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Vorwand gesucht

Nach Meldungen über den Einsatz von Giftgas in Syrien: Für das vom Westen angeführte Interventionskartell steht die Regierung Assad als Urheberin fest

Von Karin Leukefeld *

Nachrichten über einen möglichen Giftgaseinsatz in Syrien mit vielen Toten haben innerhalb weniger Tage die Region im östlichen Mittelmeerraum an den Rand einer militärischen Eskalation gebracht. Politiker, Journalisten und Experten in den USA, Europa, Israel und in den Golfstaaten diskutieren über verschiedene Szenarien eines militärischen Eingreifens. Rußland, China, Iran, Irak und die BRICS-Staaten warnen dagegen vor einer militärischen Eskalation. Was sich genau in östlichen Vororten und Satellitenstädten der syrischen Hauptstadt Damaskus ereignet hat, ist weiterhin unklar.

Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen«, die in den Gebieten arbeitet, die von den Aufständischen kontrolliert werden, erklärte, daß in weniger als drei Stunden 3600 Menschen mit »neurotoxischen Symptomen« in drei verschiedenen Krankenhäusern aufgenommen worden seien. Patienten hätten unter Krämpfen, starkem Speichelfluß und Atemnot gelitten. Ihre Pupillen seien stark verengt und der Blick verschwommen gewesen. Alles deute darauf hin, daß sie einem Nervengift ausgesetzt gewesen seien, hieß es auf der Webseite der Organisation. 355 Personen seien nach Angaben der Krankenhausmitarbeiter gestorben.

Ein Sprecher des Oberkommandos der syrischen Armee und Streitkräfte erklärte am Samstag, daß Truppen in dem Vorort Jobar ein Lager mit »Rohstoffen für die Erstellung von chemischen Waffen« gefunden hätten. Es seien Schutzmasken und große Mengen von Medikamenten gefunden worden, die nach dem Einatmen giftiger chemischer Substanzen helfen sollten. Der Fund bestätige, daß »ausländische Kräfte die Terroristen mit allem versorgen, was man für den Einsatz chemischer Waffen brauche«, erklärte der Sprecher.

In einem Interview mit dem libanesischen Nachrichtensender Al-Mayadeen wiederholte der syrische Informationsminister Omran Al-Zoubi, daß Syrien niemals chemische Waffen eingesetzt habe, weder im Umland von Damaskus (Ghouta) noch sonst irgendwo. Satellitenbilder und Augenzeugenberichte belegten dagegen, daß die in Frage kommenden Geschosse von Orten abgefeuert worden seien, die von den Aufständischen kontrolliert würden. Ziele seien Gebiete gewesen, in denen es noch Zivilbevölkerung gebe. Die Aufständischen trügen die volle Verantwortung für diese Angriffe. Die chemischen Substanzen, die die Armee in (dem Damaszener Vorort) Jobar gefunden habe, stammten demnach aus Saudi-Arabien, aus der Türkei und verschiedenen europäischen Ländern. Ebenso die Medikamente, die zum Schutz gegen solche Angriffe dienten. Die syrische Kooperation mit der UN-Mission zur Untersuchung des Einsatzes chemischer Waffen sei transparent und direkt, so Al-Zoubi weiter. Sollten die USA tatsächlich einen Angriff auf Syrien starten, werde das »sehr ernste Auswirkungen haben«, warnte er weiter. »Ein Feuerball wird den Mittleren Osten in Brand setzen«.

Nach einem Treffen von US-Präsident Barack Obama und dessen Sicherheitsteam hieß es in einer knappen Mitteilung am Samstag, die US-Geheimdienste sammelten weiterhin in »Koordination mit internationalen Partnern« Fakten, um einwandfrei festzustellen, was vorgefallen sei.

