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"Assad ist Teil des Problems"

Neoliberale Politik des Präsidenten hat zum Aufstand in Syrien geführt. Armee soll sich auf Seite des Volkes stellen. Opposition lehnt Sanktionen von EU, USA und UNO ab. Ein Gespräch mit Samir Aita *


Samir Aita ist Chefredakteur von Le ­Monde Diplomatique, arabische Ausgabe. Er stammt aus Damaskus und lebt in Paris.

Zehn Jahre lang haben Sie das syrische Regime in seinem Reformprogramm beraten. Heute sehen Sie sich als Berater des patriotischen syrischen Aufstandes. Sind Sie in der syrischen Oppositionsbewegung organisiert?

Ich glaube, der Begriff »Opposition« ist kein gutes Wort, jedenfalls aus meiner Sicht. Die Frage ist doch, unterstützt man den jungen sozialen Aufstand oder nicht? Es gibt Leute, die sind für den Aufstand, es gibt Leute, die haben Angst. Und es gibt Leute, die sind weiter für das Regime, weil sie davon profitieren. Und auch unter denen, die für den Aufstand sind, gibt es verschiedene Meinungen. Einige haben islamische Neigungen, andere arbeiten eine ausländische Agenda ab. Aber im Kern ist die syrische Gesellschaft patriotisch. Ich sehe mich an der Seite der Patrioten, die diesem Aufstand etwas Perspektive geben wollen.

Seit fünf Monaten hält der Aufstand an, wo steht die Bewegung heute?

Zunächst einmal waren alle überrascht über das, was geschehen ist. Es begann mit einem Ereignis in Deraa, das eigentlich leicht zu lösen gewesen wäre und gut hätte genutzt werden können, um sich dem »Arabischen Frühling« anzuschließen. Doch es wurde eine Konfrontation daraus, zwischen der Bevölkerung und dem Machtapparat. Wären im Februar freie Wahlen in Syrien gewesen, Präsident Baschar Al-Assad hätte vielleicht 70 Prozent der Stimmen bekommen. Wären heute Wahlen, würde er vielleicht noch zehn Prozent der Stimmen bekommen, das ist ein riesiger Wandel. Die Dynamik der Ereignisse wurde einerseits von der syrischen Bevölkerung bestimmt, vor allem auch von der Jugend. Andererseits hat das syrische Regime viel dazu beigetragen. Es gibt da diesen Witz, wonach nicht nur die Leute den Sturz des Regimes wollen, auch das Regime will den eigenen Sturz. Es hat alle Fehler und Dummheiten begangen, die zu begehen waren. Heute sind wir an einem Wendepunkt. Das Regime, der Machtapparat hat die gesamte Gesellschaft, das ganze Land als Geisel genommen, um sich zu beweisen, und das ist unakzeptabel. Aber es ist auch eine gefährliche Entwicklung, denn es hat Haß zwischen den Menschen hervorgebracht. Und, um ehrlich zu sein, ein Teil der Verantwortung liegt auch bei Teilen der sogenannten Opposition. Einige sagen, sie seien für den Aufstand, aber sie verfolgen konfessionelle Ziele, und damit will ich nichts zu tun haben.

Sind die Sanktionsmaßnahmen von EU, USA und vom UN-Sicherheitsrat sinnvoll?

Einige der ausländischen Regierungen, auch die der USA, sprechen über Sanktionen, aber ich frage sie: habt ihr nichts aus der irakischen Erfahrung gelernt? 13 Jahre Sanktionen – und was war das Ergebnis? Wurde das Regime gestürzt? Nein, die Gesellschaft wurde zerstört. Das ist der falsche Weg. Die Syrer wollen keine ausländische Einmischung, sie wollen auch keine Einmischung des UN-Sicherheitsrates, weil sie wissen, selbst wenn ein Text sich ganz milde ausdrückt, wird er von diesen Staaten interpretiert wie in Libyen. Niemand darf den Charakter dieses Aufstandes zerstören. Die Menschen sind sehr mutig, und sie sind bereit, für ihre Freiheit einen hohen Preis zu zahlen. Diese Freiheit gehört ihnen, das müssen wir verteidigen.

So manch einer fragt sich, ob Präsident Assad wirklich ein Mann der Reformen ist oder ob er nicht vielmehr die militärische Lösung will. Regiert er das Land, bestimmt er das Vorgehen?

Ich weiß nicht, was innerhalb der Familie, im inneren Kreis geschieht, aber sicher ist, daß seine Politik der vergangenen elf Jahre schlecht war. Sie hat zu dem Aufstand geführt, denn es war eine neoliberale Politik. Während meiner Beraterzeit für die syrische Regierung habe ich einmal der damaligen Arbeitsministerin gesagt, die Regierung mache eine schlimmere und noch neoliberalere Politik als US-Präsident George W. Bush. Die Ministerin war von der Baath-Partei und setzte um, was der Präsident anordnete. Ihre sozialistischen Überzeugungen, sollte die Partei diese gehabt haben, spielten keine Rolle. Ich denke, Assad trägt die volle Verantwortung für das was geschieht. Er ist nicht Teil der Lösung, er ist Teil des Problems. Er ist nicht nur verantwortlich für die Verbrechen und das Töten, er trägt auch die Verantwortung dafür, daß Syrien ein schwaches Land geworden ist und alle Nachbarstaaten mit ihm jetzt herumspielen. So jedenfalls kann man Syrien nicht regieren.

