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Alles liegt in Assads Hand

Wissenschaftler Mohammad al-Habash appelliert an seinen Präsidenten *


Dr. Mohammad al-Habash (49) ist Leiter des Islamischen Studienzentrums in Damaskus. Für zwei Legislaturperioden war er als unabhängiger Abgeordneter im syrischen Parlament. Mit Gleichgesinnten gründete er im Jahr 2011 die Bewegung »Der Dritte Weg« mit dem Ziel, zwischen Regierung und Aufständischen zu vermitteln. Mit dem Damaszener Wissenschaftler sprachfür "neues deutschland" (nd) Karin Leukefeld.


nd: Die UN-Mission, die ein Teil des Sechs-Punkte-Plans in Syrien ist, hat ihre Tätigkeit bis auf Weiteres eingestellt. Ist der Plan gescheitert?

al-Habash: Unglücklicherweise hat die Initiative von Kofi Annan bisher ihr Ziel nicht erreicht. Es ist allgemein bekannt, dass das Regime eine sehr harte Haltung gegen diese Initiative eingenommen hat. Ja, das Regime hat erklärt, alle Punkte akzeptiert zu haben, aber tatsächlich gibt es keine Ergebnisse.

Die UN-Beobachter sagen, weder die Regierung noch die bewaffneten Aufständischen würden kooperieren.

Gut, die UN-Beobachter sagen, beide Seiten trügen Schuld. Aber wir können der Regierung und der Opposition nicht die gleiche Verantwortung zuschreiben. Denn die schweren Waffen sind in den Händen der Regierung. Sie hat keine Anstalten unternommen, die Armee aus den Wohngebieten abzuziehen und in die Kasernen zurückzubeordern. Darum bin ich der Ansicht, dass das Regime die volle Verantwortung trägt.

Die Regierung sagt, sie bekämpfe terroristische Gruppen. Sie suche das Gespräch mit der Opposition, aber es gebe Angriffe von bewaffneten Gruppen, die sie abwehren müsse.

Nein, ich kann diese Haltung nicht akzeptieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass in den ersten sechs Monaten der Revolution einzig und allein die Regierungskräfte Waffen hatten. Erst nach sechs Monaten hat die Revolution zu den Waffen gegriffen, unglücklicherweise. Ich will hier ganz klar machen, dass ich gegen jede Art von bewaffnetem Kampf bin, ob von der Regierung oder von der anderen Seite. Ja, es ist richtig, es gibt bewaffnete Gruppen in Syrien, und noch einmal, ich kann das nicht akzeptieren. Aber ich kann nicht beide Seiten gleichermaßen verantwortlich machen. Die Regierung trägt die volle Verantwortung für die Gewalt.

Wie kann es nun mit der UN-Beobachtermission in Syrien weitergehen?

Offen gesagt brauchen wir keine Beobachter, wir brauchen jemanden, der den Frieden in Syrien sichert. Wir brauchen eine Gruppe, die die Zivilisten schützt, bestimmte Gebiete zu »waffenfreien Zonen« erklärt und diese Gebiete unter den Schutz der Vereinten Nationen stellt. Das kann den Syrern vielleicht helfen, Beobachter reichen nicht.

Was ist Ihre Position als »Der Dritte Weg«?

Bisher hat unsere politische Position bei der Regierung keinen Gefallen gefunden. Der Präsident hat selber gesagt, dass wir in Syrien keinen »Dritten Weg« brauchen. Er hat gesagt, entweder seid ihr für uns oder für die »Terroristen«.

Sie haben Ihre Arbeit in Syrien eingestellt?

Es gibt in Syrien und außerhalb Interesse an unserer Arbeit, darum versuchen wir weiterzumachen. Ich bin nicht auf der Seite des Regimes, und ich bin nicht auf der Seite der Terroristen. Ich spreche für die schweigende Mehrheit in Syrien, die weder das Regime stürzen will noch mit der Gewalt einverstanden ist, die das Regime - und andere Gruppen - ausüben. Wir wollen ein neues Syrien, ohne Gewalt.

Was muss geschehen, damit eine friedliche Veränderung in Syrien möglich ist?

Als jemand, der als Abgeordneter neun Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet hat, möchte ich insbesondere unseren Präsidenten Baschar al-Assad ansprechen: »Herr Präsident, Sie können in dieser Situation nicht Präsident bleiben. Ändern Sie Ihre Haltung. Sie müssen verstehen, dass es eine Revolution in Syrien gibt, und Sie müssen mit Ihrem und für Ihr Volk den besten Weg für eine Zukunft finden. Die Revolution wird nicht aufhören, sie wird sich verschärfen, die Lage wird immer schwieriger werden. Es gibt nur eine Person, die Syrien heute helfen und das Morden stoppen kann, und das ist Baschar al-Assad.« Er hat eine große Verantwortung. Er muss sich an sein Volk wenden und sagen: Ich trete zurück. Helft mir, einen Weg und eine neue politische Führung für Syrien zu finden, weil ich so nicht weitermachen kann.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 21. Juni 2012


UN-Beobachter bleiben

In der Nacht von Dienstag zu Mittwoch teilte der Chef der Blauhelmeinsätze der Vereinten Nationen, Hervé Ladsous, mit: Die UN-Beobachter in Syrien sollen trotz der Zunahme der Gewalt vorerst in dem arabischen Land bleiben. Patrouillen fänden aber derzeit nicht statt.

