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Die Geduld der Syrer neigt sich dem Ende zu

Anhaltende Auseinandersetzungen in Daraa / Regierung spricht von Demonstranten als "bewaffneten Banden"

Von Karin Leukefeld *

In Syrien haben Sicherheitskräfte fünf Demonstranten getötet. Die Beamten hätten in der Nacht zum Mittwoch scharfe Munition und Tränengas gegen eine Sitzblockade rund um die Al-Omari-Moschee in Daraa eingesetzt, sagte ein Menschenrechtsaktivist,

Den fünften Tag in Folge ist es in der südlich von Damaskus gelegenen Stadt Daraa nun schon zu Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten gekommen. Auch ein Polizist sei getötet worden. Die syrische Nachrichtenagentur SANA zeigte Bilder von Waffen, Munition und Geld, die in der Moschee und angrenzenden Häusern sichergestellt worden sein sollen. Die Sicherheitskräfte machen »bewaffnete Banden« für die Gewalt verantwortlich. Eine Million SMS-Botschaften aus dem Ausland seien registriert worden, hieß es weiter. Die Botschaften seien aus dem Ausland, auch aus Israel verschickt worden und hätten die Syrer aufgefordert, Moscheen zu Zentren für Aufstände zu machen.

Letzte Meldungen

Tausende bei Begräbnis in Daraa: Dutzende Opfer

Nach dem Blutbad in der syrischen Provinz Daraa haben sich dort am 24. März Tausende von Angehörigen und Regimegegnern versammelt, um die Opfer vom Vortag zu Grabe zu tragen. Bewohner der Stadt, in der die Sicherheitskräfte am Mittwoch auf eine große Gruppe von Demonstranten geschossen hatten, sprachen von »Dutzenden von Toten«. Ein Behördensprecher stritt dies ab und erklärte, es seien zehn Menschen getötet worden. Augenzeugen sagten, die Trauergäste hätten »Es leben die Märtyrer« gerufen.

Den Angaben der Regimegegner zufolge gab es zwei große Trauerfeiern: In der Stadt Daraa, die südlich von Damaskus liegt, und in dem nicht weit von Daraa entfernten Dorf Chorfat Ghasale. Weitere Todesopfer, deren Leichen noch nicht den Angehörigen übergeben worden seien, würden am 25. März beerdigt, hieß es.

Regimegegner aus Daraa verglichen die Schüsse der Sicherheitskräfte auf Zivilisten mit dem Massaker von Hama 1982. Der Vater des heutigen Präsidenten Baschar al-Assad, Präsident Hafis al-Assad, hatte damals mit brutalster Gewalt einen Aufstand der Muslimbrüder in der Stadt Hama niedergeschlagen. Tausende von Einwohnern der Stadt wurden getötet. Die genaue Zahl der Opfer wurde nie bekannt.

Erneut tödliche Schüsse

Bei den Protesten der Regimegegner in Syrien sind erneut tödliche Schüsse auf Demonstranten gefallen. Reporter und Augenzeugen berichteten, Angehörige der Sicherheitskräfte hätten außerhalb der Stadt Al-Sanamien südlich von Damaskus auf Zivilisten geschossen. Diese warene auf dem Weg in die Unruheprovinz Daraa, um die Demonstranten dort zu unterstützen. Zur Zahl der Opfer liegen noch keine gesicherten Angaben vor. Die Opposition sprach auf ihren Websites von 23 Toten.

Weitere Demonstrationen wurden unter anderem aus den Städten Homs, Tel, Duma, Latakia und der Hauptstadt Damaskus gemeldet. Auch in Hama wurde demostriert - dort waren 1982 bei einem Angriff der Sicherheitskräfte tausende Menschen getötet worden.Nach Informationen des Nachrichtensenders Al-Arabija kam es erneut zu Festnahmen. Die Polizei löste zwei Pro-Demokratie-Kundgebungen in Damaskus auf. An den Demonstrationen auf dem Mardscha-Platz im Zentrum der Stadt und in der südwestlichen Vorstadt Mezzeh hatten jeweils ein paar Hundert junge Leute teilgenommen, berichteten Augenzeugen.

