In den Straßen Sowetos
Wo der Widerstand begann: Johannesburgs geschichtsträchtige Townships heute. Für die Ärmsten der Armen heißt der Alltag "Struggle"
Von Christian Selz, Johannesburg *
Spätestens seit dem Schüleraufstand vom 16. Juni 1976 ist Südafrikas
größtes Township Soweto auch international zum Sinnbild der
Zwangssiedlungen für Schwarze geworden. Der Ort steht stereotyp für den
häufig romantisierten Mix aus Armut, Jazzkultur und dem Widerstand gegen
die Apartheid. 16 Jahre nach den ersten freien Wahlen des Landes hat
sich die gigantische Siedlung, die 1,3 Millionen Menschen beherbergt,
stark verändert. Doch der »Struggle«, wie die Menschen hier den Kampf
für Gerechtigkeit nennen, ist noch lange nicht vorbei.
Wer von Johannesburgs Innenstadt nach Soweto fährt, ist zunächst
überrascht. Die in den meisten Townships Südafrikas nach wie vor
allgegenwärtigen Blechhütten fallen hier anfangs kaum ins Auge. Die
Straßen sind akkurat geteert, viele sogar durch Bürgersteige gesäumt,
hinter kleinen Betonzäunen stehen einfache, aber stabile Häuschen.
Etliche Familien haben ihr Heim ausgebaut und vergrößert. Teile von
Soweto, wie beispielsweise Diepkloof Extension, sind zu reinen
Villenvierteln geworden. Einkaufszentren, Bars und Restaurants sprießen
wie Pilze aus dem Boden, sogar das Stadion für das Fußball-WM-Finale
steht in Soweto.
Fast scheint es, als sei der so geschichtsträchtige Ort, der seit 2002
ein Stadtteil von Johannesburg ist, angekommen in der freien Zukunft,
die sich die Schüler 1976 gewünscht hatten. Damals demonstrierten
Tausende Kinder und Jugendliche gegen Afrikaans. Zukünftig sollte, so
die Regierungsdirektive, in der Sprache der burischen Kolonialisten, und
nicht mehr in englisch, unterrichtet werden. Ihr zunächst friedlicher
Aufstand wurde von der Polizei niedergeknüppelt, Schußwaffen wurden
eingesetzt, Hunderte junge Menschen starben im Kugelhagel - ein Fanal
der weißen Herrschaft.
Schwarzes Selbstbewußtsein
Der Protest wurde zum Beginn einer Renaissance des Widerstands gegen das
rassistische Regime. Die Black-Consciousness-Bewegung hatte den
Schwarzen neues Selbstbewußtsein gegeben und war auch nach der Ermordung
ihres Anführers Steve Biko durch die Polizei 1977 nicht mehr
aufzuhalten. 1994 waren die South Western Townships - Soweto ist
keinesfalls ein klangvoller afrikanischer Name, sondern eine schlichte
Abkürzung aus den Zeiten der Apartheid-Städteplanung - frei wie der Rest
des Landes. Der Fortschritt in Soweto ist nicht zuletzt Ausdruck dieser
Freiheit. Schwarze haben heute Zugang zu höherer Bildung und besseren
Jobs, die Chancen sind gestiegen.
Doch die glänzende Fassade ist nur das eine Gesicht des neuen Soweto.
»Auf der anderen Seite sind die Hüttensiedlungen angewachsen, die
extreme Armut ist heute deutlich sichtbarer«, sagt Claire Ceruti,
Forscherin am Zentrum für Soziologische Recherchen an der Universität
Johannesburg (CSR). Ihr Direktor am CSR, Peter Alexander, pflichtet ihr
bei: »Wenn man als Tourist das erste Mal nach Soweto kommt, bemerkt man
die Armut nicht. Man sieht viele neue Bauprojekte, und es scheint, als
wäre es ein sehr dynamischer Teil der südafrikanischen Gesellschaft.
Doch wenn man genauer hinschaut, wenn man in die Häuser der Leute oder
in die Hüttensiedlungen abseits der Touristenrouten geht, findet man
enorme Armut.«
Die Arbeitslosigkeit in Soweto liegt aktuell bei offiziell knapp 50
Prozent - die kleinen Straßenhändler, die sich mit dem Verkauf von etwas
Obst und Süßigkeiten über Wasser halten, sind da noch nicht einmal
eingerechnet. Lediglich 23,7 Prozent der Bevölkerung haben einen mehr
oder minder festen Arbeitsplatz. Viele Menschen in Soweto müssen immer
noch um die notwendigsten Güter des alltäglichen Lebens kämpfen: Strom,
Wasser und Lebensmittel.
