Syrien: Kriegsgrund konstruiert
Unbestätigte Berichte über Chemiewaffeneinsatz spitzen Lage weiter zu *
Unbestätigte Berichte über einen Einsatz von chemischen Waffen in Syrien haben die Debatte um eine ausländische Intervention zum Sturz der Regierung von Staatschef Baschar Al-Assad neu angefacht. Die türkische Regierung erklärte am Freitag, jegliche Verwendung von Chemiewaffen würde »die Krise auf eine neue Stufe heben«. Ein Sprecher des Außenministeriums äußerte sich aber zurückhaltend auf die Frage, ob die Türkei eine ausländische Militärintervention von ihrem Boden aus zulassen würde.
US-Präsident Barack Obama reagierte vorsichtig auf die angeblichen Geheimdiensterkenntnisse zum Einsatz solcher Waffen. Noch fehle der endgültige Beweis, daß die syrische Regierung ihre Gegner mit dem Nervengas Sarin angegriffen habe, erklärte das Präsidialamt in Washington am Donnerstag. Man verwies darauf, daß die US-Regierung die Lektion aus dem Irak-Krieg gelernt habe. Damals hatten die Vereinigten Staaten falsche Geheimdienstangaben über Massenvernichtungswaffen in den Händen von Diktator Saddam Hussein zum Anlaß des Einmarschs im Irak genommen. Israel riet den USA, ein militärisches Eingreifen in Syrien zu erwägen. Die ganze Welt beobachte die Entwicklung im Nachbarland, sagte der stellvertretende Außenminister Zev Elkin im Armeerundfunk.
Die Führung in Damaskus bestreitet die Vorwürfe. »Die Rakete ist von einem Ort abgeschossen worden, der unter Kontrolle der Rebellen ist und nahe der Türkei liegt«, sagte Informationsministers Omran Al-Subi am Freitag der Agentur Interfax zufolge in Moskau.
In Berlin kommentierte der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Jan van Aken: »Es gibt keinen einzigen konkreten Hinweis darauf, daß das Assad-Regime Chemiewaffen eingesetzt hat. Die vorliegenden Fakten sind zudem sehr mißbrauchsanfällig. Die Gefahr ist groß, daß hier ein Kriegsgrund konstruiert wird, von wem auch immer.«
* Aus: junge Welt, Samstag, 27. April 2013
An die rote Linie gedrängt
>
Syrien: Erneut Meldungen über Sarin-Kampfstoff-Einsatz durch Assad-Regime
Von René Heilig **
US-Verteidigungsminister Chuck Hagel sagt, die US-Regierung halte es
für wahrscheinlich, dass die syrische Führung Chemiewaffen eingesetzt
hat. Doch noch ist Präsident Obama nicht bereit, deswegen in den Krieg
zu ziehen.
Das Weiße Haus informiert Mitglieder des US-Kongresses schriftlich,
dass US-Geheimdienste »mit unterschiedlichem Grad der Zuverlässigkeit« davon ausgingen, dass in Syrien »in geringem Maße« Chemiewaffen eingesetzt wurden. Umgehend rief die syrische Opposition
die Weltgemeinschaft auf, »dringend und entschieden« zu
handeln, um den weiteren Einsatz von Kampfstoff durch das Assad-
Regime zu verhindern.
Seit Monaten machen Nachrichten
über Kampfstoffeinsätze durch die regierungstreuen Truppen
die Runde. Ihre Anzahl wuchs,
nachdem US-Präsident Barack Obama im vergangenen August von einer »roten Linie« sprach, die erreicht sei, wenn Syriens Präsident
solche Waffen einsetzt. Obama drohte mit »ernsten Konsequenzen«, die nun nach Ansicht
der Rebellen folgen müssten.
Tatsächlich besitzt Syrien
Senfgas-, Sarin- und VX-Kampfstoffe.
