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"Ein gescheiterter syrischer Staat ist nicht im Interesse der USA"

"Das Schicksal von Syrien wird auf der Genfer Konferenz entschieden". Der oppositionelle Schriftsteller Louay Hussein im Gespräch mit Karin Leukefeld *


Louay Hussein ist ein syrischer Schriftsteller und war für seine politische Meinung sieben Jahre inhaftiert. 1991 kam er frei, beteiligte sich aber weiter an den politischen und sozialen Debatten in Syrien und der arabischen Welt. Im Juni 2011 gehörte er zu den Organisatoren der Semiramis-Konferenz in Damaskus, im gleichen Jahre gründete er mit anderen die Bewegung „Den Syrischen Staat aufbauen“ (Building the Syrian State). BSS zählt heute zu den wichtigsten gewaltfreien politischen Bewegungen in Syrien.
Karin Leukefeld sprach mit Louay Hussein Ende Juli in Damaskus.



Louay Hussein, wie sehen Sie die Lage in Syrien?

Wir sehen in Syrien den Beginn einer Fragmentierung, Syrien droht zu einem „gescheiterten Staat“ zu werden. Jede Lösung hängt jetzt von der Einigung zwischen den Russen und den Amerikanern ab. Das Schicksal von Syrien wird auf der Genfer Konferenz entschieden werden. Bis zu dieser Konferenz ‚Genf Zwei’ wird sich das militärische Gleichgewicht kaum ändern. Es ist möglich, dass Syrien in den nächsten Monaten als zentral regierter und kontrollierter Staat aufhören wird zu existieren.

Sie erwarten, dass Syrien auseinanderfällt?

Nicht in dem Sinne, dass neue offizielle Grenzen entstehen werden. Aber überall werden Kriegsfürsten die Kontrolle von Gebieten übernehmen. Es gibt eine Menge verschiedener bewaffneter Gruppen in Syrien, die eigene Gebiete kontrollieren. Und es gibt neue bewaffnete Gruppen, die auf der Seite des Regimes kämpfen. Wir wissen nicht, wer sie finanziert. Aber sie kämpfen auf der Seite des Regimes und kontrollieren wie die anderen Kriegsfürsten, eigene Gebiete. Es wird sehr schwer sein, diese Gruppen davon zu überzeugen, ihre Waffen dem Regime zu unterstellen oder abzugeben und die politische und militärische Kontrolle des Regimes zu respektieren. Und dann wissen wir, dass es eine dritte Partei gibt. Das sind Länder, politische Entscheidungsträger oder Einzelpersonen, die eigene Interessen in diesem Krieg verfolgen. Sie unterstützen die unterschiedlichsten Kampfverbände oder entscheiden sogar, was sie tun sollen. Das macht die Lage in Syrien sehr, sehr kompliziert. Besonders im Norden Syriens gibt es bewaffnete Gruppen, die Grenzübergänge kontrollieren, Ölfelder oder Elektrizitätswerke oder was auch immer. Mit allem, was sie zu Geld machen können, sind sie zufrieden.

Es gibt auch einen Kampf unter den bewaffneten Gruppen. Und es gibt Kämpfe zwischen den Kurden und der Nusra Front. Wie erklären Sie sich das?

Das ist ein Mechanismus solcher Kriegsfürstentümer (Kriegs-Emirat). Diese bewaffneten Gruppen kämpfen nicht mehr um die zentrale Machtübernahme. Sie kämpfen, um die Kontrolle über ihr Gebiet zu erhalten. Dass sie gegeneinander kämpfen ist ein Beweis dafür, dass sie als Kriegsfürsten agieren. Es geht nicht um politische, ideologische oder religiöse Differenzen, es geht um Kontrolle. Genau das geschieht in Aleppo und im Umland von Aleppo, insbesondere in den Gebieten die als „befreit“ bezeichnet werden.

Sind diese internen Kämpfe auch ein Zeichen dafür, dass diese Kampfverbände von ihren bisherigen Finanziers aufgegeben wurden?

Nein, sie werden immer noch finanziell unterstützt. Das Geld kommt von Einzelpersonen, nicht von Regierungen. Einige dieser Geldgeber gehören zur Opposition oder zur Nationalen Koalition. Sie sammeln das Geld von verschiedenen Regierungen mit der Angabe, es sei für humanitäre Hilfe oder so was gedacht. Diese Entwicklung ist logisch, denn die bewaffneten Gruppen wurden ja nicht auf einer politischen Basis gegründet. Sie wurden einzig gegründet, um zu kämpfen. Dafür werden sie bezahlt und unterstützt.

Vor zwei Jahren haben Sie gesagt, im schlimmsten Fall würde aus Syrien ein neues Somalia werden –

Ja, es zeichnet sich ab und in einigen Monaten wird jeder es genau sehen können.