»Im Moment haben wir entschieden, die Mission und ihr Mandat nicht zu verändern - ihre Aktivitäten bleiben aber ausgesetzt«, sagte Ladsous. Er erinnerte daran, dass das aktuelle Mandat des UN-Sicherheitsrates für die Beobachter am 20. Juli ausläuft. »Also müssen wir sehr schnell darüber nachdenken, was unsere Optionen für die Zukunft sind.«

Die russische Reederei Femco hat britische Vorwürfe über illegale Waffenlieferungen an Syrien zurückgewiesen. Berichte über »illegale Handlungen« ihres Schiffes »Alaed« seien falsch, teilte die Reederei am Mittwoch mit. Das Schiff sei derzeit »in vollständiger Übereinstimmung mit den internationalen Normen und Regeln« auf einer Handelsfahrt unterwegs.



Einwohner in Angst

Am Mittwoch (20. Juni) veröffentlichte die Tageszeitung Die Welt einen Bericht ihres Reporters Alfred Hackensberger, in dem er eine Reise ins syrische Aleppo schildert:

»Ich bin seit eineinhalb Jahren nicht mehr aus Aleppo herausgekommen«, sagt ein Taxifahrer. »Alle Einwohner haben Angst, die Stadt zu verlassen, besonders mit dem Auto.« Die FSA (Die aufständische »Freie Syrische Armee« – d. Red.) habe, so heißt es, schon viele Fahrer mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihr Auto zur Verfügung zu stellen.

Einige Eigentümer seien auch spurlos verschwunden. »Aber Assad wird fallen, das ist unausweichlich«, sagt der Taxifahrer. Im Prinzip aber sei es ihm egal, wer an der Macht sei. »Die von der FSA sind bestimmt nicht besser als die jetzigen Herrscher.«

Gleicher Meinung ist Samir, der gemeinsam mit anderen Lehrern seit zehn Jahren eine kleine Sprachschule unterhält, die nun wegen des Bürgerkrieges vor der Pleite steht.

»Die FSA macht sich keine Freunde, sie verhalten sich wie Kriminelle«, sagt der Englischlehrer und stellt seinen Freund John vor, der eine Fabrik für Elektroteile im Industriegebiet Aleppos betreibt.

»Die Rebellen kommen und befehlen uns Unternehmern, am Freitag und Samstag zu schließen, damit es wie ein Streik aussieht.« Wer den Anweisungen nicht folge, werde bestraft. »Die beiden Fabriken meiner Nachbarn wurden bereits von der FSA niedergebrannt.« (…) Aktion "Ich lese die junge Welt, denn sie ist mein Korrektiv gegen den Mainstream, dem ich sonst verfallen könnte." Paul Laudenberg, Kall

Im Café »Baron« im Zentrum von Aleppo sitzen drei 25 Jahre alte christliche Armenier, die die Europameisterschaft im Fernsehen verfolgen und dabei Wasserpfeife rauchen.

»Wir hoffen, daß unser Präsident gewinnt«, erklärt einer von ihnen, der sich als Gero vorstellt. »Assad beschützt uns. Wir haben unsere Religion, unsere Kirchen, Schulen und Gemeinden.«

Die drei jungen Männer halten die Berichte der Medien für übertrieben und falsch. »Die syrische Armee würde nie solche Massaker begehen, wie man behauptet«, meint Ivecu, der mit Altmetall handelt.

Für ihn und seine Freunde ist die FSA eine Bande von Banditen und Terroristen, wie es die syrische Regierung propagiert. »Wir wissen doch genau, was in Homs passiert ist«, ergänzt er mit ernstem Blick. Dort hatte die FSA Christen gewaltsam vertrieben. In den Gesichtern der drei Armenier ist deutlich Angst zu lesen. Es ist die Ungewißheit, die sie plagt. Wie wird der Bürgerkrieg enden? Sie fürchten vor allem radikale Islamisten. (…)

»Wir haben bereits Drohungen im Internet erhalten. Wir sollen verschwinden«, erzählt Kevoc, der von Beruf Innenarchitekt ist.

»Ansonsten will man uns den Hals umdrehen.« Einige der etwa 50000 christlichen Armenier Aleppos seien bereits ins Ausland geflüchtet, und viele würden darüber nachdenken, es ebenfalls zu tun.

Nicht weniger nachdenklich ist Vater Joseph. Er ist Priester der griechisch-orthodoxen Kirche, einer Gemeinde, zu der in Aleppo rund 20000 Menschen gehören.

»Mein Sohn ist nach Venezuela ausgereist, nachdem ihm europäische Länder kein Visum gegeben haben«, erzählt er und fügt traurig hinzu: »Mit Frau und kleinem Sohn.« Jede Familie in seiner Gemeinde würde sich überlegen, ins Ausland zu flüchten. Und wer es sich leisten kann, tut das auch. »Nur die Armen bleiben und warten, was passiert.«

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 21. Juni 2012


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