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Der Geopolitik entreißen

Sicherheit entsteht durch Frieden, nicht umgekehrt. Plädoyer für eine lösungsorientierte Friedenspraxis in Syrien

Von Johan Galtung *

Alle sind verzweifelt angesichts des furchtbaren Tötens und des Leids der Hinterbliebenen und des gesamten syrischen Volkes. Aber was tun?

Könnte es sein, daß die UN und Regierungen im allgemeinen denselben Fehler wieder und wieder machen? Gewöhnlich gehen sie wie folgt vor:

Erstens: Die Nummer eins als Hauptverantwortlichen loswerden, indem man Sanktionen einsetzt; zweitens: Waffenstillstand, entweder durch Appell an die Parteien oder durch Intervention; drittens: Verhandlungen, aber ausschließlich zwischen den »legitimen« Parteien, als gäbe es die ebenso »illegitimen« wie entschlossenen Parteien schlicht nicht – weil nicht sein kann, was nicht sein darf – und schließlich viertens: eine politische Lösung als Kompromiß.

Das scheint logisch zu sein. Es gibt einen Hauptverantwortlichen, den Präsidenten Assad, der das Töten befiehlt. Er muß mit allen Mitteln aus dem Amt vertrieben werden. Dann der Waffenstillstand, Verhandlungen und schließlich taucht irgendwie eine auch von den ausgeschlossenen Hardlinern hinnehmbare Lösung auf. Zwar ist das logisch, aber nicht sehr klug.

Zu (1): Zweifellos spielt die Nummer eins eine Rolle. Aber da der Mann so wichtig ist, kann es durchaus sein, daß er auch einige Schlüssel für die Lösungen in der Hand hält. Später, wenn er seinen Beitrag zur Entschärfung der Lage geleistet hat und mit ihm zusammen sein Abgang verhandelt worden ist, kann er ja abtreten, aber zuerst sollte man ihn anhören. Es könnte sein, daß er zum Frieden beitragen kann.

Zu (2): Warum sollten die Parteien den Vorschlag zu einem Waffenstillstand annehmen, wenn keine akzeptable Lösung in Sicht ist? Käme das nicht einer Kapitulation gleich? Würde das nicht dem Gegner Zeit dafür geben, sich neu aufzustellen und sich wieder zu bewaffnen? Zwar wäre ein Waffenstillstand wünschenswert, aber er ist für eine haltbare und für alle involvierten Konfliktparteien hinnehmbare Auflösung der gegenwärtigen Frontstellung weder notwendig noch hinreichend.

Zu (3): Haben wir hinreichend bedacht, wessen Pläne durch Verhandlungen begünstigt werden, nachdem die Hauptpartei ausgeschaltet worden ist?

Zu (4): Eine politische Lösung? Ja, aber unter den eingangs genannten drei Bedingungen steht das Ergebnis schon im voraus fest.

Waffenstillstand

Das Bemühen um Frieden in Syrien hat bei einer solchen Vorgehensweise kaum Aussicht auf Erfolg.

Was geschieht, wenn man die Reihenfolge umkehrt: Erst (4), dann (3), dann (2), dann (1). Nehmen wir an, wir fangen mit dem konkreten Lösungsvorschlag an, dann folgen Verhandlungen über die Einzelheiten. Wenn der Lösungsvorschlag jene unwiderstehliche Anziehungskraft hat, die für alle hinnehmbare Lösungen auszeichnet, dann erst kann eine Waffenruhe tatsächlich folgen. Das aktuelle Lavieren der syrischen Regierung ist eine vorhersehbare Folge davon, daß die notwendigen und hinreichenden Voraussetzungen für die Waffenruhe nicht erarbeitet wurden. Zuerst muß ein ebenso konkreter wie konstruktiver Lösungsvorschlag im dialogischen Verfahren mit allen aktiven Konfliktparteien erarbeitet werden. Dann erst interessieren sich Konfliktparteien aufrichtig für einen Waffenstillstand.

Erst mit einem solchen Vorschlag auf dem Tisch ist dann auch die Bedingung geschaffen, damit die Nummer eins, in diesem Fall Assad, abtritt oder abgesetzt wird. Zudem lehrt die Geschichte: Nach einem Waffenstillstand nimmt die Motivation der Konfliktparteien, sich für einen gewaltlosen Frieden einzusetzen, schlichtweg ab.