Gibt es in einem solchen Szenario noch einen Platz für eine politische, gewaltlose Bewegung wie die Bewegung Den Syrischen Staat aufbauen, die Sie vertreten?

Louay Hussein: Die bestehenden politischen Gruppen haben sich völlig aus dem Geschehen zurückgezogen. Es ist möglich, dass sie ganz verschwinden werden. Das Geschehen wird bestimmt durch die bewaffneten Gruppen. In den umkämpften Gebieten gibt es weder gewaltsame noch friedliche politische Gruppen. Alle Gruppen, die dort aktiv sind, beschäftigen sich damit, Geld zu sammeln oder Waffen.

Es gibt Nichtregierungsorganisationen in Deutschland, die Geld für Gruppen sammeln, die in den so genannten „befreiten Gebieten“ tätig sind. Sie beschreiben die Tätigkeit dieser Gruppen so, dass diese als lokale Komitees arbeiten, das Bewusstsein fördern und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Das vermittelt den Eindruck, dass in den Kriegsgebieten eine Zivilgesellschaft aufgebaut wird.

Louay Hussein: Unglücklicherweise hat dieser Konflikt in Syrien weder eine Zivilgesellschaft noch politische Parteien hervorgebracht. Der Begriff „zivil“ wird hier als Gegensatz zu „bewaffnet“ gebraucht. Tatsächlich stehen diese Gruppen entweder den Aufständischen nahe oder dem Regime. Es handelt sich nicht um zivile Organisationen. Sie sind entstanden, weil es Geld für Projekte gibt, nicht weil sie ein Projekt hatten, wofür sie Geld brauchten. Wir als BSS (Building the Syrian State) fragen nicht, ob jemand gegen oder für das Regime ist, wenn wir Leute für zivile Arbeit ausbilden. Projekte wie „The Day After“ oder das Projekt der lokalen Komitees sind entstanden, weil die Geldgeber politische Instrumente brauchten. Wenn es zu politischen Entwicklungen in den so genannten „befreiten Gebieten“ kommen sollte, werden sie diese Gruppen als ihre politischen Instrumente einsetzen. Alle westlichen Regierungen begegnen den Syrern einzig unter dem Aspekt, ob sie für oder gegen das Regime sind. Ist jemand gegen das Regime, reden sie mit ihm und arbeiten mit ihm zusammen. Ist jemand aber nicht gegen das Regime, reden sie nicht einmal mit ihm. Als handele es sich nicht um einen Menschen, der Unterstützung braucht. All diese Unterstützung der westlichen Regierungen führt – ob sie es wollen oder nicht, obwohl ich sagen würde, sie wollen es – zu einer weiteren Spaltung der syrischen Gesellschaft.

Im Juni 2011 gab es im Semiramis Hotel in Damaskus eine historische Konferenz der syrischen Opposition. Warum gelingt es der syrischen Opposition nicht, ihre Arbeit untereinander zu koordinieren und abzusprechen?

Louay Hussein: Seit zwei Jahren wird die Zurichtung der syrischen Opposition von den Überlegungen und Interessen der internationalen Gemeinschaft bestimmt. Sie entscheiden, welche Gruppe zur Opposition gehört und welche nicht. Die syrische Opposition hat sich nicht aus eigener Kraft und auf der Basis ihrer eigenen Arbeit in und mit der syrischen Gesellschaft entwickelt. Viele politische Aktivisten, die hier in Syrien unter dem Regime zu leiden hatten, haben das Land verlassen. Die westlichen Regierungen haben sie aufgesammelt und sagen, sie seien die syrische Opposition. Die Semiramis Konferenz war ein Versuch, eine politische Opposition zu bilden, wir waren unerfahren. Und während wir hier in Syrien mit dem Regime und vielen Schwierigkeiten konfrontiert sind, war der Westen clever und hat uns unserer Grundlagen beraubt, auch unserer Aktivisten, mit denen wir eine politische Bewegung in Syrien aufbauen wollten.

Sie meinen, es gab einen gezielten Abzug syrischen oppositionellen Know-Hows?

Louay Hussein: Ausländische Machtzentren haben gezielt und absichtlich unsere Opposition aus dem Land geholt, diese Vision des Westens gab es von Anfang an. Die westlichen Regierungen, Politiker und Diplomaten haben von Anfang an die Existenz einer wirklichen politischen Opposition in Syrien in Frage gestellt. Seit der Semiramis Konferenz wurden wir von den westlichen Medien angegriffen. Es hieß, es sei nicht möglich, dass diejenigen, die sich dort versammelt hätten, wirkliche Oppositionelle seien, sie seien vom Regime aufgestellt worden.

Sie haben anfangs die Gefahr der Fragmentierung beschrieben. Was muss oder kann getan werden, um die Syrer miteinander zu versöhnen?

