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Aufständische eskalieren

Assad-Gegner provozieren weitere militärische Auseinandersetzung. Westen hält offiziell an Annan-Friedensplan fest, unterstützt real aber die Rebellen

Von Karin Leukefeld *

Die Morde in der syrischen Gemeinde Hula in der Provinz Homs am 25. Mai sind immer noch nicht aufgeklärt. Sie werden aber von den Gegnern der syrischen Führung benutzt, um politisch, medial und militärisch den Druck auf Damaskus zu verschärfen. Bewaffnete Aufständische unterschiedlichster Couleur haben mittlerweile den Sechs-Punkte-Plan von UN-Sondervermittler Kofi Annan für gescheitert erklärt und ihre Angriffe auf die regulären syrischen Truppen massiv verschärft. Um »unser Volk zu verteidigen«, begründete Sami Al-Kurd die neuen Angriffe laut Nachrichtenagentur Reuters am Montag. Erste »Erfolgsmeldungen« über mehr als 80 getötete Soldaten binnen Stunden folgten umgehend. Al-Kurd, der sich als Sprecher der »Freien Syrischen Armee« ausgab, forderte vom UN-Sicherheitsrat eine »Frieden erzwingende Maßnahme« mit bewaffneten Blauhelmsoldaten, eine »Flugverbotszone« oder eine »Schutzzone«. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon wies die Forderung nach einem bewaffneten internationalen Eingreifen zurück. Der Annan-Plan sei »zentral« für die Lösung der Krise in Syrien.

Kofi Annan, der bei Gesprächen in Katar, Jordanien, im Libanon und in der Türkei erneut vergeblich versucht hatte, den Waffenschmuggel und die Finanzierung der Aufständischen zu stoppen, wird am morgigen Freitag in Washington mit US-Außenministerin Hillary Clinton über Syrien sprechen.

Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, dachte bereits laut darüber nach, Maßnahmen gegen Syrien unter Umgehung des UN-Sicherheitsrates zu ergreifen, vermutlich mit den »Freunden Syriens«. Das Bündnis interventionsbereiter Länder tagte einmal mehr am Mittwoch.

Die europäische Führungsriege betont zwar – wie auch der UN-Generalsekretär – weiterhin die Bedeutung des Annan-Plans, doch niemand nutzt seinen Einfluß auf diejenigen Staaten, die Aufständische in Syrien finanzieren und bewaffnen. Dazu gehören erklärtermaßen die »Freunde Syriens« Saudi-Arabien, Katar und die Türkei. Bei seiner aktuellen Rundreise durch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Katar, den Libanon und die Türkei folgt Bundesaußenminister Guido Westerwelle zwar den Spuren von Kofi Annan. Fraglich ist aber, ob er – wie Annan – diese Staaten dazu ermahnt, den Waffenschmuggel nach Syrien und die Finanzierung bewaffneter Gruppen einzustellen. Immerhin ist die Türkei NATO-Partner, mit Katar und den Emiraten besteht neben einer engen wirtschaftlichen Verflechtungen auch eine militärische Zusammenarbeit.

Die Außenminister der von der Arabischen Liga eingesetzten Syrien-Gruppe, forderten bei ihrem Treffen am vergangenen Wochenende Kofi Annan auf, einen verbindlichen Zeitrahmen für die UN-Beobachtermission vorzulegen. Deren Einsatz wurde vom UN-Sicherheitsrat zunächst für drei Monate angeordnet. Der Vertreter Katars, Scheich Hamid Bin Jassim, machte sich für eine Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII der UN-Charta gegen Syrien stark, das bedeutet militärisches Eingreifen wie in Libyen im vergangenen Jahr.

Rußland betont derweil die Bedeutung des Sechs-Punkte-Plans Annans und ist nicht bereit, schärfere Maßnahmen gegen die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad zu unterstützen. Auch die blockfreien Staaten im UN-Sicherheitsrat, Indien, Brasilien und Südafrika unterstützen weiterhin die Annan-Mission für Syrien. Um das Massaker von Hula aufzuklären, verlangen die Interventionsgegner eine Untersuchung.

