aus Homs ruft an. Er unterbricht das Interview]

Ihre private Telefonnummer ist allgemein bekannt?

Ja, ich habe sie im Fernsehen gesagt. Meine Mitarbeiter halten das für einen großen Fehler.

Warum haben diese Leute Sie angerufen?

Das war eine Familie, von der zwei Angehörige bei Homs entführt wurden. Sie haben mir verschiedene Details genannt und um Hilfe gebeten. Wir werden uns darum kümmern. Bisher konnten wir schon in einigen Fällen die Freilassung von Entführten erreichen. Dank unserer sozialen und politischen Beziehungen, die wir im Land haben. Nicht als Minister, als solcher ist es nicht meine Aufgabe, mich um entführte Menschen zu kümmern. Aber das soziale Netzwerk unserer Partei ist stark und konnte schon in einigen Fällen helfen.

Ausländische Medien beschreiben die Lage hier im Land ganz anders, als das, was Sie beschreiben, ist das nicht auch ein Hindernis für Ihre Arbeit?

Es ist tatsächlich ein sehr großer Unterschied zwischen dem, was hier geschieht und dem, was die Medien berichten. Vermutlich liegt es daran, daß sie Quellen benutzen, die nicht zuverlässig sind. Mit der Art wie die Medien berichten, ergreifen sie Partei. Sie unterstützen die eine und vernachlässigen die andere Seite. Und ich will damit nicht sagen, daß die syrischen Medien hier vor Ort alles 100prozentig richtig berichten. Es gibt einiges, was keine Seite korrekt berichtet. Es gibt eine ganze Reihe friedlicher Gruppen, die Gewalt ablehnen und den Einsatz von Waffen verurteilen. Über sie berichten weder die lokalen syrischen Medien, noch berichten die internationalen über sie, weil diese Gruppen gegen die bewaffnete Opposition sind. Dabei verdienen es diese Gruppen, daß über sie berichtet wird. Ganz persönlich habe ich schlechte Erfahrungen mit France 24 und BBC Arabisch gemacht.

In welcher Weise?

France 24 hat ein 30-Minuten-Interview mit mir gemacht, das sie nie gesendet haben. Als verantwortlicher Chef einer politischen Partei hatte ich ihnen angeboten, für sie Korrespondenten in allen syrischen Städten zu finden, die zuverlässig und ehrlich berichten. Unentgeldlich, um der Wahrheit eine Chance zu geben. Aber sie haben es abgelehnt. Und BBC Arabisch hat Unwahres über meinen Sohn berichtet, der im Mai ermordet worden ist. Sie behaupteten, es habe politischen Streit zwischen ihm und mir gegeben. Tatsache ist, daß Ismail überzeugtes Mitglied der SSNP war und wir zusammengearbeitet haben. Wir haben die BBC aufgefordert, das zu korrigieren, was sie abgelehnt haben. Jetzt haben wir Klage eingereicht. Auch in den deutschen Medien wurde viel Unwahres berichtet. Der Spiegel beispielsweise behauptete, die SSNP sei eine regierungstreue Partei. Dabei weiß jeder Syrer, daß wir Teil der Opposition sind. Auch den Spiegel haben wir um Richtigstellung geben, ohne Erfolg.

In Deutschland hoffen viele Menschen auf Frieden in Syrien, Regierungsstellen aber haben Ihr Land politisch isoliert …

Lassen Sie mich dazu eines sagen: Europa sollte einen anderen Blickwinkel auf Syrien haben, als es die USA an den Tag legen. Mit Ihnen in Europa, in Deutschland haben wir Syrer viel gemeinsam. Das ist eine andere Beziehung, als wir sie zu den USA haben. Syrien – und darunter versteht unsere Partei Syrien in den historischen Grenzen, mit Palästina, Jordanien und dem Libanon – Syrien ist anders, als der Rest der Arabischen Halbinsel. Am Golf gibt es Öl und Gas, hier bei uns gibt es Kultur und Geschichte.

Interview: Karin Leukefeld in Damaskus *

* Ali Haidar ist Staatsminister im neu eingerichteten Ministerium für Angelegenheiten der Nationalen Versöhnung Syriens. Der Augenarzt und Chirurg wurde 1962 in Hama geboren. Er ist Vorsitzender der oppositionellen Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP).

Die Syrische Soziale Nationalistische Partei (SSNP) wurde 1932 von Antoun Saadeh im Libanon, damals noch Teil Syriens, gegründet. In Syrien war sie von 1955–2005 illegal, konnte jedoch inoffiziell seit Ende der 1990iger Jahre wieder arbeiten. Die SSNP hat ca. 90000 Mitglieder. Seit Mai ist die Partei mit zwei Abgeordneten in der Syrischen Volksversammlung (Parlament) vertreten.


Aus: junge Welt, Samstag, 18. August 2012


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