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"Der Zustand der Kinder bleibt extrem schlimm"

Tankred Stöbe über die Hungerkrise in Somalia


Das Ausmaß der Hungerskatastrophe in Somalia nimmt nicht ab. Die UNO warnte dieser Tage ein weiteres Mal vor den bitteren Konsequenzen der schlimmsten Dürre in 60 Jahren am Horn Afrikas, wo mehr als zwölf Millionen hungern. Dr. Tankred Stöbe, Vorstandsvorsitzender von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, baut seit einigen Tagen eine Klinik mit Intensivstation für schwer mangelernährte Kinder in Somalias Hauptstadt Mogadischu auf. Mit dem Spezialisten für Innere Medizin sprach für "Neues Deutschland" (ND) Kristin Palitza.

ND: Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschen in Mogadischu beschreiben?

Stöbe: Wir sind besonders besorgt über die vielen Vertriebenenlager in der Stadt. Menschengruppen, die ganze Dörfer ausmachen, haben sich in den Ruinen Mogadischus niedergelassen. Ärzte ohne Grenzen sendet jeden Tag mobile Teams in die Lager, um die am meisten gefährdeten Kinder in unsere Klinik zu bringen.

Erhalten die Menschen ausreichende Nahrungsmittelhilfe?

Der Flughafen in Mogadischu ist gut erreichbar. Aber es geht nicht nur darum, Lebensmittel ins Land zu bringen, sondern die Gesundheitsinfrastruktur, die während des langen Bürgerkrieges zerstört wurde, wieder aufzubauen. Schwer unterernährte Kinder brauchen keine Lebensmittel, sondern komplette medizinische Versorgung.

Hilfsgüter kommen ins Land. Der Flüchtlingsstrom nach Kenia nimmt langsam ab. Neigt sich die Katastrophe dem Ende zu?

Man kann überhaupt keine Entwarnung geben. Der Zustand der Kinder bleibt extrem schlimm. Krankenhausbetten sind schneller voll als wir Patienten entlassen können. Es gibt so viel Not, wir sind am Ende unserer Kapazitäten und müssen auswählen, wer unsere Hilfe am Nötigsten braucht.

Herrscht noch immer Angst vor Übergriffen von Seiten der militant-islamischen Gruppe Al-Shabab in Mogadischu?

Mogadischu ist keine sichere Stadt, in der man sich frei bewegen kann. Wir minimieren unsere Bewegungen außerhalb der Klinik auf das Notwendigste, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Wir sind besorgt, dass die momentan relativ ruhige Lage nicht anhalten wird.

Glauben Sie, ihr Team ist sicher dort?

Wir hoffen, dass unsere Arbeit und unsere Prinzipien anerkannt werden, wie unsere politische Unhabhängigkeit. Ärzte ohne Grenzen sind schon viele Jahre in Somalia tätig. Die Organisation genießt Respekt. Aber das kann sich jeden Moment ändern.

Erreicht Ärzte ohne Grenzen Hungernde im Süden des Landes?

Außerhalb von Mogadischu können wir in Somalia nicht wie nötig tätig sein, obwohl die Not dort am Größten ist. Zwar hat Ärzte ohne Grenzen im Süden Somalias rund acht Kliniken, aber wir können diese Aktivitäten aus Sicherheitsgründen nicht ausdehnen. Die Al-Shabab-Milizen sind nicht bereit, uns gewisse Versicherungen zu geben.

Sie helfen, eine Intensivstation aufzubauen. Heißt das, der Gesundheitsstand hungernder Kinder hat sich in den letzten Wochen verschlimmert?

Die hygienischen Zustände sind katastrophal. Aufgrund mangelnder Ausstattung haben wir viele kleine Patienten, bei denen wir keine medizinische Sicherheit bekommen, woran sie leiden. Die neue Intensivstation hat zehn Betten mit besserer Versorgung, aber trotzdem nicht die Qualität, die nötig wäre, um Leben zu retten. Es ist daher wichtig, dass wir Wege finden, dass Kinder früher zu uns kommen. Jede Minute zählt. Etwa zehn Prozent aller Kinder in Mogadischu sind schwer unterernährt, mit sehr hohem Sterberisiko.