Wie kann es eine friedliche und gewaltlose Lösung geben, wenn die Hauptakteure noch miteinander kämpfen? Eine naive Frage. Die Kämpfenden müssen doch nicht selbst in die Verhandlungen gehen, sie können Stellvertreter schicken. Es geht um die Gleichzeitigkeit der Initiativen. Die Vermittlungsarbeit kann sozusagen an der offenen Wunde stattfinden.

Wahrlich an einem haltbaren Frieden Interessierte sollten nach mehreren Lösungsentwürfen und nicht nur nach einer einzigen Lösung suchen. Damit das geschieht, sollte mit syrischen Parteien außerhalb und innerhalb Syriens gesprochen werden. Letztendlich müssen 1000 systematisch lösungsorientierte Dialoge auf allen Ebenen der syrischen Gesellschaft organisiert werden, in jedem Stadtteil, in jedem Dorf mindestens ein Dialog, um zu erfahren, welche konkreten Auswege die unmittelbar betroffenen Menschen selber vorschlagen. Dies schließt ausdrücklich auch die syrische Exilbevölkerung ein. In diesen Dialogen gilt es, die Ziele der Befragten zu eruieren, um eine konkrete und detailreiche Vorstellung von jenem Syrien zu skizzieren, das ihren Wünschen entspricht und in dem sie, unter Berücksichtigung der legitimen Ziele aller Syrier, leben wollen. Natürlich bemißt sich diese Legitimität an Kriterien (a) der menschlichen Grundbedürfnisse, (b) der Menschenrechte – politische und wirtschaftliche – (c) des internationalen Völkerrechts. Umständlich? Ja. Aufwendig? Ja. Aber für einen infinitesimalen Bruchteil des logistischen, finanziellen und militärischen Aufwands, den die herkömmliche blutige Militärintervention verursachen würde. Und kein Mensch müßte dabei sterben. Die UN sollten Prozeßbegleiter schicken, die in der dialogischen Mediation geschult sind, anstatt damit zu liebäugeln, Experten zu entsenden, die sich mit Gewehren und Feldstechern auskennen.

Spannungsfeld

Folgende Annahmen über die Ziele der äußeren Parteien sind bei alledem zu bedenken:
  1. Israel möchte, daß Syrien in kleinere Teile geteilt wird, sich vom Iran löst, und es möchte den Status quo für die Golanhöhen und eine neue Landkarte für den Nahen Osten,
  2. die USA möchten, was Israel möchte, und die Kontrolle über Öl, Gas und Pipelines,
  3. Britannien möchte, was die USA möchten,
  4. Frankreich ist gemeinsam mit Britannien für die europäische Kolonisierung der Region nach dem Untergang des Osmanischen Reiches verantwortlich und will seine »Freundschaft« mit Syrien stärken,
  5. Rußland möchte eine Marinebasis im Mittelmeer und einen »Verbündeten«,
  6. China möchte, was Rußland möchte,
  7. die EU möchte, was Israel-USA und Frankreich möchten,
  8. Iran möchte, daß die Schiiten die Macht haben,
  9. Irak mit seiner Schia-Mehrheit möchte, daß die Schiiten die Macht haben,
  10. Libanon möchte gerne wissen, was es möchte,
  11. Saudi-Arabien möchte, daß die Sunniten an die Macht kommen,
  12. Ägypten möchte als Konfliktmanager auftreten,
  13. Katar möchte dasselbe wie Saudi-Arabien und Ägypten,
  14. die Golfstaaten möchten, was die USA und Britannien möchten,
  15. die Arabische Liga möchte kein zweites Libyen und versucht sich im Menschenrechtsdiskurs
  16. die Türkei möchte sich gegenüber Israel und USA und den Nachfolgern der Kolonisatoren Frankreich, Britannien und Italien, die das Osmanische Reich einstweilen aufteilten, Geltung verschaffen. Sie möchte darüber hinaus ein Syrien, das als Pufferzone dient.
  17. die UN möchten als Konfliktmanager auftreten.
Über alldem zieht eine dunkle Wolke herauf: Syrien liegt mitten im Spannungsfeld zwischen Israel-USA-NATO einerseits und der Shanghai Cooperation Organization (Rußland, China und Zentralasien mit Indien und Iran als Beobachter) andererseits, und beide Organisationen dehnen sich geographisch aus. Ob das gut geht?