»Wasser ist Leben - Hört auf, es zu verkaufen«, steht in englischer
Sprache auf einer kargen Mauer in Phiri, einem Teil von Soweto. Jabulani
Molobela ist einer von denen, die hinter den Parolen stehen und die den
neuen »Struggle« aufgenommen haben. Der heute Vierzigjährige wurde 1976
eingeschult. »Soweto hat damals gebrannt«, erinnert er sich an sein
erstes Schuljahr. Später schloß er sich dem Congress of South African
Students an, der Schülerorganisation der Unterdrückten. Nachdem diese
1985 verboten worden war, wurde auch Molobela 1987 ohne Verfahren ins
Gefängnis gesteckt.
Die Schule brach er schließlich in der zwölften Klasse ab, ein Schritt
den er heute zutiefst bereut. Doch er hatte keine Wahl: »Wir waren
Soldaten des 'Struggles'«. Einmal, erzählt Molobela, und seine Augen
funkeln, hätte er sich mit seinen Comrades wütend vor einem der
gepanzerten Truppentransporter aufgebaut, lediglich eine Avocado in der
Hand. Der Plan ging auf: In der Angst, daß da gerade eine Handgranate
zwischen ihren Füßen gelandet sei, sprangen die Polizisten heraus. Doch
nicht immer lief der Kampf so glücklich, ein Stück Schrot aus einem
Polizei-Gewehr steckt noch immer in Molobelas Augenbraue - als
Erinnerung an eine bewegte Zeit.
Erste Enttäuschungen
Als die inzwischen regierende Befreiungsbewegung ANC (Afrikanischer
Nationalkongreß), für die er so lange gekämpft hatte, 1996 ihr
marktliberales GEAR-Entwicklungsprogramm (Wachstum, Beschäftigung,
Umverteilung) auflegte, brach Molobela mit ihr. Der Groll sitzt noch
immer tief. »Thabo Mbeki hat niemals den Schmerz gespürt, er wurde
niemals von den weißen Buren zusammengeschlagen«, schimpft er auf den
Expräsidenten, der hinter dem Konzept stand und die Zeit des Kampfes im
Exil verbracht hatte.
Heute ist Molobela Aktivist beim Soweto Electricity Crisis Committee
(SECC), einer Nichtregierungsorganisation, die Mitglied im
Antiprivatisierungsforum (APF) Südafrikas ist und sich für freien Zugang
zu Wasser und Elektrizität für die arme Bevölkerung einsetzt. Im Rahmen
des Programms Egoli 2000 hat Johannesburg zur Jahrtausendwende die
Wasser- und Stromversorgung teilprivatisiert. Die Folgen für die Armen
waren absehbar. Gerade einmal sechs Kubikmeter Wasser monatlich stand
einem Haushalt in Soweto bis vor kurzem als kostenlose Grundversorgung
zu. Bei durchschnittlich acht Personen pro Haushalt, sind das 25 Liter
pro Kopf und Tag - etwas mehr als zwei Toilettenspülungen.
Nachdem sich eine Frau aus Phiri das Genick brach, als sie einen
20-Liter-Kanister Wasser auf ihrem Kopf von einem
Gemeinschaftswasserhahn im nächsten Straßenzug nach Hause tragen wollte,
weil dort die Versorgung unterbrochen worden war, klagten die Bewohner
des Viertels gegen den Wasserkonzern Johannesburg Water. Sie bekamen
recht und haben nun Anspruch auf zehn Kubikmetern - der
durchschnittliche Verbrauch eines Haushalts in Soweto liegt nach
Greenpeace-Zahlen von 2004 bei 14 Kubikmetern. Ist das Guthaben
aufgebraucht, sitzen die Familien buchstäblich auf dem Trockenen.
Und im Dunkeln. Bei der Elektrizität reicht die frei zugängliche Menge
sogar noch weniger lang. 50 Kilowatt gibt es pro Monat und Haushalt -
damit könnte man zwei bis drei Glühbirnen die ganze Zeit durchbrennen
lassen. Für einen Kühlschrank reicht der Strom allerdings schon nicht
mehr. Und die Kosten für Energie steigen. Anfang des Jahres hat die
Regierung dem halbstaatlichen Strommonopolisten Eskom einen Preisanstieg
von jeweils 25 Prozent für die nächsten drei Jahre bewilligt.
