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Es lebe die Pipeline

Wladimir Putin hat Russlands Entscheidung bekanntgegeben, die Erdgasleitung "South Stream" nicht zu bauen. Journalisten nennen das eine "persönliche Niederlage" des Präsidenten

Von Knut Mellenthin *

Die Pipeline ist tot? Vielleicht haben die Medienvertreter wieder einmal zu früh gelacht. Der Sachverhalt ist nicht nur komplizierter, sondern auch ergebnisoffener, als er im Westen gemeinhin dargestellt wird. Das wird schon aus dem genauen Wortlaut von Wladimir Putins Äußerungen deutlich: »Unter den jetzigen Umständen« könne Russland das Projekt nicht fortführen. Aber die mit dem Bau beauftragte Gesellschaft sei »bereit, heute noch mit der Arbeit zu beginnen, und alles ist dafür vorbereitet«. Zugleich kündigte Putin den Bau einer anderen Pipeline an, die nicht nur die Versorgung der Türkei mit Erdgas verbessern soll, sondern eine ähnliche Bestimmung hat wie die angeblich aufgegebene South-Stream-Leitung.

South Stream versus Nabucco

Zur Erinnerung: Mit diesem Projekt reagierte Moskau im Sommer 2007 auf die fünf Jahre früher in Angriff genommene Planung westlicher Konzerne und Regierungen, Erdgas aus mehreren Nachfolgestaaten der Sowjetunion unter Umgehung Russlands nach Europa zu leiten. Der Name der Pipeline sollte »Nabucco« sein. Sie sollte von Aserbaidschan aus quer durch den Kaukasus in die Türkei führen und dann weiter nach Griechenland. Dort war beabsichtigt, sie in zwei sich teilenden Strängen weiterzuführen: zum einen nach Italien, zum anderen bis zum österreichischen Baumgarten, wo eine große Verteilerstation entstehen sollte. Da Aserbaidschans Förderung allein das Projekt nicht rentabel gemacht hätte, war geplant, Gas aus Turkmenistan und vielleicht auch aus Kasachstan durch eine unter dem Kaspischen Meer verlegte Pipeline zuzuführen.

Im Juni 2013 wurde das offizielle Aus für Nabucco verkündet. Nachdem die Versuche fehlgeschlagen waren, neben Aserbaidschan weitere Lieferanten zu gewinnen, hatten sich die treibenden Kräfte hinter dem Projekt in zwei Gruppen gespalten: »Nabucco-West« sollte nur noch bis nach Österreich führen, die »Trans Adriatic Pipeline« nach Italien. Letzteres Vorhaben erhielt von der Konzerngruppe, die die Ausbeutung des größten aserbaidschanischen Erdgasvorkommens kontrolliert - bestehend aus vier internationalen und einem einheimischen Unternehmen -, den Zuschlag.

Während Nabucco dazu bestimmt war, Russland auszuschalten, sollte das russische South-Stream-Projekt die Ukraine umgehen, deren Regierungen die bestehenden Pipelineverbindungen wiederholt missbraucht hatten, um Moskau bei Preisverhandlungen zu erpressen. Die Leitung sollte von russischem Territorium quer unter dem Schwarzen Meer nach Bulgarien und von dort aus weiter durch Serbien, Ungarn und Slowenien bis nach Italien führen. Daneben bestanden Optionen für Abzweigungen nach Bosnien-Herzegowina und Kroatien.

Die geplante Kapazität von South Stream sollte bei 63 Milliarden Kubikmetern pro Jahr liegen. Zum Vergleich: Der Monopolist Gasprom exportierte im vorigen Jahr 161,5 Milliarden Kubikmeter nach Europa. Der größte Teil (127,1 Milliarden) ging nach Westeuropa, wozu Gasprom statistisch auch die Türkei und Italien rechnet. Für Süd- und Osteuropa blieben 34,4 Milliarden Kubikmeter. Die Länder, die an South Stream angeschlossen werden sollten, einschließlich Italiens, bezogen 2013 knapp 36 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland. Es blieb also, was die Kapazität angeht, noch reichlich »Luft nach oben«.

Sofia eingeknickt

Trotz bereits geschlossener Verträge war schließlich der starke Druck, den vor allem Deutschland auf Bulgarien ausübte, damit es sich aus dem Projekt zurückzieht, erfolgreich: Die Rechtsregierung in Sofia erklärte im Juni, sie sei zwar nach wie vor an der Pipeline interessiert, mache die Fortsetzung der Bauarbeiten aber von der Zustimmung der EU-Kommission abhängig. Darauf bezog sich Putins ironischer Kommentar am 1. Dezember, wenn Bulgarien schon keine selbständige Außenpolitik betreibe, solle es doch wenigstens Schadenersatz von der EU für die entgangenen Transitgebühren fordern, die er mit 400 Millionen Euro jährlich bezifferte.

Das Projekt, das Gasprom gleichzeitig mit dem Abschied von South Stream ankündigte, ist jedoch allem Anschein nach nicht weniger ehrgeizig und folglich ebenso problematisch. Geplant ist nämlich nach Aussagen von Generaldirektor Alexej Miller der Bau einer neuen Leitung unter dem Schwarzen Meer in die Türkei mit genau der gleichen Kapazität: 63 Milliarden Kubikmeter. Davon sind nur 14 Milliarden für die Türkei selbst bestimmt. Sie sollen künftig die Menge ersetzen, die Ankara bisher auf dem Umweg über die Ukraine bezog. Insgesamt importierte die Türkei im vorigen Jahr fast 27 Milliarden aus Russland, davon knapp die Hälfte über die Schwarzmeer-Pipeline »Blue Stream«.

Und der Rest der Kapazität? Den bisherigen Erläuterungen zufolge soll die neue Pipeline bis an die griechische Grenze geführt werden. Wie dann die überschüssigen fast 50 Milliarden Kubikmeter Gas weiterverteilt werden sollen, steht aber noch in den Sternen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Dezember 2014


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