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Gestrandet in Tartus

Hunderttausende suchen Zuflucht in der syrischen Hafenstadt

Von Martin Lejeune, Tartus *

Wo bis vor zwei Jahren Schüler noch Rechnen, Lesen und Schreiben lernten, hausen nun Flüchtlingsfamilien – in einer Grundschule im Zentrum von Tartus. Auf Matten und Decken schlafen die Flüchtlinge zwischen Schiefertafeln und Sitzbänken. Die 64 Familien sind aus allen Landesteilen hierher geflohen. Laila, ein siebenjähriges Mädchen aus Aleppo, starrt mit leerem Blick aus dem Fenster. Die Halbwaise kam mit ihrer Mutter nach Tartus, nachdem der Vater bei Kämpfen getötet und ihr Haus zerstört worden war. »Ich vermisse Aleppo, aber ich vermisse noch mehr meinen Vater«, erzählt sie.

Tartus ist Standort des russischen Militärs und wird von Regierungstruppen stark geschützt. Das macht die Hafenstadt zum sicheren Fluchtpunkt für Vertriebene aus umkämpften Gebieten. Laut Nizar Moussa, Gouverneur von Tartus, gibt es in seinem Verwaltungsgebiet derzeit 650 000 Vertriebene. Seit Ausbruch der Kämpfe sei die Zahl der Einwohner des Gebiets von 900 000 auf 1,55 Millionen gestiegen. Riyad Khateeb, Aktivist bei Al-Aadyeat, einer lokalen Nichtregierungsorganisation, sagt, es seien sogar 1,1 Millionen Vertriebene, die in Tartus Zuflucht gefunden hätten. Demnach hätte sich die Einwohnerzahl innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt.

Syrien bewältigt nicht das erste Mal eine Flüchtlingswelle. 2003, während des Irakkrieges, hatte das Land drei Millionen Iraker aufgenommen. 2006, während des Libanonkrieges, boten die Syrer 1,5 Millionen libanesischen Flüchtlingen Unterschlupf. Doch die gegenwärtige Krise stellt das Land vor nie dagewesene Herausforderungen. Gouverneur Moussa ist stolz darauf, dass keiner der in Tartus gestrandeten Flüchtlinge in großen Lagern leben müsse. »Wir bringen die Vertriebenen bei Familien, in öffentlichen Gebäuden, in Hotels und sogar in den Ferienwohnungen der Minister der syrischen Regierung unter«, behauptet er.

Nizar Mahmoud, Koordinator des staatlichen Flüchtlingshilfswerks von Tartus, hat die Aufgabe, die öffentlichen Hilfsgüter gerecht unter den Flüchtlingen aufzuteilen. Ein Management des Mangels. Vorwürfe zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Staat tue nicht genug für die Vertriebenen, kontert er entschieden: »Wir werden zu unrecht kritisiert. Wir tun wirklich alles in unserer Macht stehende, um die vielen Flüchtlinge mit Essen, medizinischer Hilfe und Schulunterricht zu versorgen.«

Doch es gibt auch die Profiteure des Elends, und natürlich möchte niemand im Regierungsapparat offen darüber sprechen. Immobilienwerte, Mieten und Hotelzimmerraten sind in Tartus deutlich gestiegen. Es gibt in diesen Zeiten viele geschäftstüchtige Vermieter, die auch noch ihre kleinste Dachgeschosswohnung für viel Geld an die Flüchtlinge vergeben, eben weil der Staat nicht wie behauptet die Kapazitäten hat, allen Vertriebenen Unterschlupf zu bieten. Und es gibt Hoteliers, die für ein Doppelzimmer von einer sechsköpfigen Familie Wucherraten verlangen. »Leider schreitet der Staat gegen diese Sittenwidrigkeit nicht ein und legt auch keine Preisgrenzen fest«, kritisiert ein aus Homs geflohener Familienvater, der mit seiner Frau und vier Kindern das Doppelte seiner Miete in Homs für eine kleinere Wohnung in Tartus zahlen muss.

Vom Flüchtlingselend profitieren ferner manche Großgrundbesitzer und Fabrikanten, die nun aus einer großen Reserve billiger und jederzeit verfügbarer Arbeitskräfte schöpfen können. Und schließlich die Freier, die sich die Dienste einer verzweifelten Vertriebenen schon für den Gegenwert einer einfachen Mahlzeit erkaufen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. September 2013


Hilfe versickert in der Bürokratie

Pro Asyl erklärt, warum das deutsche Engagement für syrische Flüchtlinge nicht ausreicht **

5000 Syrer überqueren zurzeit täglich die Landesgrenze und flüchten vor den Gräueln des Bürgerkriegs. Weit mehr als zwei Millionen Flüchtlinge sind es seit dem Kriegsausbruch vor zwei Jahren. Karl Kopp ist Europareferent bei Pro Asyl. Er fordert ein europäisches Aufnahmeprogramm, das die Hilfesuchenden in Sicherheit bringt und menschenwürdig unterbringt. Mit ihm sprach Stefan Otto.


Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) will das Kontingent von 5000 Flüchtlingen aus Syrien nicht erhöhen. Er hat dafür aber einen Familiennachzug für syrische Staatsbürger zugelassen. Wird diese Regelung bereits umgesetzt?

Leider noch nicht. Wir haben schon bei Beginn des Bürgerkriegs gefordert, eine humanitäre Regelung für die syrischen Flüchtlinge zu schaffen. Aktuell besitzen knapp 40 000 syrische Staatsangehörige eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Viele versuchen verzweifelt, ihre Familien aus dem Elend, aus dem Krieg oder aus prekären Verhältnissen in den Nachbarstaaten Syriens rauszuholen. Wir brauchen dringend eine unbürokratische, liberale Regelung.

Aber es gibt doch die Einigung zum Familienzusammenzug.

Ja, die Bundesländer dürfen nun per Anordnung Regelungen zum erweiterten Familiennachzug treffen. Zentrale Voraussetzung ist dabei, dass die Angehörigen für den Lebensunterhalt ihrer Familienmitglieder aufkommen sollen. Die Gefahr dabei ist, dass Menschen, die kein ausreichendes Einkommen haben, ihre Angehörigen nicht nachholen können. Die Humanität droht somit auf der Strecke zu bleiben.

Dann droht das Vorhaben der Bundesregierung, mehr als die 5000 Flüchtlinge herauszuholen, an der Praxis zu scheitern?

Ja, das ist zu befürchten, wenn die Anforderungen bezüglich Einkommen, Wohnraum, Bezahlung der Krankenversicherungskosten etc. so bleiben. Es gibt noch zusätzliche Probleme in der Praxis: Wenn Krieg herrscht, dann sind Botschaften, Konsulate geschlossen. Wir befürchten, dass viele Familienzusammenführungen deshalb scheitern werden, weil die Anforderungen zu hoch sind.

Also müsste die Hilfe unbürokratischer erfolgen?

Ja sicher. Man müsste den Flüchtenden einen legalen Zugang nach Europa und Deutschland eröffnen und ihnen unbürokratisch ein Visum erteilen. Dann müssten syrische Flüchtlinge nicht die gefährlichen Wege über Mittelmeer oder Ägäis gehen, wo viele sterben. Dieses Leid könnte verhindert werden, wenn es ein großzügiges Aufnahmeprogramm geben würde.

Sollte es eine europäische Lösung geben?

Deutschland muss mehr Flüchtlinge aufnehmen, ganz klar. Die europäischen Staaten sollten, wie UN-Flüchtlingskommissar António Guterres fordert, unbegrenzt syrische Flüchtlinge aufnehmen. Ein großzügiges europäisches Aufnahmeprogramm, das Flüchtlinge evakuiert und sie menschenwürdig aufnimmt, muss jetzt aufgelegt werden.

Zur Erinnerung: Im Kosovokrieg 1999 haben die EU-Staaten in einer konzertierten Aktion 90 000 Flüchtlinge aufgenommen. Während des Bosnien-Kriegs fanden allein in Deutschland über 300 000 Menschen Zuflucht, weil die Einreisebedingungen vergleichsweise großzügig gestaltet waren. Aber Europa hat im dritten Kriegsjahr in Syrien nicht mal einen Plan A, geschweige denn einen Plan B, sondern sitzt diese humanitäre Katastrophe aus, die sich unmittelbar vor ihrer Grenze abspielt. Es sind nur einige Kilometer von Zypern bis zur syrischen Küste. Diese Untätigkeit ist zutiefst beschämend.

Derzeit scheint sich die Situation insbesondere in den Auffanglagern der syrischen Nachbarstaaten zuzuspitzen.

Wir sehen, dass die Hauptaufnahmestaaten allmählich in die Knie gehen. In der Türkei wurden die Grenzen weitgehend wieder geschlossen. Libanon ist ein sehr kleines Land, das bereits 720 000 Flüchtende aufgenommen hat. Wir sehen auch dramatische Zuspitzungen der Verhältnisse für syrische Flüchtlinge in Ägypten. Dort hat sich das Klima ihnen gegenüber extrem verschärft. Das führt zu gefährlichen, häufig tödlich verlaufenden Weiterfluchten übers Mittelmeer nach Europa.

Gibt es Ansätze einer koordinierten europäischen Hilfe?

Die EU ist zwar bereit, humanitäre Hilfe vor Ort zu gewährleisten und appelliert ständig an Syriens Nachbarstaaten: Haltet eure Grenzen auf, eröffnet den syrischen Flüchtlingen einen Fluchtweg. Aber zugleich hat die EU gigantische Summen investiert, um die europäische Außengrenze gegenüber Schutzsuchenden zu verschließen. Europa lässt die syrischen Flüchtlinge im Stich.

