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Assad ruft zu einem nationalen Dialog auf

Syriens Präsident auch zu neuer Verfassung bereit / EU will weitere Sanktionen verhängen

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der syrische Präsident Assad hat angesichts der Krise in seinem Land zu einem »nationalen Dialog« aufgerufen. In einer vom Fernsehen übertragenen Rede an die Nation sagte Assad am Montag (20. Juni), der Dialog könne zu »Änderungen der Verfassung oder einer neuen Verfassung« führen. Zur selben Zeit verständigten sich die EU-Staaten im Grundsatz auf weitere Sanktionen gegen Syrien.

Nach drei Monaten Unruhen in Syrien war die dritte Rede von Präsident Baschar al-Assad am Montag mit großer Spannung erwartet worden. Die Straßen um die Universität, wo Assad sprach, waren schon am Morgen von Fahrzeugen geräumt worden, Sicherheitskräfte in Schlips und Anzug bezogen Stellung auf Dächern, in Hauseingängen und auf Straßenkreuzungen. Mittags war der Verkehr in der Umgebung der Universität weitgehend zum Erliegen gekommen.

Viele Straßen im Zentrum von Damaskus lagen wie ausgestorben, als Assad seine Rede nicht vor Studierenden, wie an der Universität eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern mehrheitlich vor einem älteren, möglicherweise ausgesuchten Publikum begann. Aus Fenstern und Autoradios war die Stimme des Präsidenten zu hören, in Geschäften und Büros drängten sich die Menschen vor den Fernsehern. Assad verlas seine Rede im schwarzen Anzug und mit schwarzer Krawatte.

Anders als erwartet brachte die Rede keine bahnbrechenden Neuigkeiten. Assad äußerte gegenüber betroffenen Familien erneut sein Bedauern über die getöteten Zivilisten, Soldaten und Polizisten. Er verurteilte die »bewaffnet agierenden Kräfte der Opposition«, die Chaos und Zerstörung über Syrien bringen wollten und den legitimen Protest der syrischen Bevölkerung für ihre Ziele ausnutzten.

Diese Kräfte würden aus dem Ausland unterstützt, doch Syrien werde über seine Zukunft selbst entscheiden, bekräftigte Assad. Der Reformprozess sei im Interesse der Bevölkerung. Assad bekräftigte erneut den Willen der Regierung zu einem nationalen Dialog, der ein bis zwei Monate dauern solle und dessen Rahmenbedingungen – Teilnehmerkreis und Themen – von einem Komitee vorbereitet würden. Der Reformprozess solle in einem festen Zeitrahmen und rasch vollzogen werden, das gelte vor allem für die beschlossene Reform von Medien-, Parteien- und Wahlgesetz, so Assad. Parlamentswahlen könnten vermutlich im August stattfinden, auch die Verfassung müsse überarbeitet werden.

Erste Äußerungen fielen enttäuscht bis zornig aus. Der Präsident habe nichts Neues gesagt, sie habe sich mehr erwartet, sagte eine Gesprächspartnerin gegenüber ND. Ein Geschäftsinhaber bemängelte, dass Assad nicht mehr und konkreter auf bekannte Forderungen eingegangen sei. Die Wirtschaft liege am Boden, kritisierte er. Täglich verließen junge Männer das Land, um Arbeit in einem der Golfstaaten zu finden.

Syrische Oppositionelle riefen gestern (20. Juni) einen Nationalrat aus, welcher die »syrische Revolution« führen soll. Dies gab der Sprecher dieses Rats, Jamil Saib, gestern bei einer Pressekonferenz an der syrisch-türkischen Grenze bekannt. Die Staats- und Regierungschefs der EU werden eine Verschärfung der Sanktionen gegen Syrien beschließen. Das zeichnete sich am Montag am Rande von Beratungen der EU-Außenminister in Luxemburg ab.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2011


Spätes Erwachen

Von Roland Etzel **

Von Woche zu Woche stärker unter Druck geraten, dreht sich das Reformkarussell in Syrien immer schneller: Präsident Assad beschwört seine Gegner zu einem nationalen Dialog und scheint bereit zu sein, das jetzige Staatsgefüge komplett zur Disposition zu stellen – ausgenommen sich als Präsident. Und doch ist es unwahrscheinlich, dass sich auch seine Rivalen – vor allem sein langjähriger Stellvertreter und heutiger Erzfeind Khaddam im Pariser Exil – mit ihm überhaupt aussöhnen wollen.

Beim Kampf um die Herzen und Hirne der Syrer sieht Assad bisher schlecht aus. Die Frage, warum die Umsetzung all der geradezu revolutionär klingenden Reformen jetzt im Zeitraffer möglich sein soll, wo doch zuvor fast ein halbes Jahrhundert lang schon der Gedanke daran strafbar war, hat er gestern erneut nicht beantworten können. Wie auch, es ist wohl schlicht das übliche Politikerdenken im Spiel gewesen. Man wiegte sich im süßen Traum der uneingeschränkten Macht. Warum also einen Dialog suchen? Nun gibt es ein spätes, böses Erwachen.

Andererseits: Was immer Assad gesagt hätte – an der Absicht des Westens, ihn zu stürzen, hätte das nichts geändert. Von Luxemburg aus verschärfte die EU ihre Wirtschaftssanktionen gegen das auch ökonomisch angeschlagene Syrien, noch ehe er gestern geredet hatte. Die Gelegenheit, jetzt ein den eigenen Machtstrategien nicht gehorchendes Regime zu stürzen, möchte man hier nicht mehr aus der Hand geben.

** Aus: Neues Deutschland, 21. Juni 2011 (Kommentar)


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