Die Vereinten Nationen haben sich am Sonntag mit der syrischen Regierung geeinigt, daß das UN-Inspektorenteam Zugang zu den Gebieten östlich von Damaskus erhält, in denen Giftgas eingesetzt worden sein soll. Der Auftrag der UN-Untersuchungsmission in Syrien umfaßt außerdem drei andere Orte, an denen schon früher Waffen mit chemischen Substanzen zum Einsatz gekommen sein sollen.

Bei der Aufklärung der Vorfälle sorgen Videoaufnahmen von »Aktivisten« für Verwirrung, die im Internetportal Youtube veröffentlicht worden waren. Der Sprecher des russischen Außenministeriums, Alexander Lukaschewitsch, sagte, daß einige dieser Aufnahmen veröffentlicht worden seien, bevor die angeblichen Angriffe stattgefunden hätten. Lukaschewitsch verwies auf drei Videos, in denen Kinder gezeigt werden, die chemischen Waffen ausgesetzt worden seien. »Obwohl als Datum des angeblichen Angriffs der 21. August, im Titel angegeben wird, wurden sie auf Youtube bereits am Tag davor, am 20. August, eingestellt«, sagte der Außenamtssprecher.

Die menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Annette Groth, bat am Freitag in einem Schreiben an Bundesaußenminister Guido Westerwelle um Auskunft, ob das Auswärtige Amt die Echtheit der Videos habe verifizieren können. Fernsehsender hatten die Aufnahmen wiederholt ausgestrahlt. Es wäre »erschreckend und skandalös, sollte es sich bei den mutmaßlichen Videos vom Chemiewaffenangriff tatsächlich um eine Fälschung handeln«, erklärte Groth gegenüber jW.

* Aus: junge welt, Montag, 26. August 2013

Pressestimmen: Die Kriegsbefürworter überwiegen

TAGES-ANZEIGER (Zürich):
"Die Rhetorik der Amerikaner, Briten und Franzosen lässt wenig Raum für Zweifel. Es ist einer dieser Momente, in denen es kaum ein Zurück gibt. Der Westen steuert auf eine militärische Intervention gegen Syriens Regime zu. Die Militärs gehen die Optionen durch, und die Politiker müssen das skeptische Publikum auf eine Kehrtwende gegenüber Syrien vorbereiten."


WENHUI BAO (Shanghai):
"Kann der Westen etwa die Niederlage der Opposition und den Sieg Assads nicht vertragen?"
"Obama hat in der Tat längst das Ziel aufgegeben, das Assad-Regime zu stürzen, weil es in Damaskus keine echten oppositionellen Partner gibt. Wenn der US-Präsident jetzt den Militärschlag vollzieht, dann will er bloß der Welt zeigen, dass er zumindest etwas unternommen hat. Obama weiß, dass Syrien kein Libyen ist und die Lage in der Region nach der Intervention schwer kontrollierbar ist."


DE TELEGRAAF (Amsterdam):
"Die internationale Gemeinschaft kann nicht einfach zusehen, wie der Machthunger eines morschen Regimes das Leben Tausender unschuldiger Zivilisten bedroht. Doch das Machtgleichgewicht lässt sich nicht in Richtung Opposition verschieben, indem man dem Regime mal einfach auf die Finger klopft. Die Opposition in diesem zerrissenen Land ist ein Sammelsurium von idealistischen Demokraten und radikalen Muslimen, die nichts anderes im Sinn haben, als Syrien in einen diktatorisch regierten Islamstaat umzuwandeln. Gut und Böse liegen dicht beieinander."


DIE PRESSE (Wien):
"Plötzlich dominiert Hektik das Handeln der politischen Akteure. (...) Die Eskalation treibt die Krisendiplomatie, die auf eine Konfrontation zusteuert. Zu lange haben die 'müden Krieger' Obama und Co. abgewogen und gezaudert, zu lange auf eine Friedenslösung gesetzt. Das rächt sich. Monat für Monat verschiebt sich die überfällige Syrien-Konferenz, ohne Aussicht auf Erfolg scheint die russisch-amerikanische Initiative geplatzt wie eine Seifenblase."