Louay Hussein: Das liegt nicht mehr in unseren Händen, sondern in den Händen anderer Staaten. Bevor sich Russland und Amerika nicht geeinigt haben, gibt es keine Möglichkeit, dem Land zu helfen. Die einzige Option, die das Regime überzeugen könnte, einen politischen Prozess in die Wege zu leiten, ist die Genf II Konferenz.

Glauben Sie, dass die Konferenz stattfinden wird?

Louay Hussein: Ja. Denn ein Verfall Syriens in Kriegsfürstentümer und ein gescheiterter syrischer Staat sind nicht im Interesse der USA hier in der Region. Auch andere Staaten haben Bedenken über einen möglichen Kollaps Syriens geäußert und fürchten die Gefahren, die davon ausgehen. Sie alle werden die Konferenz unterstützen.

Erwarten Sie, an der Konferenz teilzunehmen?

Louay Hussein: Nein, es ist ja bekannt, dass eines der Hauptprobleme für diese Konferenz die Frage ist, mit welcher Delegation die Opposition dort erscheint. Wir haben den Russen und den Amerikanern vorgeschlagen, die Konferenz ohne syrische Delegationen abzuhalten.

Eine Syrien-Konferenz ohne Syrer?

Louay Hussein: Diese Konferenz wird vor allem abgehalten, damit man sich international auf einen Konsens verständigt. Unserer Meinung nach ist es nicht wichtig, die verschiedenen Oppositionsgruppen in der Konferenz zu haben, außer die Nationale Koalition. Wir gehen davon aus, dass die Ergebnisse der Konferenz in Syrien umgesetzt werden. Und zwar von den Gruppen, die die Syrer ausgesucht haben. Um Teil einer politischen Lösung in Syrien zu sein, ist es nicht wichtig, an der Konferenz teilzunehmen. Die Konferenz in Genf wird die Kulisse sein, vor der sich die USA und Russland auf etwas einigen. Eine syrische Teilnahme an der Konferenz dient mehr der Dekoration.

Aber Russland und die USA sagen, sie wollten bei einer zweiten Genf-Konferenz die syrische Führung und die Opposition an einen Tisch bringen.

Louay Hussein: Selbst wenn die beiden syrischen Seiten an einem Tisch sitzen sollten, wird es nicht um Dialog gehen, sondern um Fotos. Fotos, die sagen, dass Russland und die USA sich geeinigt haben.

Alles scheint den Syrern aus den Händen genommen ….

Louay Hussein: Ja, genau darum haben wir von Anfang an vor der Internationalisierung dieses syrischen Konflikts gewarnt. Die Internationalisierung macht uns, die Syrer, nur noch zu Zeugen des Geschehens, nicht zu wirklichen Akteuren. Damals haben viele nicht verstanden, warum wir davor gewarnt haben. Heute sehen sie die Gefahren.

Von Seiten der Friedensbewegung in Deutschland gibt es immer wieder die Frage, was sie tun können, um den Syrern und Syrien zu helfen. Ich möchte diese Frage an Sie weitergeben.

Louay Hussein: Diese Frage wurde uns 1000 Mal gestellt, seit das alles anfing. Besonders Vertreter der Staaten, die stark in diesem Konflikt involviert sind, haben uns das gefragt. Um ehrlich zu sein, ich bin denen auf den Leim gegangen. Ich habe ihnen genau gesagt, was sie tun sollten und sie haben exakt das Gegenteil davon getan. Mit Nichtregierungsorganisationen gibt es nur ein Thema, über das wir reden können. Sie müssen dem bewaffneten Konflikt jede Legitimation entziehen und stattdessen eine politische Lösung verfolgen. Die Syrer brauchen heute Nahrungsmittel und Zuflucht, vor dem Beginn der Krise brauchten sie das nicht. Es ist nicht wichtig, ihnen zu essen zu geben, heute ist wichtig, die Krise zu beenden, wegen der sie Hunger leiden. Die Wirtschaftssanktionen sind ein Grund, warum die Syrer Hunger leiden. Ich hoffe, dass die europäischen Nichtregierungsorganisationen Druck auf ihre Regierungen machen, den Syrern zu helfen, egal, welche politische Meinung sie haben. Vor drei Monaten war ich in Brüssel bei der EU, dort hat man mir diese Frage auch gestellt. Und am gleichen Tag hat die EU beschlossen, von den bewaffneten Gruppen syrisches Öl zu kaufen. Ich hoffe, dass die Nichtregierungsorganisationen Druck auf ihre Regierungen ausüben, damit diese weder Waffen noch andere Unterstützung an die Gruppen in Syrien liefern. Jede Hilfe, die von der politischen Meinung der Syrer abhängig gemacht wird, lehnen wir ab.

Vielen Dank für das Gespräch.

* Eine gekürzte Fassung dieses Interviews veröffentlichte die „junge Welt“ unter dem Titel „Kriegsfürsten übernehmen Kontrolle“ in ihrer Ausgabe vom 8. August 2013


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