Die Armee genießt trotz ihres Einsatzes hohes Ansehen in Syrien ...

Wichtig ist, daß sie als Einheit bestehen bleibt. Wir warten allerdings auf den Augenblick, in dem auch die Armee »Nein« sagt und sich an die Seite des Volkes stellt.

Nun wird die Armee selbst angegriffen. Von wem? Gibt es Gruppen, die den Aufstand für ein anderes Ziel nutzen? Gibt es bewaffnete Gruppen, die gegen die Armee kämpfen?

Es gibt verschiedene Strömungen in dem Aufstand. Es gibt Gegenden – nicht im Hauran, wo alles begann – wo wir konfessionell agierende Leute haben. Und es gibt die historischen Probleme wie in Hama oder Dschisr Al-Schugur. Dort gibt es Haß, und wenn sie Druck bekommen, greifen sie zu den Waffen. Um der Wirklichkeit Genüge zu tun, muß ich sagen, ja, es gibt bewaffnete Gruppen. Aber es sind nur wenige und nur vereinzelt. Natürlich gibt es andere Seiten, die Syrien in konfessionelle Kämpfe verwickeln wollen. Zum Beispiel die Bewegung des 14. März im Libanon. Es gibt Beweise, daß Leute von ihnen Waffen nach Syrien geschmuggelt haben. Auch in der Gegend um Tal Kalach haben die Leute zu den Waffen gegriffen. Nahe der türkischen Grenze gibt es einige Leute, die aus der Türkei Waffen nach Syrien gebracht haben, und auch nahe der irakisch-syrischen Grenze gibt es Waffen. Das alles kann aber auf keinen Fall das harte Vorgehen gegen die Leute auf den Straßen rechtfertigen. 99 Prozent der Leute, die sich am Aufstand beteiligen, sind mutig, gewaltfrei und haben auch noch Humor. Doch je mehr sich die Lage verschlechtert, umso mehr steigen die Spannungen. Ohne einen Lösungsvorschlag wird sich das Ganze in ein Chaos verwandeln. Noch ist die syrische Gesellschaft stark und läßt das nicht zu. Aber wenn die Europäer und die USA ihre Sanktionen verschärfen, werden die Leute in Armut gestürzt. Wenn die Lage sich weiter verschlechtert, könnte sie irgendwann ganz außer Kontrolle geraten.

US-Außenministerin Hillary Clinton hat für den Aufstand in Syrien Hilfe und Unterstützung zugesagt. Freuen Sie sich darüber?

Wir wissen, was die USA in der Region wollen, die Vorherrschaft. Wir wollen dagegen normale Beziehungen von Land zu Land. Ansonsten sollen sie uns in Ruhe lassen. Falls sie aber mit uns spielen wollen, werden sie ein blaues Wunder erleben. Wir sind ein komplexes Land, wir sind eine starke Gesellschaft. Keine Gesellschaft der Welt hätte das ausgehalten, was die syrische Gesellschaft in den vergangenen zehn Jahren durchgemacht hat. Wir haben 1,5 Millionen Iraker in zwei Jahren aufgenommen. Umgerechnet auf Deutschland wären das sechs Millionen Menschen, das hätte die deutsche Gesellschaft nicht mitgemacht. Wir haben es gemacht. Ohne internationale und staatliche Hilfe. Syrien hat ein Gesetz, wonach jeder Araber, der ins Land kommt, freien Zugang zur Schule und zur Gesundheitsversorgung hat. Das haben wir durchgehalten. Tunesien hat mitten in seiner Revolution 450000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, sie hatten keine funktionierenden staatlichen Institutionen und haben diesen Menschen ohne ein Wort der Klage geholfen. Aber als 10000 Flüchtlinge über Italien nach Frankreich wollten, gab es einen Aufschrei unter den 450 Millionen Europäern, und sie dachten darüber nach, das Schengen-Abkommen zu ändern. Auf den zwei Seiten des Mittelmeeres gibt es eine sehr unterschiedliche Vorstellung von Menschlichkeit.

Es gab ein Oppositionstreffen in Doha (Katar) Ende Juli, gab es Ergebnisse? Wie geht es weiter?

Das Ende des Arabischen Frühlings darf nicht so aussehen, daß die despotischen Königreiche [am Golf – d. Red.] eine Koalition mit den westlichen Mächten eingehen und die Veränderungen in den Staaten im Umbruch bestimmen. Und in der Phase des Übergangs sind die Staaten schwach. Das Gute an dem Treffen in Doha war, daß wir zum ersten Mal seit Beginn des Aufstandes Leute aus dem Land selber treffen konnten. Ich glaube, das Doha-Treffen war besser, als die Treffen in Antalya oder in Istanbul. Das Doha-Treffen hat klare Vorgaben ausgearbeitet, wie ein republikanischer sozialer Vertrag umgesetzt werden kann, ein gutes Ergebnis, mit dem wir weiter arbeiten werden.

Wurden bei dem Treffen von Syrern am Wochenende in Berlin ähnliche Veränderungen besprochen?

Nein, in Berlin ging es mehr darum, als patriotische Koordinierung präsent zu sein. Wir müssen uns treffen, um Meinungen auszutauschen und um zu diskutieren. Wir müssen Vorschläge machen und die Meinung aller hören. So können wir Hoffnung geben.

Interview: Karin Leukefeld

* Aus: junge Welt, 17. August 2011


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