DAILY TELEGRAPH (London):
"Das Wertvollste, was eine Supermacht besitzt, ist ihre Verlässlichkeit. Wenn die führende Nation der Welt eine Drohung ausspricht, eine Garantie abgibt oder auch eine Rote Linie zieht - dann muss sie bereit sein, ihren Willen durchzusetzen. Sonst verliert dieser unschätzbar wertvolle Besitz an Wert, vielleicht für immer. Herr Obama ist ein sehr zögerlicher Krieger."


LE MONDE (Paris):
"Ein Militärschlag gegen Syrien würde eine Grenze ziehen, über die hinaus grundlegende Prinzipien der internationalen Gemeinschaft nicht verletzt werden dürfen. Dieses Verbrechen fordert eine klare und entschlossene Reaktion."


RZECZPOSPOLITA (Warschau):
"Man könnte eine Intervention als NATO-Verteidigungsfall deklarieren - als Reaktion auf die Angriffe auf die Türkei, die es von syrischem Territorium aus gegeben hatte. Auch könnte die Resolution 1674 herangezogen werden, die den UNO-Mitgliedern die Pflicht auferlegt, die Zivilbevölkerung zu schützen, wenn der betroffene Staat hierzu nicht mehr in der Lage ist. In Syrien wäre dies längst der Fall: Es sind durch den Konflikt bislang etwa 100.000 Menschen getötet worden, und über vier Millionen Syrer sind auf der Flucht."


PRAVDA (Bratislava):
"Wo alle anderen Lösungen versagen, erscheint Gewalt als das letzte Mittel. Aber eine Intervention für die einfachste Lösung zu halten ist ein gewaltiger Irrtum. Im Gegenteil: Es ist das schlechtmöglichste Szenario, das eintreten kann. Nach den Erfahrungen mit Afghanistan und dem Irak wissen wir, dass es für die westlichen Großmächte keinerlei Problem ist, ein diktatorisches Regime zu stürzen. Dafür hat der Westen genügend Kapazitäten. Das bedeutet aber noch längst nicht, dass es ihm auch gelingt, in den Ländern Frieden und Stabilität herzustellen."


AL QUDS AL ARRABI (London):
"Ganz sicher wird Russland keinem Militärschlag gegen Assad zustimmen. Unklar ist hingegen, wie es auf einen solchen Angriff reagieren würde. Doch eine militärische Option ist unwahrscheinlich. Denkbar ist, dass Russland die gegen den Iran wegen seines Atomprogramms verhängten Sanktionen des Westens brechen wird. Trotz der jüngsten Ereignisse dürften die USA darum eine politische Lösung des Konflikts bevorzugen. Die Frage ist aber, ob Assad und seine Verbündeten in Teheran, Moskau und in den südlichen Stadtteilen Beiruts noch hoffen, die syrische Revolution aufhalten zu können - ungeachtet der Todeszahlen, der Zerstörung und Vertreibung."


MILLIYET (Istanbul):
"Außenminister Davutoglu sagt, dass sich die Türkei einer Militärintervention anschließen werde, wenn die Vereinten Nationen keine Sanktionen gegen Syrien beschließen. Doch er vergisst etwas. Nicht das Außenministerium entscheidet über eine solche Teilnahme, sondern das Parlament. Zudem existieren solche Kriegs-Koalitionen seit zehn Jahren im Irak und Afghanistan. Außer Blutvergießen ist dort nichts erreicht worden. Obwohl es nicht feststeht, wer in Syrien Chemiewaffen eingesetzt hat, hat die Regierung in Ankara gleich Damaskus zum Schuldigen erklärt. Statt eine Friedenskonferenz zu forcieren, leistet die Türkei einen Beitrag zu noch mehr Blutvergießen. Damit wird sie auch immer mehr in den Krieg hineingezogen - mit all seinen Folgen."

Quelle: Deutschlandfunk, 27.08.2013; www.dradio.de/presseschau/




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