Ich war kürzlich in der Türkei und sprach mit Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland, die über die Ägäis versuchten, in die EU zu gelangen. In lebensgefährdender Weise wurden sie von der griechischen Küstenwache wieder in türkische Gewässer zurückgedrängt, wo sie von der türkischen Küstenwache gerettet werden mussten. Dies ist ein glatter Völkerrechtsbruch. Für diese schweren Menschenrechtsverletzungen trägt Europa die Mitverantwortung. Der Staatenverbund finanziert diese menschenverachtende Politik und schweigt zu den täglichen Zurückweisungen.

Schweden will syrischen Flüchtlingen einen dauerhaften Status gewähren. Wäre das ein europäischer Anfang?

Das könnte tatsächlich ein Modell für die anderen EU- Staaten sein. Der Vorteil ist, dass diese Flüchtlinge mit einem Daueraufenthalt eine Familienzusammenführung beantragen können und auch einen Rechtsanspruch haben. Aber diese Regelung kann nicht das dringend notwendige, großzügige EU-Aufnahmeprogramm ersetzen. Ein Rettungsprogramm für syrische Flüchtlinge muss einhergehen mit einer Politik der Einhaltung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen. Anstatt Flüchtlinge menschenrechtswidrig abzuwehren, muss Europa endlich seine Grenzen öffnen.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. September 2013


Flüchtlinge angekommen

Die ersten Syrer aus dem Libanon erreichen das Grenzdurchgangslager Friedland. Hohe finanzielle Hürden für Aufnahme durch Verwandte

Von Ulla Jelpke ***


Am Mittwoch sind die ersten 107 von 5000 syrischen Flüchtlingen in Niedersachsen empfangen worden, deren Aufnahme die Innenminister von Bund und Ländern schon im Mai beschlossen hatten. Ausgewählt werden sie in Abstimmung mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. So werden etwa alleinstehende Kinder, Frauen ohne Angehörige oder Angehörige religiöser Minderheiten aufgenommen. Aber auch »familiäre Bezüge« zu Deutschland spielen bei der Auswahl eine Rolle. 250 Flüchtlinge aus diesem Kontingent sind bereits auf eigene Faust in die Bundesrepublik eingereist, alle weiteren kommen nun mit Chartermaschinen direkt aus dem Libanon. Auf dem Flughafen in Hannover wurden sie von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und seinem niedersächsischen Kollegen Bernd Pistorius (SPD) empfangen. Sie reisten dann weiter ins Grenzdurchgangslager Friedland. Von dort aus werden sie nach etwa 14 Tagen auf die Bundesländer verteilt. Politiker mehrerer Parteien hatten die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen gefordert. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) fand, daß es »wirklich notwendig« ist, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, nannte aber keine Zahl. Die Linke forderte, die EU müsse ihre Grenzen endlich für Flüchtlinge öffnen, »statt sie mit militärischer Abschottung auf immer gefährlichere Routen über das Mittelmeer zu zwingen«.

Mittlerweile haben sich fast alle Bundesländer bereit erklärt, den Nachzug auch von Verwandten zweiten Grades zu erlauben, zehn haben dazu Anordnungen an ihre Ausländerbehörden erlassen oder angekündigt. Der Teufel steckt aber im Detail. So haben Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg Kontingente festgelegt: 500 Flüchtlinge dürfen nach Baden-Württemberg, 1000 nach Nordrhein-Westfalen. Allein dort leben 12700 syrische Staatsangehörige.

Zugleich bestehen hohe finanzielle Hürden für die Aufnahme von Verwandten. Sie ist an die Abgabe einer Verpflichtungserklärung gekoppelt. Damit übernehmen die in Deutschland lebenden Verwandten alle Kosten, die für Unterkunft und Verpflegung anfallen, hinzu kommt die Krankenversicherung. Die »Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender« (GGUA) aus Münster kritisiert in einer Stellungnahme: »Nur Hochverdienende könnten die Vorgaben erfüllen. Für mehrköpfige Familien wäre die Aufnahme faktisch ausgeschlossen.« Dafür rechnet die GGUA zwei Beispiele vor: Will eine alleinstehende Person eine andere alleinstehende Person aufnehmen, benötigt sie nach den Regeln für die Verpflichtungserklärung ein Nettoeinkommen von 2090 Euro. Eine Familie mit zwei Kindern benötigte ein Nettoeinkommen von 4200 Euro, um ein Großelternpaar aufnehmen zu können. »Im besten Fall«, so die GGUA, »steht die aufnehmende Familie am Ende vor einem Schuldenberg. Im schlechtesten Fall haben die Angehörigen keine Chance, der syrischen Hölle zu entkommen.«

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. September 2013


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