Quellen: dpa, Neues Deutschland, Handelsblatt-online, 25. März 2011



Daraa liegt an der Grenze zu Jordanien und ist Siedlungsgebiet verschiedener Stämme, die sowohl in Syrien als auch in Jordanien leben. Die Proteste hatten am Freitag nach dem Mittagsgebet begonnen und waren von der Al Omari, der Hauptmoschee im Zentrum der Stadt, ausgegangen.

Die Polizei war mit äußerster Gewalt vorgegangen und hatte fünf Demonstranten getötet. Der Gouverneur der Provinz wurde daraufhin von Präsident Baschar al-Assad entlassen. Eine Regierungsdelegation unter Leitung des stellvertretenden Außenministers Faisal Mekdad reiste am Sonnabend nach Daraa, um den Familien der Opfer Beileid zu bekunden, außerdem kam es zu Gesprächen mit Vertretern der demonstrierenden Bevölkerung.

Ausländische Medien berichteten, mehr als tausend Demonstranten hätten Freiheit und Demokratie gefordert, wobei sie sich auf anonyme Augenzeugen beriefen. Der arabische Nachrichtensender Al-Arabija meldete, 3000 Kämpfer der libanesischen Hisbollah und der iranischen Revolutionsgarden seien im Einsatz, um die Proteste in Daraa niederzuschlagen.

»Project on Middle East Democracy« (www.pomed.org), ein US-Blog, verbreitet die Botschaft eines Scheichs namens Ali Issa al-Obeidi. Der fordert den »Sturz der korrupten Baath-Regierung«, Wahlen und Freiheit für Kurden, Drusen und Christen. Militärangehörige und Mitglieder der Baath-Partei sollten zur Opposition überlaufen, um gegen den »Diktator« zu kämpfen. Die Stämme, für die er spreche, repräsentierten mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung.

Syrische Medien wie die Zeitung »Al-Watan« berichten, die Menschen hätten gegen Korruption aufbegehrt, einen frei zugänglichen Immobilienmarkt sowie Preis- und Steuersenkungen gefordert. Zudem sollten Lehrerinnen wieder mit Gesichtsschleier an Schulen arbeiten dürfen, was erst im vergangenen Jahr verboten worden war.

Auf einer Pressekonferenz in Damaskus bedauerte Vizepräsident Faruq al-Sharaa die Ereignisse in Daraa. Die Regierung versuche, Chaos zu verhindern, die vorgesehenen Reform- und Entwicklungsprozesse sollten beschleunigt und der Kampf gegen die Korruption verschärft werden.

Die Forderungen der Demonstranten in Daraa beziehen sich auf bekannte Missstände, die nicht nur regelmäßig Gegenstand von Diskussionen in Funk, Fernsehen und Zeitungen sind, sondern auch in den allseits beliebten syrischen »Seifenopern« erörtert werden. Die Umstellung des Landes auf Marktwirtschaft, verbunden mit dem Wegfall von Subventionen, vertieft seit Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich. Seit fünf Jahren herrscht in der Region zudem massive Trockenheit, wodurch Bauern ihre Lebensgrundlagen verloren haben und die Landflucht dramatisch angestiegen ist.

Trotz schwieriger Wirtschaftslage sind Proteste in Syrien selten. Das liegt nicht nur an den überall präsenten Sicherheitskräften und der Einschüchterung durch willkürliche Verhaftungen, auch Angst vor religiösen Auseinandersetzungen scheint die Menschen zur Ruhe zu mahnen. Hunderttausende Flüchtlinge – Christen aller Kongregationen, Jesiden, Schiiten und Sunniten – aus dem zerfallenden Irak sind eine tägliche Mahnung.

Syrer gelten zudem als äußerst geduldig. Während die junge Generation in anderen arabischen Ländern auf die Barrikaden geht, hoffen ihre syrischen Altersgenossen auf Reformen.

* Aus: Neues Deutschland, 24. März 2011


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