Pragmatisches Handeln
Molobela und seine Genossen haben nach Jahren der Verhandlungen,
Protestmärsche und nicht erfüllter Mindestforderungen deswegen
inzwischen einen pragmatischeren Weg der Problemlösung gewählt. Sie
überbrücken die abgeklemmten Wasser- und Stromleitungen: »Eskom wollte
die Situation der Menschen hier nicht verstehen. Sie haben sie einfach
abgeklemmt, also mußten wir sie wieder anschließen.« Am Stromkasten vor
seinem Haus zeigt Molobela, wie das geht. Er weiß genau, welches Kabel
wo angezapft werden kann, welche Teile er beschaffen muß, wenn die
Mitarbeiter des Stromkonzerns mal wieder einen Haushalt lahmgelegt haben.«
Inzwischen gebe es unzählige entsprechend ausgebildete Aktivisten, die
Sache hat sich verselbstständigt. Sie liefern sich ein regelrechtes
Katz- und Maus-Spiel mit den Strom- und Wasserkonzernen. In seiner
Straße verfüge nur noch ein einziges Haus über einen intakten
Wasserzähler, erzählt Molobela - und das gehört dem Unternehmer, der die
Geräte im Auftrag von Johannesburg Water installieren sollte. »Die
sagen: Nothing for mahala - Nichts für umsonst«, empört sich Molobela,
»doch wir sagen: Das Wasser kommt von Gott, wer hat also das Recht, es
zu verkaufen?« Er verstehe schon, daß jemand für die Aufbereitung und
den Transport bezahlen müsse, aber das sei Aufgabe der Regierung-
zumindest, was die Ärmsten betrifft.
Auch Jeanett Matlhaela hat sich gewehrt. Daraufhin wurde ihr Haus von
der Versorgung genommen, sie sollte nur noch Wasser aus einem Hahn an
der Straße bekommen. Nun muß die gebrechliche alte Frau das kostbare Naß
in Eimern hereinschleppen. Der Strom wird immer mal wieder abgeklemmt,
momentan läuft er allerdings. »Wir sollen ja den Ball rollen sehen«,
sagt Matlhaela mit leicht ironischem Unterton unter Hinweis auf die
nahende Fußball-WM. Als wenn sie keine anderen Probleme hätte. Zusammen
mit ihrer Tochter und deren fünf Kindern lebt sie in dem kleinen
Drei-Zimmer-Haus in Phiri. Im Hof hinter dem Haus bauen sie ein wenig
Gemüse an, zusammen mit der Rente und dem Kindergeld reicht das gerade
so zum Überleben. Vor dem Haus liegt die Erde brach, zu viel Grün könnte
die Kontrolleure des Wasserkonzerns aufmerksam werden lassen.
Phiris Bürgermeister Vusimuzi Mchunu vom ANC ist sich des Problems zwar
bewußt, spielt es aber herunter. Mit dem Schicksal von Großmutter
Matlhaela konfrontiert, sagt er nur: »Es sollte eine Lösung geben, aber
ich habe momentan keine.« Ein Stadtratsmitglied, das noch von der
vorhergegangenen Sitzung im Raum geblieben ist, springt ihm sofort zur
Seite. Die Leute würden sich hinter ihren Großmüttern verstecken, um
Leistungen zu erschleichen. Die wirklich von Armut Betroffenen seien nur
»ein Tropfen im Wasser«. Mchunu fügt hinzu, daß Menschen mit Fernseher
und Kühlschrank für ihn nicht arm seien. Der stämmige Mann verweist
lieber auf das Essensprogramm an Schulen, das sein ANC gestartet habe,
und die Zuschüsse für Familien, die sich die Schulgebühren nicht leisten
könnten. Fazit: Alles Einzelfälle, wir tun genug.
Globaler Zusammenhang
Molobela hat für diese Argumentation nur ein müdes Lächeln übrig. Und er
weiß, woher der Wind weht. Die Aktivisten der SECC sind eng vernetzt mit
dem Antiprivatisierungsforum. Bei ihrem Kampf um die Grundversorgung
geht es nicht nur um Alltagsbedürfnisse, sondern um politische Fragen.
So halten die ebenfalls im APF organisierten Gruppen Keep Left und
Socialist Group alljährlich einen Marxismus-Tag in Soweto ab, wo
ideologische Fragen debattiert werden - auch, um die globalen
Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren. Molobela beschreibt es
praktisch: »Die meisten Leute hier bezahlen nicht für Strom und Wasser,
also kümmern sie sich auch nicht um die Preissteigerungen. Aber die
Unternehmen arbeiten natürlich weiter an Strategien. Deswegen brauchen
wir den APF-Überbau, damit unser Kampf in die richtige Richtung geht.«
In Orange Farm
Wie wichtig dieser Rahmen ist, zeigt sich gute 45 Autominuten südöstlich
von Soweto im Township Orange Farm deutlich schärfer. Der slumartige
Wohnort entstand 1989 als Arbeitersiedlung für Industriebetriebe und
Minen im Süden Johannesburgs. Hier gibt es noch nicht einmal eine
Kanalisation, obwohl sie seit zehn Jahren versprochen wird. Im
vergangenen Jahr wurde das Kanalisationsprojekt der Stadt erneut
gestoppt, 57 der 64 Arbeiter wurden entlassen.