Bei Gesprächen in Peking bekräftigten der russische Präsident Wladimir Putin und sein chinesischer Amtskollege Hu Jintao am Montag die gemeinsame Ablehnung einer ausländischen Intervention in Syrien, die auf einen gewaltsamen Regierungswechsel in Damaskus zielt. Aus Kreisen der politischen syrischen Opposition, die ausländische Einmischung in Syrien ablehnt und den Annan-Plan unterstützt, war zu hören, daß Rußland zur Lösung der Krise möglicherweise eine UN-Syrien-Konferenz vorschlagen könnte unter Vorsitz von Kofi Annan.

Die UN-Beobachtergruppe in Syrien hat zu den Ereignissen in dem Dorfverband von Hula bisher keine Stellung bezogen. Ihre Beobachter haben Augenzeugen und Betroffene befragt und versuchen Licht in das Dunkel zu bringen. Bei dem Massaker am 25. Mai wurden mehr als 100 Menschen getötet, darunter viele Kinder. Eine offizielle syrische Untersuchungskommission beschuldigte in einem vorläufigen Bericht »Terroristen«, zwei Familienverbände nahezu ausgelöscht zu haben. Die auch von offizieller syrischer Seite erwähnte »konfessionelle« Komponente bei dem Blutbad weist auf die Absicht hin, verschiedene Religionsgruppen gegeneinander aufzubringen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 7. Juni 2012

Letzte Meldungen - wie immer mit Vorsicht zu genießen

dapd meldet am 7. Juni in einer Nachricht, die überschrieben ist mit "Aktivisten und Opposition melden neues Massaker in Syrien", über einen neuerlichen Vorfall extremer Gewalt u.a.:

Berichte über ein neues Massaker in der syrischen Provinz Hama mit zahlreichen Todesopfern haben am Donnerstag Besorgnis und Entsetzen ausgelöst. Die genaue Zahl der Toten sowie die näheren Umstände ließen sich nicht von unabhängiger Seite bestätigten. Das in London ansässige Observatorium für Menschenrechte erklärte am Donnerstag, bei dem Massaker in Masraat al-Kubair nahe Hama seien am Mittwochabend mehrere Dutzend Menschen getötet worden. Die Zählung der Opfer dauere noch an. Die Örtlichen Koordinationskomitees gingen von mindestens 78 Toten aus, darunter Frauen und Kinder.
Regierungsnahe Truppen der Schabiha-Miliz hätten Masraat al-Kubair zunächst mit Granaten beschossen, seien dann in die Ortschaft eingedrungen und hätten Bewohner getötet, erklärten die Koordinationskomitees. Einige der Opfer seien erstochen und einige Leichen verbrannt worden.
Der Vorsitzende des Observatoriums, Rami Abdul-Rahman, forderte die UN-Beobachter auf, das Gebiet umgehend zu besuchen. "Warten Sie nicht bis morgen, um dieses jüngste Massaker zu untersuchen", sagte er an die Beobachter gewandt.
Außenminister Guido Westerwelle reagierte mit großer Besorgnis auf die Meldungen über das neue Massaker. Die Nachrichten, sollten sie zutreffen, seien schockierend und zeigten, "wie dringlich das Handeln der internationalen Gemeinschaft ist", sagte der FDP-Politiker am Donnerstag in Istanbul. Gleichzeitig kündigte der Minister eine Erhöhung der humanitären Hilfe für Syrien um 2,1 Millionen auf dann 7,9 Millionen Euro an. Westerwelle mahnte, das Sterben gehe weiter, "nicht nur dann, wenn wir davon erfahren".
(dapd, 7. Juni 20o12

Die russische Zurückhaltung gegenüber den Meldungen aus syrischen oppositionskreisen kommt in der folgenden Meldung der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti zum Ausdruck; sie stand unter dem Titel: "Moskau verurteilt Hama-Massaker als Provokation":