Doch man werde sie nur gegen
ausländische Angreifer einsetzen,
schwört die Assad-Regierung
und traf – auch zur Beruhigung
der Obama-Administration –
zusätzliche Maßnahmen, damit die
Aufständischen nicht in den Besitz
solcher Waffen gelangen.
Die Hinweise auf angeblich von
Assad verübte Kriegsverbrechen
sind bekannt. Regierung und Opposition
bezichtigen sich gegenseitig,
am 19. März bei Aleppo und
im Dezember in Homs Chemiewaffen
eingesetzt zu haben. Neu
nun: Boden- und Blutproben mehrerer
Personen sollen Chemiewaffen-
Bestandteile aufweisen. Die
Proben sollen von Aufständischen
aus dem Land geschmuggelt worden
sein. Doch ist die Chance zur
Manipulation hier vielfältig. So
lange keine lückenlose Beweiskette
erstellt werden kann, taugen die
»Beweise« ebenso wenig wie das
Assistenzgemurmel aus Frankreich
und Großbritannien. Nicht
einmal die am Mittwoch vom israelischen
Militärgeheimdienst vorgelegten
Fotos, auf denen Menschen
mit Schaum vor dem Mund
zu sehen sind, können für derartige
Verbrechen als Belege gelten.
Zumal ein Gifteinsatz durch Assad
unlogisch wäre. Der mögliche taktische
Vorteil, den seine Truppen
durch den Verschuss einer Chemie-
Granate erreichen könnten,
wäre gering. Groß dagegen ist das
Risiko, so das finale Fiasko für den
Präsidenten einzuleiten.
Auf Basis ungesicherter Fakten
mag Obama keinen Krieg beginnen.
Dennoch kann er die Meldungen
politisch nicht ignorieren. Zunächst
werden die Rebellen also
mehr Waffen, Ausbildung und
Aufklärungsergebnisse erhalten.
Reicht das nicht, rückt eine Flugverbotszone
näher.
** Aus: neues deutschland, Samstag, 27. April 2013
Vorsicht vor Chemiewaffenpropaganda
Pressemitteilung, 26.04.2013 – Jan van Aken
"Die Berichte über angebliche Chemiewaffenfunde in Syrien sind mit Vorsicht zu genießen. Die Beweislage ist ganz, ganz dünn. Es gibt keinen einzigen konkreten Hinweis darauf, dass das Assad-Regime Chemiewaffen eingesetzt hat. Die vorliegenden Fakten sind zudem sehr missbrauchsanfällig. Die Gefahr ist groß, dass hier ein Kriegsgrund konstruiert wird, von wem auch immer", kommentiert Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, Meldungen über angebliche Chemiewaffenfunde in Syrien. Van Aken weiter:
"Drei Punkte sind außerordentlich fragwürdig: Die Vorwürfe beruhen auf Boden- und Blutproben aus Syrien, in denen Chemiewaffen-Agenzien gefunden wurden. Es ist aber völlig unklar, wer diese Proben wann und wo genommen hat und wer auf dem Weg zum Labor die Möglichkeit hatte, sie zu verunreinigen oder zu fälschen. Nur wenn lückenlos dokumentiert werden kann, dass der gesamte Weg der Proben fälschungssicher war, gäbe es überhaupt einen Anfangsverdacht. Aber selbst das Weiße Haus sagt, dass diese 'chain of custody' nicht gesichert ist. Selbst wenn tatsächlich das Nervengas Sarin eingesetzt worden ist, ist völlig offen, wer es eingesetzt hat. Die Behauptung, nur Assad kontrolliere diese Waffen, ist sehr weit hergeholt. Seit der Warnung von US-Präsident Barack Obama vor dem Überschreiten einer 'roten Linie' müssen wir damit rechnen, dass Rebellen alles daransetzen, einen Chemiewaffenangriff vorzutäuschen oder gar selbst auszulösen, um damit einen Kriegseintritt der USA zu provozieren. Spekulationen über den oder die Täter sollten deshalb unterbleiben. Militärisch ergibt der Einsatz kleinster Mengen Sarin punktuell an einem Ort überhaupt keinen Sinn. Eine einzelne Saringranate bringt in einem Gefecht kaum taktische Vorteile, während sie strategisch mit dem großen Risiko behaftet ist, dass die USA militärisch angreifen. Ein Einsatz einzelner Sarinwaffen durch Assads Truppen wäre deshalb im höchsten Maße irrational."