In einer Blechbarracke sitzen acht Männer zusammen, einstige Arbeiter
der Manganfabrik SAMANCOR, einer Tochter der britischen BHP Billiton.
Sie wirken erschöpft und hoffnungslos. Seit Jahren kämpfen sie um
Entschädigung für die Manganvergiftungen, die sie und ihre Angehörigen
in der Fabrik erlitten haben. Als der Konzern von der Erkrankung erfuhr,
hatte er die Männer entlassen. Es muß für sie wie Hohn geklungen haben,
als öffentlich wurde, daß BHP Billiton einen Spezialvertrag mit dem
Stromversorger Eskom hat, nach dem der Strompreis etwa hundertmal
niedriger ist als der Tarif für Privatverbraucher. Er liegt damit sogar
unter dem Bereitstellungspreis. Immer, wenn die Arbeiter nun das Licht
anschalten, subventionieren sie damit die Firma, die sie krank gemacht hat.
»Es scheint, als seien wir der vergessene Teil dieser Stadt«, sagt Sam
Makgoka vom Wasserkrisenkomitee, Vorsitzender im Orange Farm Water
Crisis Committee und aktiver Mitarbeiter im Itsoseng-Projekt. Itsoseng
heißt »Wach auf« und ist ein Beleg dafür, daß die Menschen in Orange
Farm den Kampf um Gerechtigkeit niemals aufgeben werden. Gladys Mokolo
startete das Projekt gemeinsam mit anderen 1997 aus der Arbeitslosigkeit
heraus. Anfangs versuchten sie, im verwilderten Buschland auf dem
Gelände einer staatlichen Schule mit Gemüseanbau ein Auskommen zu
verdienen, doch nachdem sie das Gelände urbar gemacht hatten, mußten sie
es wieder räumen. Zudem ist der Anbau auf der geringen Fläche wenig
effizient - auch weil die gespendete Saat genetisch manipuliert war,
neue Zöglinge lassen sich aus der Vorjahresernte nicht ziehen.
Projekt Kindergarten
»Die Probleme türmen sich auf«, sagt Kaizer Sebidi, ebenfalls im Projekt
aktiv. Die Menschen in Orange Farm seien nicht über die sterile Gensaat
informiert worden, das Itsoseng-Projekt leiste deswegen nun
Aufklärungsarbeit, doch sei es schwer, überhaupt noch an reproduzierbare
Saat zu kommen. Es gebe inzwischen nur noch einen kleinen Garten, dafür
aber ein Müll-Recycling-Projekt und einen Kindergarten mit Vorschule für
die Menschen im Township. 85 Kinder werden hier betreut und
unterrichtet, vier Erzieherinnen und eine Köchin haben so Arbeit gefunden.
Doch dort, wo ein »Golden Highway« die ärmsten Siedlungen Johannesburgs
mit der reichsten Wirtschaftsmetropole des Kontinents verbindet,
geschieht Unglaubliches - die Geschichte des Kindergartens, der
eigentlich ein Vorzeigeprojekt ist, erzählt davon. Weil das Gesetz für
die Vergabe von Kindergartenlizenzen fließendes Wasser und Toiletten mit
Spülung verlangt, beides aber trotz ewiger Versprechungen der
Stadtoberen noch nicht angeschlossen ist, droht der Einrichtung
inzwischen die Zwangsschließung.
»Das sind die Frustrationen, mit denen wir leben, mein Junge«, sagt
Mokolo mit einem Schulterzucken. Wer die kämpferische Frau trifft, weiß,
daß sie deswegen nicht klein beigibt. Der Wasser- und Stromüberbrücker
Molobela trifft den Nagel auf den Kopf: »Ich glaube, wir haben noch
nicht erreicht, wofür wir gekämpft haben. Der 'Struggle' geht weiter.«
Für den Itsoseng-Kindergarten bittet Gladys Mokolo dringend um
Unterstützung jeglicher Art. Sie ist zu erreichen unter 0027-11-8503477
oder itsosen
* Aus: junge Welt, 10. April 2010
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