Das russische Außenministerium hat das Blutbad mit mehr als 100 Toten im syrischen Hama als Provokation bezeichnet, die darauf abzielt, den Friedensplan von Kofi Annan zum Scheitern zu bringen.
„Wir verurteilen die barbarischen Gewalttaten im Raum Hama“, sagte Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch am Donnerstag. Die Schuldigen müssten vor Gericht kommen und auf Strengste bestraft werden.
„Das ist nicht das erste Mal, dass bestimmte Kräfte zu grausamen und gemeinen Provokationen greifen, um den Plan Kofi Annans scheitern zu lassen“, so der Sprecher weiter. Dabei verwies er auf das Massaker in Hula, wo am 25. und 26. Mai nach UN-Angaben mindestens 108 Zivilisten, darunter 49 Kinder, getötet worden waren. Lukaschewitsch rief die Weltgemeinschaft auf, den Annan-Plan verstärkt zu unterstützen.
In der Nacht zum Donnerstag waren im Raum Hama mehr als 100 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, massakriert worden. Die Rebellen machen die Regierungsarmee für das Blutbad verantwortlich. Nach der Darstellung der Regierung in Damaskus hatte die Armee eingegriffen, nachdem Terroristen die Zivilisten überfallen hatten.
(RIA Novosti, 7. Juni 2012)



Hintergrund: Pressefreiheit in Syrien in Gefahr **

Beim Treffen der Syrien-Kommission der Außenminister der Arabischen Liga in Doha (Katar) wurden die beiden großen Satellitenanbieter Arabsat und Nilesat aufgefordert, die Übertragungsrechte für syrische Fernsehsender aufzuheben. Irak und andere arabische Staaten lehnten den Antrag ab. In Damaskus protestierten Journalisten und andere Medienvertreter mit einem Sitzstreik vor der Zentrale der Syrischen Journalistenunion gegen das Ansinnen. Der Vorsitzende der Union, Elias Murad, stellte einen Zusammenhang mit der syrischen Berichterstattung über die Massaker von Hula her, die offenbar verhindert werden solle. Auch in anderen syrischen Städten meldeten sich Journalisten zu Wort. In einem Protestschreiben an die Arabische Journalistenunion hieß es, das geplante Abschalten syrischer Satellitensender sei »ein Akt des Terrorismus« und ein »Angriff auf die Pressefreiheit«. Die Arabische Journalistenunion müsse sich hinter die syrischen Kollegen und Medien stellen und den Generalsekretär der Arabischen Liga auffordern, die Entscheidung der Außenminister zu stoppen.

Internationale Journalistenorganisationen äußerten sich bisher nicht zu dem Angriff auf die Pressefreiheit. Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« berichtet dagegen fast täglich von Übergriffen auf syrische »Bürgerjournalisten« und »Blogger«. Der Direktor des Zentrums für Medien- und Meinungsfreiheit in Damaskus, Mazen Darwisch, steht derzeit wegen des Verdachts auf »Diffamierung und Verunglimpfung der Staatsorgane« vor Gericht. Er soll »verbotenes Material verbreitet« haben. Darwisch wurde im Februar 2012 mit 16 weiteren Kollegen verhaftet, sieben von ihnen wurden Anfang März, vier weitere im April unter Auflagen freigelassen. Der Aufenthaltsort der fünf noch Inhaftierten ist nicht bekannt. Das Verfahren wird vor einem Militärgericht verhandelt, ein Verhandlungstermin am 12. Mai wurde auf Juni vertagt. Das Medienzentrum (SCM) hatte viele Jahre vergeblich einen offiziellen Status beim Wirtschafts- und Sozialforum der Vereinten Nationen (ECOSOC) beantragt. Erst im Zuge der Ereignisse in Syrien wurde der Antrag im Juli 2011 bewilligt. (kl)

** Aus: junge Welt, Donnerstag 7. Juni 2012


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