Die Chemiekeule
Obamas rote Linie
Von Werner Pirker ***
Friedensnobelpreisträger Barack Obama hat für den Fall, daß das syrische Militär Chemiewaffen einsetze, einen Krieg in Aussicht gestellt. Indirekt ist seine Kriegsdrohung auch eine versteckte Aufforderung an die bewaffnete Opposition, sich syrischer Chemiewaffen zu bemächtigen, diese im Namen der Regierung anzuwenden und damit eine ausländische Militärintervention zu provozieren.
Es war somit abzusehen, daß sich die syrische Regierungsseite schon bald mit dem Vorwurf konfrontiert sehen würde, chemische Waffen gegen »das eigene Volk« eingesetzt zu haben. Briten und Franzosen, die schon seit geraumer Zeit ihren Finger am Abzug halten, aber auch die Israelis, die sich anfangs aus dem syrischen Konflikt herauszuhalten schienen, versuchen nun, die Obama-Administration davon zu überzeugen, daß die von ihr gezogene rote Linie durch den Einsatz des Giftes Sarin überschritten worden sei. In Washington ist man sich indes noch nicht ganz klar darüber, ob man sich überzeugen lassen soll oder nicht. »Verdacht ist eine Sache, Beweise sind etwas anderes«, wiegelte Verteidigungsminister Hagel vorerst noch ab. Inzwischen will man es mit »unterschiedlichen Graden an Sicherheit« wissen, daß das Gift zur Verwendung gekommen sei. Endgültige Beweise aber meint Washington vorerst noch nicht zur Hand zu haben. Die Bush-Administration gab vor, solche zu besitzen, als sie 2003 den Irak überfallen ließ, wo sich die behaupteten Massenvernichtungswaffen aber in Luft aufgelöst hatten.
Eine ähnliche Blamage wollen Obama und die Seinen offenbar vermeiden. Auch regt der glücklos verlaufene Krieg im Zweistromland nicht unbedingt dazu an, das Kriegsglück nun in der Levante erzwingen zu wollen. Doch ist der mächtigste Mann der Welt in seinen Entscheidungen längst nicht so souverän, wie es auf dem Papier den Anschein hat. Barack Obama mag tatsächlich wenig Neigung dazu verspüren, im syrischen Konflikt militärisch zu intervenieren und sich in der Folge den Iran vorzuknöpfen. Das aber wollen Israel und dessen Fürsprecher unter den US-Eliten. Netanjahus beharrliche Weigerung, dem von Obama geforderten Siedlungsstopp in den Palästinensergebieten auch nur im mindesten nachzukommen, zeigt, wie einflußreich das Bündnis zwischen Neocons und Hardcore-Zionisten auch in der Nach-Bush-Ära ist. Gegen diese Kriegsfraktion wagt Obama nicht zu regieren. Nachdem sich die Netanjahu-Regierung lange Zeit nicht für eine Veränderung der Machtverhältnisse in Syrien zu erwärmen wußte, kann es ihr nun nicht schnell genug gehen, dem angeschlagenen Langzeitgegner den Rest zu geben. Das erhöht die Kriegsgefahr ungemein. Denn nach dem Fall des Baath-Regimes erhofft sich die israelische Führung grünes Licht für einen Angriff auf den Iran.
Die USA werden Israel daran nicht hindern. Ob sie sich aber auch in einen Krieg gegen den Iran hineinziehen lassen, ist noch keineswegs entschieden.
*** Aus: junge Welt, Samstag, 27. April 2013
Zurück zur Syrien-Seite
Zur Chemiewaffen-Seite
Zurück zur Homepage