Packen Sie als Vorstandsvorsitzender immer so praktisch mit an?

Das sollte ich eigentlich nicht. Aber ich versuche, einmal im Jahr in Krisenregionen zu gehen und mitzuhelfen. Letztes Jahr war ich während der Überschwemmungen in Pakistan im Einsatz.

Aufgrund der Dürre ist die Nahrungsmittelproduktion in Somalia so gut wie zum Stillstand gekommen. Wie lange wird die Krise noch anhalten?

Ich habe eine vertriebene somalische Großmutter mit zehn Kindern gefragt, ob sie in ihr Dorf zurückkehren wolle. Ihre Antwort: Erst wenn Regen gefallen ist. Man hofft, dass im Oktober wieder Regenfälle einsetzen, aber selbst dann gäbe es die erste Ernte erst im Januar.

Kann das Leid der Menschen überhaupt ohne politische Lösung ein Ende finden?

Ich hoffe, dass sich die internationale Gemeinschaft stärker politisch um das Land bemühen wird, habe daran aber Zweifel. Wenn die akute Hungerskrise vorbei ist, wird sich die Welt wieder von Somalia abwenden. Ich mache mir Sorgen, dass sich auf lange Sicht nichts ändern wird.

* Aus: Neues Deutschland, 5. September 2011


Somalia: Nun bereits sechs Hungergebiete

UNO warnt vor weiterer Verschärfung der Krise **

Die Vereinten Nationen haben am Montag eine weitere Region Somalias offiziell zum Hungergebiet erklärt. Die Todesrate in der Region Bay habe die kritische Schwelle überschritten, teilte die Welternährungsorganisation FAO in Kenias Hauptstadt Nairobi mit. Damit herrscht nun in sechs Gebieten des ostafrikanischen Landes offiziell eine Hungersnot. Dazu gehört auch die Hauptstadt Mogadischu. Insgesamt drohen laut UN 750 000 Somalier in naher Zukunft zu verhungern. Vier Millionen Menschen seien dringend auf Lebensmittelhilfen angewiesen, um zu überleben.

Gleichzeitig warnte die UNO, dass sich die Hungerkatastrophe noch weiter ausbreiten kann. Immer weniger Somalier könnten sich die noch vorhandenen Lebensmittel leisten, hieß es in einem Bericht der auf Ernährungssicherheit spezialisierten Abteilung der FAO. In drei weiteren Regionen des ostafrikanischen Landes herrsche zwar noch nicht überall Hunger, doch ein zunehmender Teil der Bevölkerung sei bereits schwerst unterernährt. Die Wissenschaftler erklären eine Gegend zum Hungergebiet, wenn täglich mehr als zwei von 10 000 erwachsenen Einwohnern verhungern.

Die Ernährungskrise am Horn von Afrika wird sich nach Einschätzung der Hilfsorganisation Care weiter zuspitzen. Bis Jahresende werde sich die Zahl der Flüchtlinge im kenianischen Lager Dadaab auf rund 550 000 Menschen erhöhen, erklärte der Vorsitzende von Care Deutschland-Luxemburg, Heribert Scharrenbroich, am Montag in Berlin. Zur Linderung der durch eine verheerende Dürre ausgelösten Hungersnot müsse die Staatengemeinschaft der UNO auch die restlichen 40 Prozent der erbetenen 2,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellen. Derzeit leben in dem weltweit größten Flüchtlingslager den Angaben zufolge bereits etwa 460 000 Menschen. Der Zustrom aus dem Bürgerkriegsland Somalia war in den vergangenen Monaten stetig angestiegen. Der stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Michael Brand, regte zusammen mit Care eine Expertenanhörung an. Deutschland müsse Vorsorge dafür treffen, dass die vor zwei Wochen von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten 118 Millionen Euro an Nothilfemittel nicht ausreichen, sagte der CDU-Politiker. Für 2012 bedürfe es daher einer entsprechenden Vorsorge.

In Ostafrika sind zurzeit mehr als zwölf Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen.

** Aus: Neues Deutschland, 6. September 2011


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