Als Ziele einiger innerer Parteien lassen sich erkennen:
  1. Die Alawiten (15 Prozent) wollen »im Interesse aller« die Macht behalten,
  2. die Schiiten wollen dasselbe,
  3. die Sunniten wollen angesichts ihres numerischen Gewichts eine Mehrheitsregierung, d. h. sie wollen regieren. Gerne auch. »demokratisch« oder genauer gesagt »arithmetisch«,
  4. Juden, Christen und Minderheiten wollen Sicherheit und fürchten die Regierung der Sunniten,
  5. die Kurden wollen weitgehende Autonomie und eine gewisse Gemeinschaft mit anderen Kurden in Nachbarstaaten.
Schweizer Staatsmodell

Alle diese Annahmen sind selbstredend strittig. Aber wir wollen ein Gedankenexperiment durchführen und annehmen, daß dieses Bild – 17 Parteien außen und fünf Parteien innen – eher richtig als falsch ist. Wichtig ist, ob eine für alle erhitzten Akteure hinnehmbare Lösung in Sicht ist.

Nicht durch Gewalt. Jeder Gewinner wird in dieser tief gespaltenen Region den intensiven Groll aller anderen auf sich ziehen. Nicht durch Sanktionen. Das ist, als wollte man jemanden dafür bestrafen, daß er Fieber hat, wenn Mikroben und Immunsystem in seinem Inneren miteinander kämpfen. Daraus ergibt sich von selbst eine Lösung, die ich zu wiederholen nicht müde werden kann: das Schweizer Staatsmodell. Es birgt belastbare und funktionstüchtige Erfahrungswerte für Fälle wie Syrien. Syrien ist ein multiethnischer Staat. Ein föderales Syrien mit lokaler Autonomie, sogar bis hinab auf die Ebene der Dorfgemeinschaften wäre ein gangbarer Ansatz. In diesem Syrien haben Sunniten, Schiiten und Kurden Beziehungen zu den Menschen eigener Gesinnung über die jenseits der willkürlich vom Westen gezogenen Grenzen hinaus. Wenn, statt der neumodischen und höchst blutigen ­NATO-Einsätze die klassische internationale Friedenssicherung gemäß Kapitel fünf der UN-Charta wieder bemüht werden könnte, wäre einem anspruchsvollen Frieden konkret geholfen. Ein Blauhelmeinsatz könnte zum Schutz der Minoritäten und zur Unterbindung von Waffenströmen dienen und würde den Aufbau geopolitischer Militärstützpunkte einer der Großmächte unter humanitären Vorwänden gänzlich vorbeugen.

Die hiermit vorliegende Friedensperspektive ist sehr konkret und bei Rückgriff auf existente, effiziente und effektive Instrumente der internationalen Friedenspraxis durchaus realisierbar. Es drohen ansonsten zwei weitere Katastrophen: Ein offener Krieg mit Saudi-Arabien, Jordanien und Katar oder eben die Perversion eines R2P (Responsibility to Protect)-Einsatzes à la Libyen, mit bis zu 7700 abgeworfenen Bomben. Wie wir in Libyen sehen, haben Bomben erneut das Ziel, mit dem sie abgeworfen wurden, nämlich die Schaffung einer nachhaltig friedlichen politischen Ordnung, verfehlt. Die Sieger ernten gegenwärtig die Früchte, die ihr brutales Vorgehen gegen Ghaddafis System gesät hat. Ein belastbarer Frieden ist in Libyen wie überall dort, wo Geopolitiker ihre Finger im »Spiel« haben, in weite Ferne gerückt, weil Geopolitiker und Geostrategen noch immer nicht verstanden haben, daß unter dem Begriff »Frieden« etwas gänzlich anderes zu verstehen ist als das von ihnen verfolgte »nationale Interesse«. Sicherheit entsteht durch die Schaffung von Frieden und nicht umgekehrt.

* Professor Johan Galtung ist Präsident des Galtung-Instituts für Friedenstheorie und Friedenspraxis in Baden-Württemberg und Gründer der wissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung. Er ist weltweit als Vermittler in Konflikten tätig. Im Dezember 2011 ist sein Buch »Lösungsszenarien für 100 Konflikte in aller Welt – Der Diagnose-Prognose-Therapie-Ansatz« im Marburger Tectum-Wissenschaftsverlag erschienen.

[Übersetzung aus dem Englischen: Ingrid von Heiseler. Der Text wurde redaktionell gekürzt.]

Aus: junge Welt, Freitag, 13. April 2012


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